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4.2 Die Rolle des Alters

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Bei der Frage nach der Rolle des Alters beim Erwerb der Zweitsprache handelt es sich um eine zentrale Fragestellung der kindlichen Zweitspracherwerbsforschung. Wann ist die Erstsprache bereits ganz oder teilweise erworben, so dass es sich beim Erwerb der zweiten Sprache um eine Zweitsprache handelt und wann gilt die zweite Sprache noch als weitere Erstsprache, die erworben wird?

„Die Frage, wie alt ein Kind sein muß, bevor es sich seine Umwelt für den Spracherwerb nutzbar machen kann, entspricht der Frage, wie jung ein Individuum sein muß, bevor es zu spät ist, Sprechen und Sprache zu erwerben. Vieles spricht dafür, daß der primäre Erwerb der Sprache von einem bestimmten Entwicklungsstadium abhängt, dem ein Individuum mit der Pubertät schnell entwächst.“ (Lenneberg 1977: 177)

Dieses Zitat von Lenneberg, einem der ersten Vertreter der „Critical Period Hypothesis“ (Birdsong 1999), beinhaltet zwei zentrale Aussagen, die wichtige Anhaltspunkte für die Beantwortung der oben formulierten Frage liefern: Erstens verdeutlicht Lenneberg, dass es einen Zeitpunkt gibt, an dem es „zu spät“ für einen Spracherwerb sein kann, bei dem die Zielsprache „mit Hilfe der ursprünglichen Erwerbsmechanismen wie eine Erstsprache erworben werden [kann]“ (Rothweiler 2007: 125). Die Frage nach diesem Zeitpunkt sei genauso wichtig wie die Frage nach dem Beginn des Spracherwerbs. Zweitens konkretisiert er auch den Zeitpunkt, ab wann er nicht mehr ganz so erfolgreich verläuft, nämlich mit dem Eintreten der Pubertät.

Diese Annahmen sind jedoch nicht unumstritten. Einer der Hauptkritiker in der Diskussion ist Bialystok (1997). In ihrer Studie erreichen die untersuchten Jugendlichen, die die Pubertät hinter sich hatten, bessere Ergebnisse als die Kinder. Aus dieser Beobachtung heraus zweifelt sie an der Aufrechterhaltung der Critical Period Hypothesis, die besagt, dass der „Spracherwerb, der in der frühen Kindheit beginnt, signifikant besser endet“ (Turgay 2010: 10) als der Erwerb nach der Pubertät. Diese Diskussion zeigt, wie komplex das Phänomen Spracherwerb ist und wie viele Faktoren hierbei mitwirken. Die von Bialystok untersuchten Jugendlichen mögen ein besseres Ergebnis bei den Aufgaben ihrer Studie erreicht haben. Doch welche Sprachbereiche wurden dabei abgefragt? Wie wurden diese Ergebnisse erzielt? Welche Erhebungsmethoden wurden eingesetzt? Denn andere Studien (z.B. Bast 2003 und Dimroth 2007) erhalten andere Ergebnisse, die zeigen, dass jüngere Kinder bessere Fortschritte erzielen als Jugendliche. Eine Betrachtung der Studien im Hinblick auf die zuletzt gestellten Fragen zeigt, dass eine differenzierte Analyse unabdingbar für die Klärung der Frage nach der Rolle des Alters ist. Die unterschiedlichen Sprachbereiche verlangen unterschiedliche kognitive Voraussetzungen, so dass sie in unterschiedlichen Erwerbsphasen erworben und optimiert werden (vgl. Dimroth 2007: 134). Wie festgestellt werden kann, ist die Hypothese der kritischen Periode nicht einfach zu übertragen und wird unter anderem auch oft kontrovers diskutiert (weiteres zu der Diskussion siehe Birdsong 1999, Chriswick 2007, Singleton 1995, Johnson/Newport 1989, Krashen/Scarcella/Long 1982).

Meisel (2004) stellt das dritte bis vierte Lebensjahr als den entscheidenden Lebensabschnitt bei der Beantwortung der Frage, in welchem Alter die erstsprachlichen Strukturen „bereits ganz oder teilweise gemeistert werden“, dar. Rothweiler argumentiert auch dafür:

„Bis zum Alter von etwa drei bis vier Jahren erwerben einsprachige Kinder die zentralen grammatischen Strukturen ihrer Sprache. Wenn man davon ausgeht, dass gerade im Erwerb dieser Strukturen sprachspezifische Erwerbsmechanismen wirksam sind, dann sollte die kritische Phase nicht vor dem Abschluss des dritten Lebensjahres enden.“ (Rothweiler 2007: 126)

Demnach handelt es sich um kindlichen bzw. frühen Zweitspracherwerb, wenn der Erwerbsbeginn der Zweitsprache mit drei bis vier Jahren erfolgt. Tracy/Gawlitzek-Maiwalds (2000) Ergebnisse stehen hiermit auch in Übereinstimmung, denn sie gehen nur von einem doppelten Erstspracherwerb aus, wenn der Erwerb einer zweiten Sprache spätestens im ersten oder im zweiten Lebensjahr erfolgt.

Es kann festgehalten werden, dass diese Phase wohl nicht vor dem Ende des dritten Lebensjahres liegt. Rothweiler (2007) nimmt zudem an, dass sie nicht bis zur Pubertät dauert, wie Lenneberg und andere annehmen, sondern „spätestens mit dem Alter von 10 Jahren [endet]“ (Rothweiler 2007: 125).

Welche Rolle spielen die Unterschiede in den zu erwerbenden grammatischen Strukturen? Thoma/Tracy (2006) beobachten im frühen Zweitspracherwerb ähnliche Entwicklungsverläufe wie im Erstspracherwerb. Hierbei handelt es sich um Kinder, die im Alter von drei bis vier Jahren mit dem Erwerb der Zweitsprache beginnen (vgl. Thoma/Tracy 2006: 65). Entscheidend ist hierbei der untersuchte grammatische Bereich. Gegenstand der Untersuchung ist der Erwerbsverlauf für die Verbstellung im Deutschen. Inwieweit kann aber der Erwerb von diesen syntaktischen Strukturen mit dem Erwerb von morphologischen, semantischen, phonologischen und pragmatischen Strukturen verglichen werden? Denn:

„Betrachtet werden allerdings auch Unterschiede in der Art und Abfolge der Entwicklungsschritte zwischen Erstspracherwerb und frühem Zweitspracherwerb sowohl im Bereich der grammatischen Entwicklung (zum Beispiel im Bereich der Nominalflexion) sowie bei der Entwicklung des Wortschatzes.“ (Kniffka/Siebert-Ott 2009: 42)

Welche Unterschiede zwischen dem Erstspracherwerb und dem frühen Zweitspracherwerb sind in den verschiedenen Bereichen zu beobachten? Bezüglich der kritischen Phase konnte festgestellt werden, dass sie für phonologische Strukturen früher zu Ende zu sein scheint als beispielsweise für die Syntax (vgl. Rothweiler 2007: 127). Welche Ergebnisse für den Erstsprach- und den Zweitspracherwerb bislang für den Bereich der Nominalflexion vorzufinden sind, werden in Kapitel 5.2 aufgezeigt. Anschließend werden in Kapitel 5.3 die Annahmen der vorliegenden Arbeit vorgestellt.

Erwerb der deutschen Pluralflexion

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