Читать книгу Der Drang nach Freiheit - Geri Schnell / Dieter Thom - Страница 11
Zollbeamter Thom
ОглавлениеMit dem Fernseher hielt auch die Politik in die Stube der Familie Thom Einzug. Nun wurden täglich die Nachrichten geschaut. Einmal auf dem staatlichen DDR-Sender und später, im Westfernsehen. Dieter war zu der Zeit bereits am schlafen. Den Buben war nicht entgangen, dass Vati sich über die Meldungen des offiziellen DDR-Senders ärgerte, auch wenn er dies zu verbergen suchte.
An einem Tag im Frühling kam Vati sehr aufgeregt nach Hause. Mürrisch zog er sich in den Garten zurück. Die Buben kannten ihn gut genug, wenn er so war, musste man ihn in Ruhe lassen, bis Mutti nach Hause kam, die würde ihn schon beruhigen.
Beim Nachtessen geschah etwas Ausserordentliches. Vati erzählte von seiner Arbeit, etwas das er sonst nie machte.
«Der Sohn vom Krüger ist in den Westen abgehauen», erzählte er. Dieter wusste, dass der Herr Krüger, Vatis bester Freund beim Zoll war, «das gab ein Theater! Krüger wurde zum Chef zitiert, dort wurde er zusammengestaucht. Doch das ginge ja noch. Plötzlich tauchten zwei Fupo im Büro des Chefs auf und führten Krüger, in Handschellen ab. Ich konnte nicht glauben, was ich da sah, sie führten ihn wie ein Schwerverbrecher ab.»
«Die wollten sicher nur ein Protokoll aufnehmen», versuchte Maria Vati zu trösten, «der wird sicher wieder freigelassen.»
«Eben nicht, seine Frau hat angerufen und gefragt, wo er sei», erklärte Vati den Tränen nahe, «das machen sie mit allen Verwandten von Flüchtlingen so. Markus kennt auch eine Familie deren Tochter abgehauen ist, er wurde seit drei Wochen nicht mehr gesehen. Man munkelte, er sei in ein Gefängnis der Stasi gebracht worden.»
«Was ist Stasi?», fragte Dieter.
«Das ist die Staatssicherheit Polizei», erklärte Vati, «die sind genauso schlimm wie die Gestapo im Krieg. Einer hatte erzählt, dass die Häftlinge sehr schlecht behandelt werden.»
Später, als es Zeit war für die Nachrichten, sass die Familie immer noch vor dem Fernseher. Nur Moni war schon am schlafen. Die Meldung des Tages war der Raumflug von Juri Gagarin. Den Russen gelang der erste bemannte Weltraumflug. Das war natürlich das Ereignis des Tages. Die Sowjets wurden gelobt und die Amerikaner lächerlich gemacht. Der Sozialismus hatte gezeigt, was in ihm steckt, da konnten die Imperialisten nicht mithalten.
Gegen Ende der Nachrichten gab es auch noch einige Meldungen aus Deutschland. Der Sprecher schilderte wie wichtig es sei, die Ziele des Fünfjahresplans einzuhalten. Es wurden mehrere Firmen ausgezeichnet, welche die Firmenziele übertroffen hatten. Die besten Arbeiter erhielten einen Orden für die geleistete Arbeit.
Vati musste sich wieder zusammennehmen. Auch wenn er sich ebenfalls über den Raumflug freute und ein bisschen Stolz auf die Leistungen des Sozialismus war, verfinsterte sich seine Miene sofort wieder, als der Sprecher auf die Innlandpolitik zu sprechen kam.
International war natürlich auch die Lage auf Kuba ein Thema. Fidel Castro hielt eine Rede an sein Volk. Der Sprecher erklärte, dass das Kubanische Volk die volle Unterstützung des sozialistischen Deutschlands habe. Man muss den Imperialismus bekämpfen.
«Die fangen sicher noch einen Krieg an!», kommentierte Vati die Meldungen, «die Amerikaner werden es sich nicht leisten können, einen sozialistischen Staat direkt vor der Haustüre zu haben. Hoffentlich wird da Deutschland nicht hineingezogen».
«So genug!», erklärte Mutti, «ihr geht jetzt ins Bett, Vati braucht noch etwas Ruhe.»
Sowohl Dieter als auch Wolfi sahen ein, dass Vati heute einen schweren Tag hatte. Sie zog sich auf ihr Zimmer zurück. Ihr Held war Juri Gagarin, wenn ihnen auch die Ereignisse in Kuba ebenfalls etwas angst machten.
Vier Tage später wurde im Fernsehen der sozialistische Sieg in Kuba gross gefeiert. Die Lage entspannte sich. Noch wurde zur Wachsamkeit aufgerufen, doch die Amerikaner waren fürs erste moralisch geschlagen. Bei Familie Thom konnte man wieder zur Tagesordnung übergehen.
