Читать книгу Die Chinesische Mauer - Günter Billy Hollenbach - Страница 10

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Wir betreten der Reihe nach den kühlen Hausflur.

Rote mexikanischen Fußbodenfliesen. Ein Stück weiter rechts eine geräumige Küche mit chromblitzenden Geräten und einem derben Tisch aus hellem Holz und fünf passenden Stühlen nahe der Fensterseite. Als letzter folgt der Kollege mit der Videokamera.

Wir setzen uns.

Natürlich hocken die beiden Kinder dabei, Janey auf dem Schoß ihrer Mutter. Brians einleuchtende Begründung:

„Ohne uns wäre das Ganze schließlich nicht geschehen.“

Die beiden betragen sich artig zurückhaltend, aber keineswegs ängstlich oder verschüchtert.

Officer Clayton führt das Gespräch, schildert knapp den Entführungsversuch, lobt Brians Mithilfe bei der Aufklärung des Missverständnisses über mein Verhalten.

Frau Wong hört mit großen Augen zu, zieht ihr Töchterchen an sich, fragt sie eindringlich, ob ihr etwas wehtut, sie nicht besser einen Arzt rufen soll. Die Kleine beteuert, alles sei bestens, nur schrecklich aufregend gewesen. Schließlich habe sie sich ganz toll stark an mir festgehalten.

Ich sitze die meiste Zeit schweigend dabei, falle mehrmals zurück in innere Bilder vom Geschehen auf der Treppe. Zwei-, dreimal ertappe ich mich dabei, Frau Wong verstohlen anzuschauen. Das Wort „Star“ springt mir wiederholt in den Sinn. Im Vergleich zu ihr wirkt Claudia, meine liebste, vielleicht zwei Jahre ältere Tochter in Santa Fe, „nur“ wie eine patente, nicht unattraktive Durchschnittsfrau; auch wenn sie Dreiviertel der Woche als anerkannte Kinderärztin tätig ist.

In einer ähnlichen Situation hätte sie alsbald besorgt hinter Ehemann und Hausmädchen hertelefoniert. Frau Wong nimmt während der ganzen Zeit kein Mobiltelefon in die Hand. Ihre volle Aufmerksamkeit gilt uns und dem Gespräch.

Als ich mich unbeobachtet fühle, atme ich einmal tief durch, um mich zu entspannen, und betrachte Frau Wongs Energiefeld, auch Aura genannt. Interessant! Eine dichte, silbrige Strahlenhülle, fast zwei Hände breit gleichmäßig um Kopf und Oberkörper, wird sichtbar. Eine vitale, ausgeglichene, selbstsichere Persönlichkeit, mindestens so beeindruckend wie ihre äußere Erscheinung. Wetten, männliche Blicke und Gesten der Aufmerksamkeit fliegen ihr nur so zu. Wegen ihres Wesens? Wohl mehr wegen ihres Aussehens. Sie weiß es genau; hat gelernt, damit umzugehen. Wenig überraschend, dass eine derartige Schönheit meist mit innerem Abstand einhergeht. Wie auch immer, Frau Wong verhält sich uns gegenüber unverkrampft selbstbewusst und zugewandt.

Ich dagegen – fühle meinen Puls stärker als normal gehen.

Die Frau verwirrt mich, je länger wir zusammensitzen. Das Bild ihrer Aura bleibt mir im Gedächtnis haften. Ich versuche, sie mir als Tochter vorzustellen, dann als Geliebte. Beide Male sperrt sich etwas in mir gegen entsprechende Gefühlsregungen. Obwohl mein Blick immer wieder Frau Wongs Gesicht sucht und ich ein Spur Bewunderung für sie empfinde.

Sie schaut uns offen und freundlich an, ihr Lächeln kommt schnell und wirkt echt. Die Frau hat einen scharfen Verstand, dessen bin ich mir sicher.

Na schön. Wir reden, wir verabschieden uns. Und gehen. Fertig.

Sie bewegt sich in anderen sozialen Kreisen als wir drei Männer, okay? Und ist geschickt genug, uns das nicht spüren zu lassen.

Janey schielt ein paar Mal zu mir herüber, lächelt verschmitzt.

Ich lächele zurück.

Was es zu dem Zwischenfall zu sagen gibt, erledigen die zwei Polizisten. Auch gut. Die beiden Kinder sind heile und sicher. Angeberei ist nicht meine Stärke. Was soll ich noch hier? Also mache ich, was ich oft tue bei Menschen, denen ich erstmals begegne; und die etwas in mir anregen. Ich lenke meine Aufmerksamkeit in die eigenen Energiezentren. Und lauere darauf, Frau Wong sprechen zu hören.

Es muss mit meiner Hellsichtigkeit zu tun haben. Weshalb ich fast nie darüber rede. Wenn ich darauf achte, sehe und fühle ich den Klang menschlicher Stimmen in meinen Energiezentren. Wie ein Kribbeln oder einen Druck auf der Haut, durch die Bekleidung hindurch. Gesungen deutlicher als gesprochen. Mit Empfindungen wie wohlig, offen und mitschwingend. Oder unangenehm, starr, abwehrend. Zugleich erscheinen die Klänge in Lichtfarben; mal kreisförmig, mal wie tanzende Strahlen oder näherkommende Wölkchen. Oben am Körper in dunkel- und hellblau, in der Mitte grün, vom Bauchnabel abwärts orange bis rot.

