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2.2 Das Genussystem des Deutschen

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Die Merkmalklasse Genus weist im Deutschen die Merkmale Femininum, Maskulinum und Neutrum auf und ist „nomeninhärent“, das heißt für jedes Nomen „festgelegt“ (Weber 2001: 11). Sind Gesetzmäßigkeiten bei dieser Festlegung erkennbar? Inwieweit sind diese Gesetze gültig? Können sie überhaupt als Gesetze formuliert werden? Welche Funktionen hat das Genus im Deutschen und wo und wie wird es markiert?

Die differenzierende Markierung beim Genus in feminin, maskulin und neutrum erfolgt nur im Singular und es wird „an sprachlichen Einheiten markiert, die gemeinsam mit dem Nomen auftreten: an indefiniten und definiten Artikeln, Determinativen1 und Adjektiven.“ (Montanari 2010: 194):

def. Artikelindef. ArtikelAdjektiv
Fem.die Naseeine Naseeine große Nase
Mask.der Mundein Mundein großer Mund
Neutr.das Augeein Augeein großes Auge

Tabelle 2: Genusmarkierung im Deutschen (im Nominativ Singular)

Außer den in Tabelle 2 aufgeführten Markierungen kann das Genus an weiteren „das Nomen begleitenden Wortarten ausgedrückt werden“ (Wegener 1995b: 97), wie z.B. den Pronomen (siehe dazu Montanari 2010: 195).2

In der Tabelle sind außerdem lediglich die Genusmarkierungen im Nominativ Singular aufgelistet, zu den Änderungen der einzelnen Markierungen in den jeweiligen Phrasenelementen je nach Kasus sei an dieser Stelle auf Montanari (ebd.) verwiesen. Im Plural besitzen Artikelwörter und Adjektive keine besonderen Genusformen, das heißt „alle drei Kategorien fallen in einer einzigen Form zusammen“ (Marouani 2006: 16). Die Markierung erfolgt im Plural ausschließlich ohne Genusdifferenzierung:

ArtikelAdjektivArtikel und Adjektiv
Fem.die Nasengroße Nasendie großen Nasen
Mask.die Mündergroße Münderdie großen Münder
Neutr.die Augengroße Augendie großen Augen

Tabelle 3: Genusmarkierung im Deutschen (im Nominativ Plural)

Dabei existiert sowohl im Singular als auch im Plural eine besondere Beziehung zwischen dem Artikel, dem Adjektiv und dem Nomen – Eisenberg spricht von einer „syntagmatischen Bindung“ (Eisenberg 2000a: 91). Diese Beziehung wird als Kongruenz bezeichnet und stellt die „flexivische Anpassung der zusammengehörigen Satzteile“ (Weber 2001: 11) dar. Nach Corbett (2006) spielen bei der Kongruenz Verknüpfungen auf den syntaktischen, semantischen, morphologischen und lexikalischen Ebenen eine Rolle.

Diese Beziehung ist „keine symmetrische Relation, sondern die Beziehung einer Entität zu einer zweiten, auf die die erste einwirkt“ (Montanari 2010: 181). Durch dieses Aufeinanderwirken wird ihre Zusammengehörigkeit deutlich. Dabei stellt im Falle der Genusmarkierung im Deutschen das Nomen die Merkmalquelle dar, da es die Merkmale der anderen Bezugselemente bestimmt und vorgibt. Nach welchen Kriterien erfolgt diese Vorgabe? Die Beschäftigung mit dieser Frage und die unterschiedlichen Auffassungen über ihre Beantwortung führen zu der Annahme, dass es sich bei der „Genuszuweisung [… um] eines der undurchsichtigsten Kapitel der deutschen Grammatik“ (Wegener 1995e: 1) handelt und führt sogar soweit, dass das Genus „zu den […] umstrittensten Kategorien innerhalb der Sprachwissenschaft“ (Schwarze 2008: 182) gezählt wird. Während die „Analogisten“ (Fischer 2004: 30) die Gesetzmäßigkeiten in den Vordergrund stellen, betonen die „Anomalisten“ (ebd.) die Willkürlichkeit bei der Zuweisung des Genus an die Nomen. Oft ist von Genuszuweisungsprinzipien die Rede, da „neben produktiven“ Regeln, die formuliert werden, „andere mit beschränkter Produktivität stehen“ (Köpcke/Zubin 1997: 87).

