Читать книгу Die Chinesische Mauer - Günter Billy Hollenbach - Страница 20
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ОглавлениеEtwas hat sich verändert. Wann und warum, kann ich nicht sagen. Als ich aufmerksamer auf Nancy Wong achte, empfinde ich es. Sie ist stiller geworden. Zwei- oder dreimal spüre ich, sie sieht mich länger an, abschätzender. Die Offenheit in ihrem Gesicht ist einem Schatten von Unsicherheit oder Zweifel gewichen.
„Carmen, Du Wunderköchin, das war wieder sehr gut,“ erklärt Nancy mit freundlicher Bestimmtheit, nachdem auch Carmen ihren Saft ausgetrunken hat.
„Schnappst Du bitte die beiden Nervensägen und steckst sie kurz in die Duschwanne. Und dann ab ins Bett, ihr zwei.“
„Och, Mammi. Ich habe Robert noch gar nicht meine Wikingerschiffe ...,“ mault Brian, wird prompt von seiner Schwester unterbrochen.
„Er heißt Roberto, Roberto! Brian, Du lernst wohl nie? Außerdem erzählt er mir eine Gute-Nacht-Geschichte. Bestimmt. Das machst Du doch, Roberto?“
Dazu für mich der herzigste Augenaufschlag des Abends.
„Das entscheidet sich später,“ befindet Nancy. „Jetzt erst mal Schluss, ihr zwei, ab unter Wasser! Wenn ihr in der Kiste liegt, schauen Robert und ich noch einmal nach euch. Und Carmen, kannst Du bitte heute Nacht hier bleiben und in deinem Zimmer schlafen. Mit Francis noch auf Reisen, das wäre mir wirklich lieb.“
„Oh ja, morgen kommt Daddy wieder,“ zirpt Janey.
„Gerne, Signora. Mi Marido geht heute Abend zum Bowling. Danach ist er wahrscheinlich wieder borracho; darauf kann ich verzichten.“
„Danke, Carmen, und lass uns bitte allein, ungestört, auch kein Telefon. Es sei denn, Obama wäre in der Leitung,“ schließt sie lächelnd.
Nancy geht wortlos voraus in den Wohnraum. Die Veränderung der Atmosphäre berührt mich befremdlich. Schade. Ich wünsche mir die strahlende Frau von vorhin zurück. Ungewollt beginne ich, auf ihr Verhalten zu achten. Ihr Stimmungswandel muss mit mir zu tun haben. Ist mir eben eine unpassende Bemerkung unterlaufen?
„Darf es etwas zu trinken sein?“
Ihre Frage klingt wie eine Förmlichkeit, dem Gast geschuldet. Nach kurzer Stille ergänzt sie mehr zu sich selbst:
„Vielleicht nehme ich später einen Schluck Whiskey. Wein vertrage ich nicht, Bier schmeckt mir nicht.“
Sie sieht mich an wie um sich zu vergewissern, dass ich zuhöre.
„Du weißt, Angst ist in Alkohol löslich? So heißt es doch. Da ich wenig Angst habe, trinke ich höchst selten einen Schluck Whiskey.“
„Tee wäre mir lieb, Nancy. Ich trinke seit Jahren keinen Alkohol.“
Draußen ist es deutlich dunkler geworden; die Lichter der Stadt glitzern in den dicken Glastüren zum Garten.
„Tatsächlich? Na denn; dank Carmen ist für Tee immer gesorgt.“
Sie geht zu einer dunkelbraunen Kommode zwischen der Couch und dem wuchtigen Steinkamin und hantiert dort.
Als sie eine geschwungene Tasse mit hellgrünem Tee vor mir auf dem Couchtisch absetzt, sieht sie mich flüchtig an. Als koste es sie Überwindung.
„Also. Hiermit bist Du offiziell eingeladen, morgen Abend um sieben. Bei meinem Vater. Bitte sei pünktlich hier um halb sieben?“
Sie richtet sich auf, schaut auf mich herab. Der Schatten ihrer Frisur verdunkelt ihre Augen.
Ich bin unangenehm überrascht.
