Читать книгу Die Chinesische Mauer - Günter Billy Hollenbach - Страница 18

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Vor dem Haupteingang der „Hall of Justice“ atme ich wie befreit durch. Froh, endlich laufen zu können. Zehn Minuten später betrete ich einen Bio-Supermarkt an der Vierten Straße. Ich nehme mir Zeit für die Auswahl der Dinge, nach denen mein Gemüt schreit: Joghurt, Banane, eine kleine Tafel tiefschwarzer Schokolade, ein Beutel Heidelbeeren und ein großer Becher mit grünem Tee.

Schon auf dem Weg hierher wirkt das Gespräch mit Contreras nach. Mein Gefühl für die Stadt bekommt eine neue Tiefe. Dort drüben im Finanzbezirk, die zahlreichen Hochhäuser neben dem weithin sichtbaren dunkelbraunen Bank-of-America-Turm. Ob einige davon unter der schützenden, unter dem Tisch offenen Hand dieses Herrn Yee Wong entstanden sind? Nebenbei, wieso hat die Tochter den gleichen Familiennamen wie ihr Vater?

Kaum hocke ich auf einem der Stühle hinter dem Kassenbereich, scheinen meine Gedanken in dem Teebecher zu versinken. Weder die Banane noch der Joghurt wollen richtig schmecken. Mein Blick folgt verwundert den gut gekleideten Damen und Herrn Kunden vor den reich bestückten Regalen, zwei Jugendlichen mit Rasta-Frisur und einem wie verloren neben der Kette von Einkaufwagen wartenden Mädchen. Ob diese Leute einen Gedanken darauf verschwenden, wer in ihrer Stadt Macht und Einfluss hat?

Wenn du sie fragst, ob sie schon einmal mit Organisierter Kriminalität in Berührung gekommen sind? Zucken sie entgeistert zurück, sehen dich verständnislos an? Oder beten sie verlegen kichernd runter, welche der zahllosen Fernseh-Krimiserien ihnen besser gefällt; von „Law and Order“, über „The Shield“ bis zu „Las Vegas CSI“?

Was antworte ich nach dem heutigen Tag auf die gleiche Frage?

Der Handkantenschlag auf meinen Oberschenkel schmerzt noch spürbar. Der tätowierte Angreifer und die Polizisten mit ihren auf mich gerichteten Pistolen waren keine Einbildung. Selbst wenn Detective Contreras dick aufgetragen hat, im Kern wird viel Wahres an seinen Ausführungen sein. Mit solchen Leuten habe ich jetzt zu tun?!

Nein, danke, besser nicht.

Was fällt dem Kerl eigentlich ein? Schlägt ganz nebenbei vor, ein privates Treffen abzuhören. Ist das überhaupt zulässig, mich ohne weiteres zu verwanzen? In Deutschland braucht es dafür eine richterliche Genehmigung.

Tja, hier ist wohl wilder Westen, immer noch.

Dazu gehören immer zwei, mein Lieber.

Glaubt der Mann wirklich, ich lasse mich zu seinem willigen, billigen, unanständigen Gehilfen machen?

Was auch immer er von Frau Wong hält, für mich ist sie die Mutter eines kleinen Mädchens, das um ein Haar aus meinen Armen entführt worden wäre. Darüber miteinander zu sprechen ist richtig und wichtig, für sie und mich. Privat, ungestört. Selbst wenn sie nie davon erfahren würde; dabei eine Abhörwanze zu tragen, bedeutet eine schäbige Verletzung ihres Vertrauens. Und unnötigen Stress für mich. Ich könnte nicht unbefangen reden. Vor allem: Ein derart mieses Verhalten könnte ich mir nie verzeihen, würde meine Selbstachtung nachhaltig beschädigen.

Bisher hielt sich meine Lust in Grenzen. Jetzt steht mein Entschluss: Ich gehe zu den Wongs. Empfinde sogar eine Spur Vorfreude. Auf das Gespräch mit einer attraktiven Frau. Schlimm genug, dass ich Contreras’ Aussagen über den Familienhintergrund nicht einfach aus dem Kopf wischen kann.

Die Tochter ihres Vaters! Na und?

Durch die Polizei-Brille betrachtet kann jedes beliebige Verhalten verdächtig erscheinen; selbst die zufällige Nähe zum Täter oder zum Tatort. Das habe ich am eigenen Leib erfahren, als mich der Diebstahl meines Autos zum unschuldigen Beteiligten an dem Überfall auf einen Uhrenladen in der Frankfurter Goethe-Straße gemacht hat. Dass die Polizei nicht davor zurückschreckt, einen unbescholtenen Bürger mit zweifelhaften, sogar strafbaren Mitteln zu belasten, ist eine der bitteren Lehren der damaligen Ereignisse. Weil es einem Beamten ins Vorurteil gepasst hat und dem eigenen Ansehen dienen sollte.

Na, Michael Contreras, wie steht es mit deinem Ansehen?

Im Zweifel für die Angeklagte.

Für mich besteht kein Grund – Null Komma Null –, ihr mit Misstrauen zu begegnen. Nancy Wong, die Tochter ihres Vaters?

