Читать книгу Die Chinesische Mauer - Günter Billy Hollenbach - Страница 5

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„Hey, Leute, es ist fünf Minuten vor acht. Auf, ihr Langschläfer! Zeit für ein gutes Frühstück. Es verspricht ein schöner Tag zu werden.“

Ich blinzele hinüber zu dem flachen, schwarzen Radiowecker auf dem schmalen Schreibtisch neben dem Bett. Tja, wenn du es sagst.

Ich habe wunderbar geschlafen und wild geträumt.

„Bis in den Abend hinein erwarten wir viel Sonne über der Bucht mit Temperaturen an die siebzig Grad über der Innenstadt. Also, macht euch auf, und los geht’s mit der nächsten halben Stunde, wie immer beste Musik auf eurem Sender ,Nintysixpointfive – KOIT’“.

Sogleich ertönt Kelly Clarksons Hit „Break Away“. Ich schließe die Augen, stöhne behaglich, und meiner Seele wachsen Flügel. Beinahe siebzig Grad Fahrenheit, also gut zwanzig Grad in Celsius-Temperatur. Was kann schief gehen an einem Tag, der so freundlich beginnt?!

Obwohl ich gewarnt bin.

Gestern, Montag, kurz nach Mittag war ich, aus Santa Fe kommend, hier eingetroffen. Mein Hotel bietet kein Frühstück an. Das kommt – mit Besteck, Teepott, Tauchsieder und Müslischüssel aus Edelstahl im Koffer – meinem Wunsch nach gesundheitsbewusster Ernährung entgegen. Kaum hatte ich mein Gepäck im Hotelzimmer abgestellt, war ich Lebensmittel einkaufen gegangen, stets die erste Aufgabe nach der Ankunft.

Hier ein Auto zu mieten ist wenig sinnvoll. Es gibt ein dichtes Netz unterschiedlicher öffentlicher Verkehrsmittel; Busse, Straßen- und U-Bahnen bei niedrigen Fahrpreisen. Einen Autoparkplatz am Straßenrand in der Nähe zu finden ist seltene Glücksache, und die Gebühren in den privaten Parkhäusern sind abschreckend hoch. Vor allem laufe ich gern selbst weite Strecken.

Am späteren Nachmittag habe ich der „East West Academy of Healing Arts“ kurz telefonisch meine Ankunft mitgeteilt. Dort bin ich als einer von drei Dozenten für einen sechstägigen Workshop „Energiearbeit und Schamanismus“ eingeplant, der am kommenden Montag beginnt. Bis dahin mache ich ein paar Tage Urlaub, bereite meine Kurzvorträge und Übungen vor. Meine Art zu arbeiten, wenn ich in San Francisco bin: Anregende Kopfarbeit, gemischt mit ausgiebigen Spaziergängen und mäßigem Krafttraining in einem der zahlreichen Fitnesszentren.

Wie immer am Ende meiner Meditation zum Tagesausklang habe ich meine Intuition gestern Abend um einen Ausblick auf den kommenden Tag gebeten.

Ihre Antwort fiel bemerkenswert aus.

Schlagartig empfand ich ein starkes Unbehagen, dumpf und grau. Im nächsten Moment tauchte dicht vor mir ein fratzenhaftes Gesicht auf, das in blauen und roten Lichtblitzen eines Polizeiwagens verschwand. Die Bilder erschienen – wie in einem Nebelschleier – sehr kurz, aber deutlich, schräg vor meiner Stirn. Ich weiß, das klingt verrückt, ist für mich aber seit Jahren ebenso normal wie Schuhbänder schnüren. Noch bemerkenswerter war das unbehagliche Gefühl dumpfer Beklemmung minutenlang über meiner Herzgegend.

Natürlich habe ich meine Intuition gefragt, ob ihre Antwort eine ernste Gefahr für mich ankündigt. Dies verneinte sie.

Doch der Nachklang von Unbehagen blieb. Okay, Vorsicht ist angesagt. Ich versprach meiner Intuition und mir selbst, am nächsten Tag besonders achtsam zu sein, vor allem in Straßenverkehr. Vielleicht hätte ich, wenn ich länger in der Meditation geblieben wäre, zusätzliche Voraussignale erkennen können. Aber meine Gedanken waren immer wieder abgeschweift. Wohl auch wegen der Müdigkeit, die mit den drei Stunden Zeitverschiebung von New Mexico nach Kalifornien einhergeht.

*

„Der Mensch ist ein Gewohnheitstier,“ pflegte Oma Anna zu sagen, in deren Haushalt im nordhessischen Witzenhausen ich meine überwiegend glückliche Kindheit verbrachte.

Wirklich erklären kann ich nicht, warum ich regelmäßig zwei- oder dreimal im Jahr für mindestens zehn Tage nach San Francisco reise. Trotz des oft unangenehm kühlen, windigen Wetters mit Nebelschwaden, die in unschöner Regelmäßigkeit vom Pazifik her über die Stadt ziehen. Meine seit frühester Kindheit anhaltende Faszination für das amerikanische Englisch dürfte ein Grund sein. Hier lebe, denke und träume ich in der Sprache und fühle mich stets beinahe wie ein andere Person. Dass ich wiederholt an Workshops zu Themen wie Kommunikation oder Spirituelle Energiearbeit teilgenommen habe, mag auch eine Rolle spielen. Als aufrichtigste Entschuldigung kann ich nur vorbringen: Ich fühle mich einfach wohl in der Stadt.