„Bitte noch mal, Nancy. Dein Vater lädt mich, uns ein? Weshalb?“
„Wegen heute Vormittag. Was dachtest Du denn?“
„Ich bin verblüfft. Reichlich viel Aufmerksamkeit für ...“
„Wir sind Familie; da hält man zusammen. Nach dieser Sache.“
„Diese Sache war Glück und ein wenig Zivilcourage.“
Sie nickt bedächtig, schaut weiter zu mir herab. Ich hätte gern ihre Augen gesehen. Sie bleibt stehen, wirkt unschlüssig.
„Du warst bei der Polizei, nehme ich an?“
Die Frage hört sich an wie eine Vorhaltung.
„Stimmt, ziemlich lange. Unten in der „Hall of Justice“. Mehr als heute Morgen konnte ich allerdings nicht sagen.“
„Und das wäre?“
„Ganz einfach: Ich bin da reingeraten, habe getan, was ich richtig fand, ohne viel Nachdenken.“
Sie vor mir stehend, ihr Gesicht im Schatten, ich hier sitzend, unterstreicht mein ungutes Gefühl. Bitte setz dich, Nancy. Sie fragt ungerührt weiter.
„Das war alles?“
„Was denn noch? Dass ich gemerkt habe, was Janey für ein Schätzchen ist?! Bitte, lach nicht; im ersten Augenblick dachte ich, mir läuft ein gelbschwarzer Hund in die Beine.“
„Wegen den schwarzen Haaren und dem gelben Pulli? Witzig.“
Wie sie es sagt, ist ihr nicht zum Lachen.
„Hhm. Als die Polizei mich für den Kidnapper gehalten hat ... zum Glück konnte Brian sie von meiner wahren Absicht überzeugen.“
„Ist das so? Ich schätze, ich habe nicht richtig zugehört, als der Beamte den Vorfall beschrieben hat.“
Anders als vorhin ist ein unangenehmer Abstand zwischen uns zu spüren. Nancy wendet sich ab, geht zur Kommode, kommt mit einer Tasse Tee zurück. Sie setzt sich auf die Couch schräg gegenüber, aufrecht und steif, die Tasse auf den Knien, nimmt einen Schluck, sieht mich wieder an.
„Also, morgen Abend,“ wiederholt sie schließlich. „Informell, kein Smoking, nur pünktlich. Was fährst Du für ein Auto?“
„Daheim habe ich einen BMW X-3. Hier in der Stadt bin ich ohne.“
Sie hebt ihre Tasse an, hält in der Bewegung inne.
„Gut, dann hole ich dich ab, wir fahren mit meinem Wagen. Du wohnst im Grant-Plaza-Hotel?“
„Ja, sagte ich bereits.“
Sie trinkt einen Schluck, hält die Tasse wieder halbhoch vor sich.
„Wieso wohnst Du ausgerechnet dort? Finanziell? Musst Du sparen? Immerhin fährst Du einen BMW.“
Was soll die Frage?
„Tja, wirtschaftlich geht es mir gut. Superreich bin ich nicht.“
Ihr Blick macht klar, sie wartet auf eine weitere Erklärung.
„Also schön, das Hotel? Bei früheren Workshops vor über zehn Jahren habe ich im „Holiday Inn“ an der Kearny-Straße gewohnt.“
„Das gibt es heute nicht mehr.“
„Richtig. Damals ein solides Hotel in guter Lage. Ich hatte einen ermäßigten Zimmerpreis. Um die 130 Dollar; das fand ich in Ordnung. 2004 wurde daraus ein Hilton-Hotel. Die haben renoviert, die Preise verdoppelt und die Treue-Rabatte gestrichen. Plötzlich sollte das gleiche Zimmer 360 Dollar pro Nacht kosten, ohne Frühstück. Das fand ich unverschämt. In Deutschland kannst Du davon einen halben Monat leben. Und bei zehn oder zwölf Übernachtungen, rechne mal. Also habe mir andere Hotels angeschaut und bin im Grant-Plaza gelandet.“
„Und da fühlst Du dich wohl?,“ wundert sie sich.
„Wohl genug, dass ich dort immer wieder hingehe. Die Zimmer sind klein, zugegeben. Aber das Personal ist nett, Chinesen. Sie behandeln mich beinahe freundschaftlich. Es ist preisgünstig, liegt am Tor zu China-Town und nahe zum Union-Square ... Was will ich mehr?“
Nancy wirkt missgestimmt, ohne dass ich erkennen kann, was sie stört.
Ihre Antwort verwundert mich.