Er Gangster, sie selbstverständlich auch? Ihr alter Herr kann seine Einkommensquellen vor der Familie verborgen haben. Je besser die Geschäfte liefen, um so leichter. Wenn die Tochter durch seine Erziehung – chinesisch, fordernd und streng – ein selbstbewusstes Wesen bekommen hat und das geistige Rüstzeug für beruflichen Erfolg, schön für sie. Zumal bei ihrem blendenden Aussehen.

So klug wie sie mir vorkam, weiß sie womöglich, welche Geschäfte ihr Vater betreibt, verachtet ihn dafür und geht längst ihren eigenen Weg. Hat sich gar den tiefen Hass des Herrn Papa zugezogen. Oh, Mann! Am Ende hat ihr eigener Vater den Angriff auf sein Enkelkind in Auftrag gegeben.

Unter einem Mangel an Vorstellungskraft leide ich nicht.

Versonnen eine Handvoll Heidelbeeren kauend entdecke ich: Eine Stimme in mir verteidigt die Frau, nimmt sie in Schutz. Ebenso ihre beiden Kinder. Das pochende Herzchen, fest an mich geklammert. Der Junge, der bekümmert gesteht, er hätte besser auf seine Schwester aufpassen müssen. Was ich mit den Kindern erlebt habe, was hat das mit ihren Eltern zu tun? Oder ihrem Großvater?

Michael Contreras, hiermit stelle ich fest: Mit deiner saublöden Frage hast du ein großes Stück meiner anfänglichen Hochachtung verspielt. Nebenbei hast du mich wie ein gefühlloses Werkzeug behandelt. Fast unbemerkt futtere ich nach Joghurt und Banane beinahe die halbe Tafel Schokolade. Wenn das kein Warnsignal ist!

Der Blick auf die Uhr bringt mich davon ab, ins Hotel zu eilen und meine kriminalhauptkommissarische Lebenspartnerin in Frankfurt anzurufen. Durch die neun Stunden Zeitunterschied ist es dort jetzt kurz vor neun. Wahrscheinlich hockt Corinna gerade in der Morgenlage, die je nach Tagesordnung eine gute Stunde dauern kann, und während der sie Störungen nach Kräften unterbindet.

Was könnte ich ihr Sinnvolles sagen ohne eine ausführliche Schilderung aller Ereignisse und Hintergründe? Mehr als aufmunternde Worte sind von ihr nicht zu erwarten. Wie soll sie von Frankfurt aus einen Fall verstehen, bei dem ich selbst, der unmittelbar Beteiligte, reichlich ahnungslos bin? Ich möchte zu gern mit jemandem sprechen, der mir ein wenig weiterhelfen ...

Auf wunderbare Weise meldet sich in solchen Augenblicken zuverlässig meine Intuition.

Hey, Dummkopf, ruf mich, frag mich, vertrau mir.“

Meine Intuition heißt Cassandra – habe ich das schon gesagt? Wir sprechen nur Englisch miteinander, hier angenehm übergangslos.

„Cassandra-Schatz, war das ein wilder Tag heute, Mann, oh Mann?!“

Gestern Abend habe ich dich gewarnt.“

Das Verrückte ist, ihre Augen erscheinen vor meiner Stirn, ich höre nicht wirklich eine Stimme, verstehe aber jeden Satz wie in einwandfreier Sprache. Diese seltsame Fähigkeit begleitet mich seit der Pubertät, als Cassandra mir eines Nachts erschienen ist.

Sie müssen es nicht glauben. Es war trotzdem so.

Dies ist kein guter Ort und Du bist aufgebracht. Also mach es kurz.“

„Einverstanden. Soll ich heute Abend Familie Wong besuchen?“

Unbedingt, Du wirst erwartet. Geh ins Hotel, bereite dich vor.“

„Vorbereiten? Worauf?“

Auf die blau-grün gestreifte Tiger-Dame. Nimm dir Zeit für sie.“

Fragen und antworten – ja. Cassandra mit Einwänden oder Vorhaltungen kommen? Keine Chance; die übergeht sie lächelnd. Das Gute: Selbst wenn sie gelegentlich ungewöhnlich klingen, ihre Hinweise erweisen sich stets als sehr zuverlässig.

Beim Warten vor einer Verkehrsampel an der Market-Straße durchzuckt mich ein erschreckender Gedanke: Die Kinder!

Über alle Einzelheiten des Geschehens haben wir gesprochen. Doch keiner der Erwachsenen, auch kein Polizist, hat das Naheliegende erwähnt: Brian und Janey haben den Angreifer ebenfalls gesehen. Auch sie könnten ihn wiedererkennen.

Als ob wir nur hoffen, die Sache möge schnell und folgenlos zu Ende sein. Keiner ist auf den Gedanken gekommen, dass die Kinder weiterhin in Gefahr sein könnten; womöglich noch mehr als vor meinem zufälligen Auftauchen an der Treppe.

Das soll ein angenehmer Abend werden?

Träum weiter, Berkamp!

Die Chinesische Mauer

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