Am 12. August mussten sich alle Zollbeamten für einen Sondereinsatz bereithalten. Das Büro blieb geschlossen, die Zollbeamten mussten alle am späteren Abend zum Dienst erscheinen.
«Ich weiss nicht was dies soll?», erklärte Vati, als er sich von Mutti verabschiedete, «die führen etwas im Schilde, nur weiss ich nicht was.»
«Versuche ruhig zu bleiben», Mutti gab ihrem Siggi einen Kuss, sie spürte, dass er am liebsten zuhause bleiben würde.
Am Abend schaute Mutti mit den beiden Buben die Nachrichten. Es wurde wieder über die Landesverräter hergezogen, welche ihr Vaterland verrieten und sich von der Propaganda verlocken liessen und in den Westen abhauten.
Endlich waren die Buben im Bett und Mutti wollte sich noch eine Sendung im Westfernsehen anschauen. Doch plötzlich ging die Türe und Vati trat ein. Maria merkte sofort, dass etwas Schlimmes vorgefallen war. Siggi war nur noch ein Häufchen Elend. Sie holte ihm ein Bier und möglichst wenig Schaum.
«Lass das, ich darf jetzt nichts trinken», erklärte Siggi, «meine Kariere als Zollbeamter ist ab heute beendet. Ich soll mich morgen bei der Reichsbahn melden. - Um sechs Uhr im Hauptbahnhof in Halle.»
«Aber warum?», wollte Maria wissen.
«Ich habe mich geweigert beim Bau der Mauer zu helfen!», erklärte Siggi, «entschuldige, ich konnte einfach nicht, ich musste ein Zeichen setzen! Die können nicht alles mit mir machen.»
«Was für eine Mauer?», fragte Maria besorgt.
«Die beginnen heute Nacht, eine Mauer um Berlin zu bauen, damit keiner mehr nach Westberlin fliehen kann, morgen werden sie es sicher in den Nachrichten bringen.»
«Eine Mauer um ganz Berlin?»
«Ja, Westberlin wird vollständig abgeriegelt, da kommt keiner mehr durch, zumindest, wenn die Mauer fertig ist.»
«Und was wird jetzt aus dir?», fragte Maria besorgt.
«Ich muss in Zukunft bei der Reichsbahn arbeiten. Es wird sicher nicht einfach für uns, entschuldige! Das Gehalt wird viel tiefer liegen als beim Zoll und die Arbeit viel härter. Ich konnte einfach nicht an dieser Mauer mithelfen, das ging einfach nicht!»
«Das verstehe ich», erklärte Maria, «komm, lass uns schlafen, morgen sieht alles wieder besser aus.»
«Das glaube ich nicht, die haben mich als Landesverräter beschimpft. Vielleicht muss ich noch ins Gefängnis, mit Landesverrätern gehen die nicht freundlich um.»
«Noch bist du nicht im Gefängnis», beruhigte ihn Maria, «jetzt gehst du zur Reichsbahn und machst deine Arbeit so gut du kannst, die können ja nicht alle einsperren.»
«Das dürfte der einzige Grund gewesen sein, die Polizisten brauchten sie heute, um die Bauarbeiten an der Grenze zu bewachen, der leitende Fupo hätte mich am liebsten abgeknallt, er hatte sich dann doch nicht getraut, also hat er mich einfach nach Hause geschickt. Vermutlich haben sie mit solchen Problemen gerechnet und mir sofort die neue Arbeitsstelle zugewiesen. Wenn ich mich dort für den Sozialismus einsetze, dann komme ich mit einem blauen Auge davon», hatte er gemeint.
Maria umarmte Siggi innig und gab ihm so zu verstehen, dass er richtig gehandelt hatte und dass sie voll hinter ihm stand. Mit sanftem Druck bugsiert sie ihn ins Schlafzimmer und schloss die Türe.
Am nächsten Morgen stand Siggi früh auf. Maria packte ihm eine deftige Stulle ein. Während dem Morgenessen schaltete er den Westfernsehkanal ein. Dort wurde der Mauerbau in einer Sondersendung behandelt. Man spürte überall die Angst, dass ein Krieg bevorstand. Einen Krieg wollten die Westmächte mit allen Mitteln verhindern, deshalb wagten sie nicht einzuschreiten.
«Die schauen nur zu», bemerkte Siggi, «keiner traut sich dem Ulbricht auf die Finger zu klopfen. Nun, es ist wohl besser so.»
Um halb fünf Uhr morgens fuhr Siggi mit dem Fahrrad los. Um rechtzeitig am Hauptbahnhof zu sein, musste er das Fahrrad nehmen, mit der Strassenbahn käme er zu spät. Besorgt schaute ihm Maria nach bis er um die Ecke verschwunden war. Danach ging sie ins Haus zurück und schaltete den Fernseher aus. Sie wollte von Politik nichts mehr hören.
