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4.1.7 Das sexuelle Paar
ОглавлениеDie Anmerkung von Riehl-Emde (2006a) am Ende des Kap. 4.1.6 weist darauf hin, dass auch langjährige stabile, zufriedenstellende Paarbeziehungen Diskontinuitäten aufweisen. Phasen intensiver Nähe wechseln sich ab mit Phasen von Distanz, die notwendig sind, um die Selbstgrenzen zu wahren und die Paarbeziehung zu schützen, insbesondere vor kollusiven projektiven Prozessen und der damit verbundenen Aggression. »In gewisser Hinsicht bedeutet eine langjährige Ehe, viele verschiedene Ehen zu führen.« (Kernberg 2014, S. 261). Dass die sexuelle Leidenschaft im Verlauf einer langjährigen Partnerschaft verschwindet, ist kein »Naturgesetz«. Es mag langjährige zufriedenstellende Partnerschaften unter Verzicht auf Sexualität geben. Und mit fortscheitendem Lebensalter reduziert sich die sexuelle Aktivität bzw. sie verlagert sich. Kernberg (1998) warnt davor, sexuelle Leidenschaft mit den ekstatischen Stimmungen der Adoleszenz gleichzusetzen.
»Sexuelle Leidenschaft tritt auch darin zutage, daß man ein subtiles, aber tiefgründiges sich selbst genügendes und selbstkritisches Bewusstsein von der eigenen Liebe zu einem anderen Menschen hat, während man sich selbst völlig darüber im Klaren ist, dass Menschen füreinander letztlich ein Geheimnis und somit getrennt voneinander bleiben, und akzeptiert, dass unerfüllte Sehnsüchte der Preis sind, wenn man sich ganz an einen geliebten Anderen bindet. Sexuelle Leidenschaft beschränkt sich nicht auf den Geschlechtsverkehr mit Orgasmus, obwohl sie sich typischer Weise darin äußert. Im Gegenteil: Sexuelle Liebe weitet sich vom intuitiven Bewußtsein, daß Geschlechtsverkehr und Orgasmus ihr befreiender, verzehrender und bestätigender letzter Zielpunkt sind, aus in die umfassende Sphäre des sexuellen Sehnens nach dem anderen, des gesteigerten erotischen Begehrens und der Wertschätzung der physischen, emotionalen und allgemeinmenschlichen Qualitäten, die der andere repräsentiert. […] In einer befriedigenden sexuellen Beziehung aber ist die sexuelle Leidenschaft eine frei verfügbare Struktur, die die Beziehung zugleich in ihren sexuellen und Objektbeziehungsaspekten wie auch in ihren ethischen und kulturellen Aspekten prägt.« (Kernberg 1995, S. 71–72)
Das Paar muss seine Leidenschaft entwickeln und schützen, sich einen abgegrenzten Raum sichern. Hierzu gehören eine »reife« postadoleszente Idealisierung, die Ambivalenzen und Konflikte erträgt, sowie die Integration von Aggression und polymorph-perverser infantiler Sexualität, wobei das Paar eine private Moral entwickeln muss, die immer in einem unaufhebbaren Widerspruch zur konventionellen (gesellschaftlichen oder Gruppen-)Moral steht. »Das heikle Gleichgewicht zwischen sexueller Freiheit, emotionaler Tiefe und einem Wertesystem, das ein reifes Funktionsniveau des Über-Ichs widerspiegelt, ist ein komplexe menschliche Leistung, die die Grundlage für eine tiefe, leidenschaftliche, konflikthafte, befriedigende und potentiell dauerhafte Beziehung schafft.« (Kernberg 1995, S. 270). »In reifen Liebesbeziehungen ist eine leidenschaftliche Liebe eine immer wiederkehrende, lustvolle Erfahrung, ein ›gut behütetes Geheimnis‹« (Hunt 1974 zitiert nach Kernberg 2014, S. 258).