Nicht nur Weber (2001) stellt in ihrer Analyse wichtiger deutscher Grammatiken fest, dass das Genus darin oft unzureichend thematisiert wird (siehe dazu auch Heringer 1995: 203). Aufgrund der unterschiedlichen produktiven Regeln, die oft auch für nur eine bestimmte Gruppe von Nomen gelten, werden diese Regeln nicht als Regeln betrachtet und es herrscht bei der Betrachtung des Genus im Deutschen, wie in diesen Grammatiken ersichtlich wird, eine gewisse Unsicherheit (vgl. Weber 2001: 90). Ein Blick in die aktuelle Genusforschung zeigt, dass eine Reihe von Regeln und Prinzipien erkennbar sind. Listen von Genuszuweisungsregeln werden u.a. von Köpcke (1982) und Wegener (1995a) formuliert. Eine differenzierende Zusammenstellung der wichtigsten Kriterien und Kategorien ist in Montanari (2010: 196–208) zu finden.

Nach Heringer (1995: 212) sind diese festgestellten Regeln „nach drei Kriterien zu beurteilen: Reichweite, Validität und Stärke“. Wie groß ist die Anzahl der Nomen, für die diese Regel gilt? Mit der Beantwortung dieser Frage wird die „Reichweite“ der Regel bestimmt. Wie viele Ausnahmen sind festzustellen? Hiermit wird die „Validität“ gemessen. Welche Regel siegt, wenn mehrere Regeln für ein Nomen anwendbar sind? Hier wird die „Stärke“ der Regel ermittelt. Je nachdem, wie die Beantwortung der jeweiligen Regel im Hinblick auf die Fragen ausfällt, handelt es sich um eine nützliche oder eher unbrauchbare Regel. Da diese drei Kriterien am stärksten von Wegener beachtet werden, soll im Folgenden ihre Herangehensweise bei der Konzipierung von Genuszuweisungsregeln skizziert werden. Sie nimmt eine Einteilung der Regeln in „semantische“ (Wegener 1995b: 68) und „formale Regeln“ (Wegener 1995b: 73) vor. In diesen zwei Kapiteln analysiert und diskutiert sie die bislang formulierten Regeln in der deutschen Genusforschung, während sie bei den formalen Regeln eine weitere Unterteilung in phonologische und morphologische Regeln vornimmt. Aufgrund der hohen Anzahl an Ausnahmen bei den semantischen Regeln3 plädiert Wegener für „ein generelles Leitwortprinzip“ (Wegener 1995b: 72). Der Oberbegriff gibt für eine Gruppe von Nomen die Genuszuweisung der Unterbegriffe vor:

(26)die Zahncremedie Elmex, die Colgate
das Metalldas Eisen, das Silber, das Gold
der Zugder ICE, der Intercity

Mit Hinblick auf den Sprachunterricht formuliert sie darüber hinaus als einzige semantische Regel „das natürliche Geschlechtsprinzip“ (Wegener 1995b: 89): „Bezeichnungen für männliche Lebewesen sind im unmarkierten Fall Maskulina, solche für weibliche sind Feminina“ (ebd.). 4 Als unmarkiert werden Fälle „mit größerem Skopus und/oder höherer Validität“ (Wegener 1995b: 7) bezeichnet, während die Ausnahmen bzw. Nebenregeln als markiert gelten. Diese Abstufung nimmt Wegener bei der Formulierung aller Regeln vor.

Ebenso mit Hinblick auf den Sprachunterricht fokussiert sie folgende vier Regeln (siehe Wegener 1995b: 89):