„Hilton ist eine Hotelkette. Die Betreiber benutzen den Namen und erfüllen bestimmte Qualitätsanforderungen. Dafür zahlen sie eine Gebühr. Darüber hinaus wirtschaften sie in die eigene Tasche.“
„Das sollen die machen, wie sie wollen. Deren Zimmerpreise verstoßen gegen mein Wertgefühl; also wohne ich woanders, fertig.“
Sie schüttelt verwundert – oder missbilligend? – den Kopf.
„Mit all den Chinesen, den primitiven Läden gleich hinter der Grant-Avenue, wo sich kaum Touristen hintrauen, das stört dich nicht?“
„Warum? Die Leute tun mir nichts. Durch meinen früheren Beruf war ich dreimal in China, in Shenzen und Nanjing. Dort in der Altstadt herrschte ein ähnliches Gedränge. Übrigens: Ich war sogar auf der Großen Mauer siebzig Kilometer nördlich von Bejing.“
Nancy – ihr Gesicht jetzt normal beleuchtet – bekommt große Augen. Sie nickt ein wenig, gestattet sich ein Lächeln.
Schön, sie wieder lächeln zu sehen!
„Gut. Die muss man gesehen haben. Obwohl, heute bei der verpesteten Luft. Und, hat sie dir gefallen, die Lange Mauer?“
„Schwer zu sagen. Bei solchen Mammutanlagen stelle ich mir immer die Menschen vor, die beim Bau ihre Knochen gebrochen und ihr Leben verloren haben. Das waren ja meist Sklaven. Die Mauer selbst fand ich beeindruckend.“
Ich wüsste zu gern, ob ich damit einige Sympathiepunkte zurückgewinne. Doch Nancy schaut mich nur reglos, aber aufmerksam an.
„Und die Menschen, wie fandest Du die?“
„Unsere Gesprächspartner, auch die Leute bei den wenigen Ausflügen, waren alle sehr freundlich, enorm wissbegierig. Nur ... die Tischsitten ... ließen einiges zu wünschen übrig.“
„Ich weiß,“ hakt sie ein und verzieht den Mund. „Entsetzlich! Die Leute furzen und rotzen wie die Schweine und spucken die Essensreste unter den Tisch. Unausstehlich. Das ändert sich erst langsam, wenn mehr ausländische Besucher ins Land kommen.“
Unerwartet klare Worte von der Dame.
Dann fragt sie bedächtig:
„Du weißt, warum die Große Mauer gebaut wurde?“
„Als Schutz des alten Kaiserreichs vor den Reiterhorden nomadischer Krieger, wenn ich das richtig erinnere.“
„Ja, das war das Ziel. Leider haben die Leute damals falsch gedacht.“
„In wiefern, Nancy?“
„Das Wichtigste haben sie nicht verstanden. Die viel gefährlicheren Feinde kommen nicht von außen.“
Sie zögert gewollt.
„Sondern halten sich innerhalb der Mauern auf.“
Harter Blick, kalter Tonfall. Gekonnter Umgang mit Nuancen.
Klingt fast wie eine Warnung.
Sie setzt die Tasse ab und steht unerwartet auf.
„Entschuldige, ich gehe die Hände waschen, den Paellageruch loswerden.“
*
Als ich allein bin, ertappe ich mich beim erleichterten Ausatmen. Kein gutes Zeichen.
Ich stehe auf, gehe zu den Fenstertüren. Möchte „Shushi“ hereinlassen und streicheln. Aber die Tigerkatze ist nirgendwo zu sehen. Ich lasse mich wieder in den Sessel fallen, strecke die Beine aus und schließe die Augen.
Was ist los mit Nancy? Oder mit mir? Plötzlich dieser innere Abstand. Prompt höre ich meine Intuition kichern.
Mann, Du überhörst, was sie sagt.
Stichwort Alkohol. Oder die Erklärung zur Großen Mauer.
Ganz einfach: Die Frau hat Angst, Berkamp.
Gleich mehrere Lichter gehen in mir an.
Feinde. Nicht außen; sondern innen! Der Vormittag – aus ihrer Sicht?
In mir überschlagen sich Fragen und Antworten. Das äußere Geschehen kann sie nachvollziehen. Aber die Gründe dahinter? Nancy Wong befindet sich in einer ganz anderen Lage als ich.
Ich stolpere zufällig in das Geschehen – und weiß es.
