Читать книгу Erwerb der deutschen Pluralflexion - Gülsüm Günay - Страница 8

Оглавление

1 Einleitung

Mit großen Augen betrachtet das Kind das auf dem Boden aufgebaute Bauernhof-Brettspiel, während die Gesprächsleiterin das Spiel erklärt. Dann fängt es an zu würfeln. „Ein Schaf“, sagt es, auf das Bild auf dem Würfel schauend, und findet sogleich das dazugehörige Spielfeld. „Hier! Hier sind ganz viele Schäfe!“, ruft es auf die Wiese mit den Schafen zeigend. Das Spiel beginnt – beziehungsweise das Experiment 6 der vorliegenden Arbeit –, das mit Kindern mit türkischem Migrationshintergrund durchgeführt wurde.

Kinder mit Migrationshintergrund – so werden die Kinder von rund 20 Prozent der deutschen Bevölkerung (Statistisches Bundesamt 2013) bezeichnet.1 Sie sind in Deutschland geboren, besuchen meist ab dem dritten Lebensjahr eine deutsche Kindertagesstätte und sprechen verschiedene Erstsprachen. Mehr als ein Drittel der Kinder unter 10 Jahren in Deutschland besitzen einen Migrationshintergrund. Die größte Gruppe dabei bilden die Kinder mit Türkisch als Erstsprache. Sie werden in Kindergärten und Grundschulen oft als Problemkinder wahrgenommen – vor allem aufgrund ihrer Sprachdefizite. Welche Bereiche der deutschen Sprache stellen diese Kinder beim Erwerb vor besondere Probleme?

Gegenstand von Untersuchungen des kindlichen Zweitspracherwerbs von Kindern mit Türkisch als Erstsprache sind bislang der Erwerb der Verbstellung (Haberzettl 2005), der Satzstruktur (Kroffke/Rothweiler 2006, Chilla 2008), des Wortschatzes (Karasu 1995, Kuyumcu 2008), der Determinierer (Lemke 2008) und der Präpositionen (Turgay 2010). Umfassende Studien zum Erwerb der deutschen Nominalflexion durch türkischsprachige2 Kinder liegen bislang nicht vor. Dies liegt gewiss nicht daran, dass dieser Bereich der Sprache beim Erwerb keine Rolle spielt oder dass die Formen und Strukturen schnell korrekt produziert werden. Im Gegenteil, die Komplexität der deutschen Nominalflexion und die damit verbundenen Erwerbsprobleme für Zweitspracherwerber3 sind offensichtlich und evident. Dies zeigt Wegener (1992) mit ihrer Habilitation über den Zweitspracherwerb von Kindern mit Polnisch, Russisch und Türkisch als Erstsprache. Bislang veröffentlichte sie jedoch nur in verschiedenen Aufsätzen ihre Ergebnisse aus der Studie, die sie mit vier Kindern mit Polnisch und Russisch als Erstsprache und zwei Kindern mit Türkisch als Erstsprache durchgeführt hat (1995a-d; 2006). Ihr Interesse gilt insbesondere der Frage, ob die Komplexität der Strukturen für die Erklärung der Erwerbsschwierigkeiten hinzuzuziehen ist oder eher die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Erstsprache und dem Deutschen den Erwerb beeinflussen. Neben fundierten theoretischen Ausführungen formuliert sie mit Hilfe ihrer empirischen Arbeit Erwerbsphasen für den Nominalflexionserwerb, die beispielsweise der Arbeit von Marouani (2006) als Grundlage dienten. Marouani (2006) untersucht den Zweitspracherwerb von neun drei- bis fünfjährigen Kindern mit Arabisch als Erstsprache. Sie analysiert hauptsächlich in Anlehnung an Wegener (1995a) die Kategorien Genus, Numerus und Kasus hinsichtlich ihrer Markierung, ihrer Zuweisung und ihrer Funktion und deren Erwerb mit Hilfe von Spontansprachdaten der arabischsprachigen Kinder. Die zentrale Frage ihrer Arbeit, ob Abhängigkeitsverhältnisse beim Erwerb der Kategorien bestehen, kann sie eindeutig verneinen, da sie keine Beziehung zwischen Genuszuweisung und Pluralmorphologie und zum Kasus feststellte. Die in der Theorie feststellbaren Abhängigkeitsverhältnisse schienen beim Erwerb keine Rolle zu spielen. Die Notwendigkeit weiterer Studien zum Erwerb der Nominalflexion, insbesondere durch Kinder mit anderen Erstsprachen wie zum Beispiel durch Kinder mit Türkisch als Erstsprache, hebt sie besonders hervor:

„Es wäre allerdings eine effizientere Behandlung der in dieser Arbeit untersuchten Problematik sehr nützlich gewesen, wenn weitere Daten von anderen gleichaltrigen ausländischen Kindern mit ähnlichen Lernbedingungen, aber unterschiedlichen Muttersprachen hatten, herangezogen werden können, wie z.B. Türkisch oder Russisch. Ein solcher Vergleich hätte dazu beitragen können, den Gebrauch der untersuchten grammatischen Erscheinungen bei den arabischen Kindern besser verstehen zu können und es erlaubt, den Erwerbsverlauf der nominalflexivischen Kategorien klarer darzustellen.“ (Marouani 2006: 257)

Weitere Arbeiten, die den Zweitspracherwerb der Nominalflexion durch Kinder mit Türkisch als Erstsprache untersuchen, sind insbesondere im Bereich der Kategorie Genus (z.B. Kaltenbacher/Klages 2006, Jeuk 2008) zu finden. Einen ersten fundierten Ansatz in diesem Bereich liefert die Studie von Ruberg (2013), der den Genuserwerb von Kindern mit Türkisch, Polnisch und Russisch als Erstsprache untersucht. Er stellt fest, dass der Genuserwerb bei Kindern, die bis zum Alter von vier Jahren mit dem Zweitspracherwerb beginnen, wie beim Erstspracherwerb verläuft (vgl. Ruberg 2013: 318). Lediglich Unterschiede hinsichtlich der Geschwindigkeit seien feststellbar. Im Vergleich zu den untersuchten Kindern mit Polnisch und Russisch als Erstsprache beobachtet er bei den Kindern mit Türkisch als Erstsprache einen langsamer ablaufenden Erwerbsverlauf.

Die zentrale Frage, die hier aufkommt, ist: Wie ist der Erwerbsverlauf in anderen Bereichen der Nominalflexion? Zum Numerus- und Kasuserwerb von türkischsprachigen Kindern liegen uns bislang außer den Ergebnissen von Wegener, die sie mit Hilfe von zwei Kindern ermittelt und den Analysen von Lemke (2008), die er im Rahmen seiner Studie zum Erwerb von Determiniererphrasen in Bezug auf ein von ihm untersuchtes Kind mit Türkisch als Erstsprache formulierte, keine Daten vor.

In dieser Arbeit wird der Erwerb der deutschen Pluralflexion durch 77 Kinder mit Deutsch als Zweitsprache und Türkisch als Erstsprache analysiert.4 Als Kontrollgruppe dienen 19 DaE-Kinder (Kinder mit Deutsch als Erstsprache).5 Mit Hilfe eines vor der Untersuchungsdurchführung von den Eltern ausgefüllten Fragebogens werden Daten zum Alter und Beginn des Zweitspracherwerbs ermittelt, um eine möglichst homogene Gruppe von DaZ-Kindern (Kindern mit Deutsch als Zweitsprache) untersuchen zu können. Hierbei werden lediglich sprachunauffällige Kinder für die Experimente herangezogen. Zudem werden nur Kinder untersucht, die mit drei Jahren in eine Kindertagesstätte kamen und bei denen die Eltern angeben, zu Hause Türkisch mit den Kindern zu sprechen. Die Daten werden mit Hilfe von verschiedenen Elizitationstests in den Wohnungen der Kinder erhoben. Neben dem Erwerb der Pluralflexion erfolgt auch ein Einbezug des Genus- und insbesondere des Kasuserwerbs.

Für den Genus- und Kasuserwerb von DaZ-Kindern, die bis zum Alter von vier Jahren mit dem Erwerb des Deutschen beginnen, konnte in bisherigen Studien festgestellt werden, dass der Erwerb wie in der Erstsprache verläuft (vgl. z.B. Thoma/Tracy 2006, Rothweiler 2007, Chilla 2008, Meisel 2009, Ruberg 2013). Gilt dies auch für den Pluralerwerb von türkischsprachigen DaZ-Kindern?

Folgende drei zentrale Fragen sollen in dieser Arbeit untersucht werden:

1 Unterscheidet sich der Erwerb der Pluralbildung durch DaZ-Kinder mit Türkisch als Erstsprache, die bis zum Alter von vier Jahren mit dem Erwerb des Deutschen beginnen, vom Erstspracherwerb des Deutschen?

2 Welche Strategien setzen DaZ-Kinder bei der Wahl der Pluralmarker ein?

3 Sind die in der Theorie feststellbaren Abhängigkeitsverhältnisse der Kategorien Numerus, Genus und Kasus auch beim Erwerb dieser Kategorien erkennbar?