 1 Auf Schwa (-e) endenden Nomen wird im unmarkierten Fall das Genus Femininum zugewiesen:

(27)Säge, Liebe, Kette

 2 Einsilbige „und andere Kernwörter“ erhalten im unmarkierten Fall eine Maskulinmarkierung:

(28)Ball, Zug, Fuß

 3 Ebenso sind auf -el, -en, -er endende Nomen im unmarkierten Fall maskulin:

(29)Deckel, Wagen, Becher

 4 Derivationssuffixe des Nomens bestimmen sein Genus:

(30)Gesundheit, Schönling, Zöpfchen

Die erste Regel gilt nach Wegener für 90 Prozent der Nomen, die auf Schwa enden, die zweite Regel für 51,8 Prozent der Einsilber, die dritte Regel für 65 Prozent der auf –el, -en und -er endenden Nomen und die vierte Regel für 100 Prozent der auf Suffixe, wie -ung und -heit endenden Nomen. Sie betont aber, dass trotz dieser teilweise sehr zuverlässigen Regeln keine Aussage über die Genuszuweisung der gesamten deutschen Nomen vorgenommen werden kann, ohne den „Skopus“ (ebd.) mit zu betrachten. Der Skopus zeigt, wie groß der Anwendungsbereich einer Regel ist. Der Wert wird auf der Grundlage von Oehlers (1966) „Grundwortschatz Deutsch“ ermittelt, und gibt an, auf wieviel Prozent der aufgelisteten Nomen diese Regel zutrifft. Mit diesen Regeln ist noch nicht erfasst, für wie viele Nomen des Deutschen hiermit eine Vorhersage formuliert werden kann.

Der von Wegener errechnete Gesamtskopuswert beträgt 65,4 Prozent (Wegener 1995e: 3). Das bedeutet, dass demnach für 65,4 Prozent der Nomen aus Oehlers Liste das Genus mit den oben aufgeführten Regeln zugewiesen werden kann. Die Regeln sind jedoch „nur von geringer Validität, da sie zahlreiche Ausnahmen zulassen“ (ebd.). Aus diesem Grund sei es zutreffender, wenn diese Regeln als Genuszuweisungsprinzipien und nicht als Genusszuweisungsregeln bezeichnet werden. Es kann somit festgehalten werden, dass das Genussystem nicht „als extrem wenig regelgeleitet und funktional angesehen“ (Weber 2001: 81) werden kann, sondern dass „deutliche Tendenzregeln für die Genusverteilung“ (Wegera 1997: 17) festgestellt werden können.

Aus der historischen Sprachwissenschaft wissen wir, dass alle grammatischen Kategorien, die keine Funktionen erfüllen bzw. ihre Funktionen verlieren, mit der Zeit abgebaut werden und aus dem Sprachsystem verschwinden. Betrachten wir das deutsche Genussystem, dann ist eine solche Entwicklung nicht einmal in Ansätzen oder als Tendenz festzustellen. Bereits diese Beobachtung zeigt uns, dass das Genus bestimmte Funktionen im deutschen Sprachsystem übernehmen muss. Befürworter dieser Sichtweise fokussieren dabei ihre Aufmerksamkeit auf eine der beiden folgenden Funktionsannahmen: Entweder wird das bereits beschriebene Phänomen der „Kongruenz“ als Hauptfunktion des deutschen Genus betrachtet oder ihre Eigenschaft, im Sprachsystem eine „Klassifikation“ vorzunehmen (Schwarze 2008: 75). Während beispielsweise Corbett (1991) vorschlägt, „agreement“, also Kongruenz, als wichtigste Funktion des Genus anzunehmen, sieht Wegener (1995a) die „Grundfunktion der Genera“ darin, „den nominalen Wortschatz einer Sprache zu gliedern, zu klassifizieren“ (Wegener 1995b: 60, siehe auch: Bittner 1994: 66ff., Lemke 2008: 106 und Aikhenvald 2004: 1031f.). Doch diese „klassifikatorische Funktion“ sei im Deutschen „nur höchst unvollkommen“ (Wegener 1995b: 1). Aus diesem Grund komme den syntaktischen Funktionen im Deutschen wohl eine bedeutendere Rolle zu (vgl. Wegener 1995b: 62). Dazu zählen zum Beispiel die Klammerbildung und die Herstellung von Textkohärenz (siehe Wegener 1995b: 65 und Montanari 2010: 178f.). Hinzu kommen auch semantische und lexikalische Funktionen: „Es trägt zum systematischen Aufbau des Lexikons bei (Rothweiler/Meibauer 1999; […]) und hilft, die Welt in Bedeutungskategorien der Belebtheit, Geschlechtigkeit und Zählbarkeit zu fassen (Leiss 2000)“ (Montanari 2010: 178).

Das Genus erfüllt zudem eine „numerusdifferenzierende Aufgabe“ (ebd.):

(31)der Würfeldie Würfel
das Kaninchendie Kaninchen
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