Clayton fragt, wer die Kinder gewöhnlich betreut.

Ihr Hausmädchen. Und Frau Wong hängt eine längere Erklärung an.

Nach dem Anblick ihrer Aura die zweite Erleuchtung. Meine Kehlkopf- und die Herzgegend summen in gefälligem ,Blau’ und angenehmem ,Grün’. Doch das Summen bleibt an der Oberfläche, ohne weiter innen zu schwingen.

Oh, oh! Vor meiner Stirn erscheint das Bild eines blau-grün gestreiften Tigerkopfes, der mich aufmerksam, fast neugierig betrachtet. Beachtlich; denn unerwartet stark spüre ich, wie eine ergänzende Erklärung: Die Frau ist in Gedanken sehr beschäftigt. Mit mir. Ohne mich anzusehen, ohne es sich anmerken zu lassen. Der Tiger-Kopf ist zu markant, um ihn schnell zu vergessen. Und blitzt wieder auf, als ich Frau Wong erneut ansehe.

Bei diesem Klang-Sehen schließe ich gelegentlich ungewollt die Augen und verliere den Gesprächsfaden. Menschen, die mich dabei erwischen, fühlen sich peinlich berührt, halten mich für erschöpft oder geistig weggetreten.

Tatsächlich bin ich innerlich hellwach und nehme Dinge wahr, die mir oft wertvolle Hinweise auf hervorragende Wesenszüge des Menschen geben, mit dem ich es zu tun habe. Die Zellnetzwerke in meinem Kopf werden dadurch zusätzlich auf Trab gebracht.

Was mag Frau Wong zu verstärktem Nachdenken über mich anregen? Eine Laune des Schicksals hat mich an ihren Küchentisch geführt. Das Ereignis an sich? Oder meine Person? Wie mag die Frau mich wahrnehmen? Einen fremden, älteren Mann von gewöhnlicher Alltagserscheinung in Jeans, dunkelgrauem Sweatshirt, darüber eine lederne, etwas abgewetzte, braune Bomberjacke. Den sie sicher ebenso schnell zu vergessen hofft wie den unschönen Vorfall mit ihren Kindern.

Wenn Officer Clayton mein Verhalten erwähnt, sieht Frau Wong mich mit leichtem Nicken flüchtig an, stellt mir aber keine Fragen. Ich bin froh darüber. Natürlich reizt es mich, mit ihr zu sprechen; jedoch ohne die Polizisten und die Kinder. Ich möchte ihr das Geschehen aus meinem Erleben schildern. Auch weil ich überzeugt bin, dadurch selbst besser damit fertig zu werden. Mit der Angst vor einem möglichen Messerstich und dem Schrecken der auf mich gerichteten Polizeipistole. Wenigstens ein bisschen Eindruck machen bei der Dame – dagegen hätte ich auch nichts.

Wenn nicht, auch gut. Ich weiß, was ich getan habe.

Jetzt geht keiner der Anwesenden näher auf mich ein. Immerhin: Während des ganzen Gesprächs entdecke ich bei der Frau keine Spur von Herablassung mir gegenüber. Aber auch keine dankbare Bevorzugung im Vergleich zu den beiden Polizisten.

*

„Meine Herren. Der Vorfall beunruhigt mich selbstverständlich,“ beendet Frau Wong meine intuitive Kurzbetrachtung.

„Wie Sie zweifellos wissen, ist dies eine sehr sichere Wohngegend.“

Keine Gefahren durch Straßenverkehr. Deshalb lebt die Familie gern hier. Die Kinder spielen ab und zu draußen, oben vor dem Haus oder unten an der Mauer, neben dem Seiteneingang. Die beiden dürfen höchsten eine Stunde am Tag fernsehen, und Videospiele sind vollkommen tabu. Aber man kann die kleinen Rangen ja nicht festbinden. Der Gedanke, dass sie vor der eigenen Haustür nicht mehr sicher sind, hat etwas sehr Beunruhigendes.

Clayton nickt bedächtig.

„Gnädige Frau, das kann ich gut verstehen. Meine Frau und ich – wir leben drüben am Telegraph Hill – führen gelegentlich ähnliche Gespräche, auch wenn unsere zwei Söhne schon älter sind.“

Sie unterbricht ihn.

„Vielleicht sollte ich mir einen Polizisten zum Ehemann nehmen.“

Sekundenlange Stille.

Clayton meint wie beiläufig:

„Doch nicht Sie! Tun Sie uns das nicht an!“

Nach einem erneuten Augenblick überraschter Stille lachen alle drei herzhaft – oder verlegen. Wenn das ein Witz gewesen ist, bin ich wohl der Einzige, der dessen Pointe nicht versteht.

Die Chinesische Mauer

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