Aus diesen Fragen leiten sich die Hypothesen ab, die im fünften Kapitel der Arbeit formuliert werden.

Die Arbeit gliedert sich in sechs Teile. Zunächst wird im ersten Teil die Nominalflexion des Deutschen und des Türkischen thematisiert, indem das jeweilige Numerus-, Genus- und Kasussystem skizziert wird. Hierbei erfolgt die Beschreibung der türkischen Nominalflexion, soweit möglich, auf einer direkten Vergleichsebene mit der im vorhergehenden Kapitel dargestellten deutschen Nominalflexion. Auch wenn im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit der Schwerpunkt auf der Pluralflexion liegt, erscheint die Betrachtung des Genus- und Kasussystems sinnvoll, um den Kontext und die Komplexität der Erwerbsaufgaben, mit denen die Kinder in diesem Bereich konfrontiert sind, aufzeigen zu können.

Der zweite theoretische Teil beschäftigt sich eingangs mit grundlegenden Thesen und Annahmen des Zweitspracherwerbs und fokussiert anschließend den Erwerb der Nominalflexion. Neben den Untersuchungen und Annahmen zum Pluralerwerb, werden dabei auch Studien und Erkenntnisse zum Genus- und Kasuserwerb skizziert, um einen Überblick über die Annahmen zum Erwerb der deutschen Nominalflexion in der Erst- und Zweitspracherwerbsforschung zu geben. Ausgehend von den theoretischen Grundlagen, den aufgeführten Studien und den obigen drei Fragen werden am Ende dieses Teils, in Kapitel 5.3, die Hypothesen der Arbeit formuliert.

Im dritten Teil werden die eigenen Untersuchungen zum Plural- und Kasuserwerb vorgestellt. Hierfür werden die sechs durchgeführten Experimente und ihre Ergebnisse einzeln detailliert beschrieben, analysiert und diskutiert.

Experiment 1, das Zauberkisten-Experiment zur Erhebung von Pluralformen, ist eine leicht modifizierte Form des Elizitationsexperiments, mit dem Bartke (1998) den Pluralerwerb von DaE-Kindern untersuchte. Im zweiten Experiment wird das mit arabischsprachigen DaZ-Kindern durchgeführte Kunstwort-Experiment zur Pluralflexion von Marouani (2006) repliziert. In Experiment 3, dem Bildkarten-Experiment, steht ebenfalls die Pluralmarkierung der DaZ-Kinder im Mittelpunkt der Betrachtung. Hierbei wird anhand von Bildkarten die Pluralbildung von Nomen aus dem Realwortschatz untersucht, die sich teilweise mit den Items aus den anderen Experimenten der Studie überschneiden, um diese Ergebnisse miteinander vergleichen zu können. Bei den Experimenten 4 und 5 handelt es sich ebenfalls um Elizitationsexperimente. Diese von Eisenbeiß (1994) adaptierten Experimente beschäftigen sich mit dem Kasuserwerb. Im Clown-Experiment werden durch das Anziehen eines Clowns Nominativ- und Akkusativformen elizitiert. Im Wink-Experiment, das bei Eisenbeiß den Namen „Zoo-Besuch“ trägt, winken Playmobilfiguren verschiedenen Tieren zu und dem Kind wird die Frage gestellt, wem die Figur gerade zuwinkt. Das letzte Experiment ist ein selbst entworfenes Bauernhof-Brettspiel, mit dem je Kind Pluralformen von 36 Nomen erhoben werden. Da es sich hierbei um eine andere Probandengruppe handelt als in den anderen obigen Experimenten, wird es in der Arbeit als letztes Experiment aufgeführt.

Der vierte Teil der Arbeit gliedert sich in zwei Kapitel. Zunächst werden die Ergebnisse zum Erwerb der Pluralflexion ausgewertet und diskutiert, indem auf der Grundlage der im dritten Teil der Arbeit vorgestellten Ergebnisse die Kernhypothesen dieser Arbeit überprüft werden. Anschließend wird das Verhältnis von Genus zu Numerus und von Kasus zu Numerus, das sich aus den selbst erhobenen Daten ableiten lässt, beschrieben.

Im fünften Teil der Arbeit werden die Erkenntnisse bezüglich der Fragestellungen und die Antworten, die auf der Grundlage der erhobenen Daten formuliert werden können, zusammengefasst und die zentralen Ergebnisse diskutiert.

Erwerb der deutschen Pluralflexion

Подняться наверх