Sie legte sich nochmals kurz ins Bett. In Gedanken war sie bei Siggi. Sie befürchtet, sie könnte Siggi nie mehr sehen. Im Laden hatten schon einige Frauen erzählt, wie es war, wenn einem die Fupo verdächtigte. Plötzlich waren ihre Männer oder Söhne verschwunden.
Im Laden wurde natürlich der Bau der Mauer heftig diskutiert. Maria hielt sich zurück, sie wollte keine Stellung beziehen. Was ihrem Siggi geschehen war, behielt sie für sich, mal abwarten, wie sich die Situation entwickelte.
Zum Nachtessen war Siggi noch nicht zurück. Sie kochte zur normalen Zeit für die Kinder. Immer wieder ertappte sie sich dabei, wie sie aus dem Fenster auf die Strasse schaute, doch ihr Siggi war noch nicht aufgetaucht.
Die Kinder waren bereits mit den Vorbereitungen zum Schlafengehen beschäftigt, als sie Siggi in die Strasse einbiegen sah. Ein grosser Stein fiel ihr vom Herzen.
Als Siggi vom Fahrrad stieg, fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn.
«Wie war’s?», fragte sie, «komm rein ich wärme das Essen auf.»
«Es war gar nicht so schlimm», erklärte Siggi auf dem Weg zur Küche, «ja, es war anstrengend und der Aufseher schreit den ganzen Tag herum. Aber die andern Arbeiter, die sind echte Kumpels. Wir hatten uns gegenseitig Mut gemacht, wir werden es gemeinsam durchstehen und den Aufseher werden wir auch noch in den Griff bekommen, aber noch nicht jetzt, der soll sich erst abreagieren.»
«Da bin ich aber froh», flüsterte Maria ihrem Mann ins Ohr, «ich hatte den ganzen Tag Angst, dass du nicht mehr zurückkommst. Es sind so viele im Gefängnis gelandet.»
«Ich denke, wenn wir uns ruhig verhalten und hart arbeiten, lassen sie uns in Ruhe. Das ist die Meinung derer, die schon länger dort arbeiten», meinte Siggi, «die sind froh, wenn sie günstige Arbeiter für den Unterhalt der Reichsbahn haben, so können sie Kosten sparen und den Fünfjahresplan erfüllen, denn ohne eine funktionierende Bahn würde es auch in Sozialstaat nicht gehen.»
«Sei bloss vorsichtig! Lieber hart arbeiten und wenig verdienen, als im Gefängnis sitzen, die sind da nicht zimperlich.»
«Wir werden das schon durchstehen», erklärte Siggi und drückte Maria fest an sich, «zur Not würde uns Opa sicher nicht im Stich lassen.»
«Ich denke auch», bestätigte Maria, «lieber etwas weniger Luxus, dafür kann man sich im Spiegel noch in die Augen sehen, ohne dass man sich schämen muss. Vielleicht ändern sich die Zeiten wieder, du erinnerst dich wie das mit den Braunen war, plötzlich waren sie weg.»
«Schon, aber das kann lange dauern», bestätigte Siggi, «entschuldige, aber ich bin müde und muss mich hinlegen. Ich will nur noch schlafen.»
«Das verstehe ich», antwortete Maria, «geh schon ins Bett, ich mach noch schnell deine Stulle, dann komme ich nach.»
Als Maria eine Viertelstunde später ins Schlafzimmer kam, schlief Siggi tief und fest, Wenigstens schlafen konnte er noch. Mit einem reinen Gewissen schlief man besser, dachte sie für sich und legte sich zu ihm in Bett um ebenfalls sofort einzuschlafen.
Für die Eltern von Dieter wurde es ein harter Spätsommer. Die beiden Buben mussten für einen guten Klassenabschluss arbeiten. Natürlich hatte sich der Stellenwechsel von Siggi im Quartier herumgesprochen. Die Leute bemühten sich jedoch, weiter so natürlich wie möglich mit Familie Thom umzugehen. Die Arbeit bei der Reichsbahn war schliesslich ebenfalls wichtig. Geschätzt wurde auch, dass Siggi sich mit den Privilegien die er als Zollbeamter hatte, nie aufspielte.
Die Beurteilung von Frau Müller zeigte dann, dass Dieter ein guter und fleissiger Schüler war. Er war einer der Besten in der Klasse.
Dann gab es endlich Schulferien. Dieter konnte sich aufs Arbeiten konzentrieren. Vati war froh, wenn er sich eigenes Geld verdienen konnte. Im Herbst gab es nebst dem Sammeln von Flaschen noch die Möglichkeit, aufs Land zu den Bauern zu fahren. Dort gab es immer Arbeit. Sie bekamen kein Geld, aber es gab gutes Essen.