Indianische Stämme, die hier vor den Mexikanern lebten, waren davon überzeugt, dass der Ort über besondere Kräfte, heilende Energiefelder verfügt. Da kann etwas dran sein, denn unter der Stadt verläuft die Berührungslinie zweier Kontinentalplatten. Die ist stellenweise durchlässiger für erdmagnetische Schwingungen, bringt dummerweise aber eine hohe Erdbebengefahr mit sich.

Amerikanische Touristen mit ihren höchsten zwei Wochen Jahresurlaub kommen selten länger als zwei Tage nach San Francisco. In der Zeit wollen sie möglichst viel von der Stadt „mitnehmen“. Mit handy-gelenktem Tunnelblick stürmen sie von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Treten sich gegenseitig in den Einkaufs- und Vergnügungsstätten, die man unbedingt gesehen haben muss, auf die Füße. Grant-Avenue in China-Town, Fisherman’s Warf mit Pier 39, Union-Square und natürlich die Endstationen der lauten, teuren und urig unbequemen Cable Cars. Alles Orte, die ich tunlichst meide.

Mein Ereignishunger richtet sich auf Beschäftigungen, die viele Leute zu langweilig finden dürften, um dafür aus dem Bett zu steigen.

Manchmal verbringe ich halbe Tage in den Leseräumen der verschiedenen Universitäten im Stadtgebiet oder drüben in Berkeley. Gelegentlich erkunde ich auf gut Glück ein Stadtviertel, das ich vorher noch nicht besucht habe, betrachte die vielfältig bunten Häuser mit und ohne meist winzigen Vorgärten. Bei klarem Wetter fahre mit dem Bus westwärts in den weitläufigen, überwiegend bewaldeten Golden Gate Park oder an den Pazifik dahinter, wo sich flache, graue Sandstrände mit langen, dumpf rauschenden Ozeanwellen mischen.

*

Eine Perle San Franciscos wölbt sich hoch über dem Broadway-Tunnel. Der „Russische Hügel“. Um das Jahr 1840 wurden hier oben mehrere Seeleute der „Russland-Amerika-Gesellschaft“ begraben.

Der Weg dort hinauf gehört zu meinem persönlichen Pflichtprogramm für den ersten Vormittag. Vorbei an dem Kabel-Antriebshaus für die Cable Cars laufe ich zügig die Washington-Straße hinauf. Die steigt an einigen Stellen so steil an, dass mir nach kurzer Zeit die Waden schmerzen und ich außer Puste gerate. Das gehört für mich dazu, um wieder in der Stadt anzukommen.

Ein kurzes Stück des Oberen Broadway über dem Autotunnel ist eine stille Sackgasse, die ostwärts von einer flachen Mauer begrenzt wird. Dahinter fällt der Hügel steil ab; die Autos in der Straße darunter dürfen nur quer zur Fahrrichtung parken. Wie an kaum einer anderen Stelle bietet sich von der Mauer aus ein offener und weiter Blick auf die Bucht bis hinüber nach Oakland.

Und auf den wirtschaftlich wichtigsten Teil von San Francisco; halbrechts der Finanzbezirk mit seinen Hochhaustürmen, dahinter die Oakland-Bay-Brücke sowie die Piers der Hafenanlagen, weiter links der „Telegraph Hill“ mit dem bekannten Coit-Turm, näher im tiefer gelegenen Vordergrund „North Beach“ mit seinen italienischen Restaurants und Cafés und gleich vor dem Hügel der weite Bereich von „China-Town“. Kaum verwunderlich ist „Russian Hill“ eine der feinen und teuren Wohngegenden der Stadt geworden.

Die wahre Größe der Häuser und Villen hier oben ist auf den ersten Blick nur schwer zu erkennen, da sich viele an die steilen Hügelfelsen schmiegen und von hohen Mauern, dichten Büschen und alten Bäumen umgeben sind. Die ganze Gegend ist grün, die Luft riecht frisch, es ist angenehm ruhig.

Etwa fünfhundert Meter weiter nördlich, parallel zum Broadway, gibt es eine zweite ähnliche Sackgasse, die etwas höher gelegene obere Vallejo-Straße. Sie wird zur Innenstadt hin ebenfalls von einer flachen Mauer begrenzt, an die eine schmale, steil abfallende öffentliche Grünanlage anschließt. Auch hier verdecken links und rechts üppige Büsche und Bäume die wahrscheinlich teuren Häuser – ein Ort wie aus einer mediterranen Urlaubslandschaft, beschaulich, zum Verweilen einladend. Wenn – wie an diesem Dienstag Vormittag – die Sonne scheint, ist dies für mich der richtige Ort, um mit Muße dazusitzen und gedankenverloren auf die Stadt hinabzuschauen.

Zwischen beiden Sackgassen verläuft – mit nur vier oder fünf schmucken Häusern jeweils links und rechts – eine schmale Stichstraße, die nicht zufällig Florence heißt. An deren Ende führt eine gewinkelte und an der Außenseite von dichtem Grün umgebene, steile Steintreppe mit zwei Absätzen hinab zu der flachen Mauer am Oberen Broadway.

Die Chinesische Mauer

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