Читать книгу Die Chinesische Mauer - Günter Billy Hollenbach - Страница 8
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ОглавлениеVon hier unten sieht man gut, wie eng und steil die Florence-Treppe mit der grauen Steineinfassung ist. Wohl auch deshalb endete der Zweikampf glimpflich. Weit ausholen und kräftig zuschlagen konnte der Angreifer nicht. Seine böse funkelnden Augen wieder vor mir, nehme ich erst nach einigen Augenblicken das dünne Streicheln an meinem Hals wahr, höre kaum das fröhlich kichernde „Das ist dein Kinn“ neben meinem Ohr. „Und hier deine Nase.“
Beinahe muss ich niesen.
Mit ihrem kleinen Zeigefinger fährt Janey munter in meinen Gesichtszügen herum. Wie es früher unsere Claudia-Tochter gelegentlich getan hat. Nur dass dieses goldige Mädchen erst vor kaum einer Stunde in mein Leben gestolpert ist. Die Unbekümmertheit, mit der sie mit meinem Gesicht spielt, empfinde ich anrührend. Am liebsten möchte ich die Kleine küssen. Statt dessen tippe ich mit dem Zeigefinger sanft auf ihr Näschen und flüstere ihr ins Ohr:
„Du bist ein verspielter, kleiner Schatz.“
„Und Du bist mein großer, starker Bodyguard,“ erklärt sie herzig in entwaffnender Offenheit.
„Gut, dann steigen wir Treppen,“ meint Officer Clayton zu mir.
„Teure Gegend, reiche Leute, die hier wohnen. Haben Sie hier mit jemandem geschäftlich zu tun, Herr Berkamp?“
„Nein, ich kenne niemanden hier. Ich mag die Gegend, die Ruhe und die hübsche Aussicht auf die Stadt und die Bucht.“
„Kann ich verstehen. Dass Sie Deutscher sind? Ihr Englisch hat die Klangfarbe aus dem Norden, Wisconsin oder Illinois, typisch für deutsche und skandinavische Einwanderer. Die mochten die Gegend, weil sie wohl von daheim den harten Winter gewöhnt waren,“ ergänzt er verlegen.
Schau an, der Herr Polizist kann auch zu mir freundlich sein.
„Danke für das Kompliment. Mein Vater war amerikanischer Soldat in Deutschland. Das hat abgefärbt.“
„Was Sie nicht sagen?! Jedenfalls sprechen Sie besser Englisch als die Hälfte der Einwohner von San Francisco.“
In seiner Hochachtung wachse ich bestimmt um zusätzlich sechs Fuß, etwa einmeterachtzig.
„Vorhin, Sie verstehen, wie Sie dastanden mit dem Kind ...“
„Ist schon vergessen. Sie sind lehrbuchmäßig vorgegangen.“
Verwunderter Blick:
„Das können Sie beurteilen?“
„Ein wenig. Ich habe vor Jahren an einem Sicherheitstraining an der Universität Santa Cruz teilgenommen. Mit Polizeitrainern aus Los Angeles. Die haben uns einige Grundlagen beigebracht und ähnliche Szenen durchgespielt. Stichwort Verhandlungstechnik.“
„Dann danke ich Ihnen für das Kompliment. Lassen Sie uns gehen.“
Janey hockt die ganze Zeit, erkennbar zufrieden, auf meinem Arm, schaut aufmerksam zwischen dem Beamten und mir hin und her.
Als wir die Treppe betreten, fällt mir wieder ein, dass der Angreifer beim Wegrennen etwas verloren hat.
„Wo? Hier?“
Eine Stufe höher liegt es, hellblau, wahrscheinlich Papier.
„Cliff, wir brauchen einen Beweismittel-Beutel,“ ruft Clayton zu dem Streifenwagen hinüber.
Der Kollege nickt und kommt mit einem weiß und rot als „Beweismittel“ gekennzeichneten Plastikbeutel sowie einer Pinzette zu uns.
„Wo, wer, wie, was?,“ grinst er mich an, stellt sich aber nicht vor.
Das Fundstück liegt am Rand der zweiten Stufe. Der Beamte geht in die Knie, greift den verformten Gegenstand, hebt ihn schräg vor seine Augen. Brian hockt in gebührendem Abstand neben dem Polizisten und verfolgt sein Tun mit wachen Augen. Der erklärt halblaut:
„Okay, was haben wir? Dickes Papier, einmal gefaltet. Da ist Blut, hey, Mann, kein Zweifel, da ist frisches Blut drauf! Und Zahlen, von Hand geschrieben, teilweise blutverschmiert.“
„Ha!,“ lacht Officer Clayton bissig erfreut.
„Ich liebe solche Tatorte. Warum hat dieser Knubbelkopf nicht gleich seine Adresse hier gelassen? Das würde uns die Rückzahlung für seinen Blutverlust erleichtern.“
Sein Kollege hat das hellblaue Papier, etwas größer als eine Visitenkarte, mit der Rückseite eines Fingernagels gespreizt und mit der Pinzette in den Plastikbeutel geschoben.