Woher soll sie das wissen?
Also gut; angenommen sie misstraut mir. Weshalb?
Natürlich kommen mir Detective Contreras’ Hinweise in den Sinn. Für eine kluge Nancy steckt in dem Geschehen reichlich Futter für Zweifel und Besorgnis.
Ein harmloser Spaziergänger? Selbst wenn sie mir glaubt, was gewinnt sie damit? Wenn die Gründe für den Angriff auf ihre Familie fortbestehen?! Ich dagegen habe – bis auf die hoffentlich baldige Täteridentifizierung – mit der Sache nichts mehr zu tun.
Sie muss weiter in Angst leben. Soll sie mir das gestehen? Dann müsste sie Gründe dafür nennen. Erklären, wieso ihre Familie ein lohnendes Angriffziel ist. Mir, einer fremden Zufallsbegegnung?!
Noch ein Punkt, der mich ins Zwielicht rückt: Komme ich nach dem Gespräch bei der Polizei immer noch als ahnungslosen Retter daher? Wohl kaum. Befürchtet sie, dass ich der Polizei gleich morgen vom jetzigen Treffen berichte?
Die Polizei misstraut ihr. Und sie weiß es, ziemlich sicher.
Weges ihres Vaters? Oder aus anderen Gründen? Und sie misstraut der Polizei. Wird wohl so sein. Angst ... vor mir? Wie gefällt dir folgender Gedanke? Sie fürchtet, dass ich Gegenleistungen von ihr verlange? Unverschämt werde?
Ich erschrecke ein wenig. Ich mag viel und viel Falsches denken.
Etwas von ihr fordern werde ich ganz sicher nicht!
Vor zusätzlichen Ängsten will ich sie bewahren.
Falls ich kann.
Wie sieht für sie die Welt aus?
Denkt sie zwangsläufig bei jedem ungewöhnlichen Vorkommnis: Vater, kriminelle Geschäfte, Tochter, Polizei ? Oder nimmt sie es hin als festen Teil ihres Lebens. Was, wenn es gar nicht um die Geschäfte ihres Vaters geht? Sondern um Rache. Für ein Gewaltverbrechen, das jemand dem Alten anlastet. Wer eignet sich besser als Ziel gnadenloser Vergeltung als die unschuldigen Enkelkinder? Familiengeschichte als unentrinnbare, strafwürdige Nebenwirkung?!
Vielleicht denke ich schon wieder falsch.
Womit verdient Nancy ihr Geld? Wie ist sie als Geschäftsfrau? Chinesisch, beinhart, reich an Feinden? Ich könnte ein unfreundlicher Wirtschaftsspion sein. Oder ein verdeckter Steuerfahnder.
Mit dem Händewaschen lässt die Dame sich Zeit. Oder sie telefoniert, bittet Nachbarn oder Freunde um Hilfe.
Mein Kopf braucht nur Sekunden für den Wirbelsturm an Gedanken.
Die Mehrzahl der Entführungsfälle erweist sich als Beziehungstat im familiären Umfeld. Bestimmt gehört das zu Nancys Allgemeinwissen. Hinter jeder Kindesentführung vermutet die Polizei zunächst die Eltern als Täter. Bombensichere Alibis wecken ihr erhöhtes Misstrauen. Zumal, wenn es in der Familie etwas zu holen gibt.
Ein Lösegeld von zwei oder drei Millionen Dollar? Ihr alter Herr wird es verschmerzen. Oder steht eine Scheidung bevor? Gibt es Streit um Vermögen und das Sorgerecht für die Kinder?
Am Ende steckt Nancy selbst dahinter.
Nur für kurze Zeit allein, und es geht wild zu in meinem Kopf.
Die Höflichkeit gebietet, mir eine Geste der Dankbarkeit zu erweisen. Lädt Nancy mich nicht ein, wirkt das merkwürdig, geradezu verdächtig.
Obendrein ist es ein einfacher Weg, mich auszuhorchen.
Oh Mann, wo bin ich hineingeraten?
Na, möchtest Du mit ihr tauschen?
Unsinnige Frage. Sie ist sie, und ich bin ich.
Also – sie hat Angst, misstraut mir. Weshalb auch immer. Und nun?
Die Zeit für Fragen ist vorbei, Du Held. Tu etwas. Sei ehrlich zu ihr, gewinne ihr Vertrauen.