„Datum Oktober vier, Uhrzeit elfzehn vormittags, ...“
Der Rest geht in seinem Murmeln unter, während er den Beutelaufkleber beschriftet. Mit dem Inhalt sicher verstaut, steht der Beamte auf, streicht den Beweismittel-Beutel glatt, betrachtet das Papier darin.
„Und, was steht drauf?“ fragt Clayton.
„Weiß nicht, Zahlen, teilweise verschmiert, schwer zu lesen.“
„Komm, vergiss es. Lass die Technik die DNA sicherstellen. Dann können die sich auch um die Zahlen kümmern.“
„Es sind zwei Zeilen,“ sagt der Kollege. „Oben steht BW 1032, da drunter nur Zahlen, die letzten drei voll Blut.“
„Mann, cool! Ganz einfach!,“ springt Brian auf und hüpft auf der Stelle. „Das ist unsere Adresse. Die von meinem Daddy, von seiner Firma, bestimmt. BW heißt Broadway, wetten? Das Andere ist die Hausnummer, 1032. Leute, kommt, schaut her.“
Er läuft einige Schritte auf die seitliche Eisentür zu, deutet erregt auf den Steinpfosten rechts daneben. Kurz unter dem weißen Abschlussstein, teilweise von Blättern verdeckt, wird ein hellblaues, viereckiges Emaille-Schild mit der Zahl 1032 sichtbar.
„Ich glaube es nicht! Wenn das den Kerl nicht festnagelt,“ brummt Clayton zufrieden. Dann blickt er mich eindringlich an.
„Berkamp, und vor Gericht beschwörst Du, dass der Zettel aus der Tasche des Angreifers gefallen ist!“
Ich muss lachen.
„Ja, denkst Du, ich habe den da hingeworfen?“
„Natürlich nicht. Ich will nur alle meine Enten auf der Reihe habe. Wie ich die Sache sehe, das sind brauchbare Spuren, deutliche Hinweise. Dazu das Blut an dem Papier. Wenn wir Glück und seine DNA im Computer haben, ist das Fall so gut wie gelöst.“
Officer Claytons Einschätzung sollte sich als ein ziemlicher Trugschluss erweisen.
*
Auf der untersten Stufe der Florence-Treppe erklärt Janey zappelig:
„Ich will ... runter. Ich muss ... Lass mich runter, bitte.“
Dieses herzige Mädchen weiß, was es will. Keine Spur verstört oder ängstlich. Du musst sie einfach mögen, wie sie zwei Stufen höher dasteht, mit strahlenden Mandelaugen zu dir aufschaut. Sie reckt sich kurz hin und her, läuft flink an mir vorbei nach unten, schnappt Claytons Hand.
„Du bist jetzt der Böse, okay,“ eröffnet sie dem überraschten Beamten.
„Los, Du musst hinter mir herrennen. Von unten nach oben. Nein, jetzt noch nicht. Hey, Du da, mein Bodyguard, geh dort hinauf, und dann kommst Du wieder die Treppe runter und fängst mich. Und dann kämpft ihr beiden. Nicht wirklich natürlich. Ihr müsst nur so tun, wie in echt.“
Keine Frage, wir beide sind einverstanden.
Clayton ruft seinem Kollegen etwas zu, der eilt zum Dienstfahrzeug und kommt mit einer Videokamera zurück.
„Kann losgehen,“ erklärt er, lässt das Objektiv ausfahren und hält die Kamera vors Auge.
Die Kinder laufen aufgeregt hin und her, Brian ruft zwischendurch:
„Erst habe ich gedacht, der will etwas fragen. Aber er hat böse geguckt, richtig fies. Deshalb bin ich weggelaufen nach dort links, nein, das ist rechts von hier, egal. Er wollte erst mich fangen, aber ich war schneller. Dabei habe ich Janey zugerufen, sie soll ins Haus flüchten. Weil der Mann sie ganz komisch angeschaut hat, als er kam.“
Als Clayton in einer angedeuteten Verfolgung die Treppe hinaufgeschnauft kommt, dreht Janey sich ihm zu, streckt etwas linkisch ihren kleinen Arm rückwärts in meine Richtung:
„Der da hat dem bösen Mann voll eine auf die Nase geknallt. Da hat sein Blut gespritzt wie verrückt. Richtig toll. Keine Angst, Herr Polizist, jetzt macht er das natürlich nicht. Hier, wo die Treppe den Knick macht, hier müsst ihr kämpfen.”
Spricht es, dreht sich auf dem Absatz um und streckt mir beide Arme entgegen.
„Du musst ihm jetzt zeigen, wie Du mich festgehalten hast. Aber Du darfst ihm nicht wehtun, versprochen!“
Kinder sind wahre Überzeugungskünstler.
Der Kollege, der mit der Kamera unseren Schritten folgt, schüttelt breit grinsend den Kopf. Clayton lächelt Janey an und stellt gelassen fest:
„Gut, Du kleiner Schatz, das hast Du großartig gemacht. Jetzt weiß ich genau, was geschehen ist. Nun schauen wir mal nach deiner Mammi.“