Читать книгу Der Ausbrecher - Gregg Hurwitz - Страница 11
6.
ОглавлениеTim, Bear und Newlin saßen nebeneinander auf wackeligen Bürodrehstühlen in der Kontrollzentrale und beobachteten, wie sich Walker auf dem Bildschirm durch eine dicke Scheibe Hackbraten arbeitete. Auf dem Rückweg hatten sie in der Krankenstation vorbeigeguckt, wo sie mit Jamesons Zellengenossen gesprochen, ihm aber nicht viel mehr entlockt hatten als mürrische Gleichgültigkeit, die Tim ziemlich glaubwürdig vorkam. Auf der Videoaufzeichnung hatten sie bereits entdeckt, dass Walker beim Abendessen keine weiteren Kleidungsstücke unter seinem hellbraunen Hemd getragen hatte. Plötzlich trat ein hoch aufgeschossener schwarzer Häftling – ein Anführer der Black Guerilla Family, wie Newlin erläuterte – an Walkers Tisch. Sie unterhielten sich, und dann ging der Mann weg, offensichtlich nicht besonders erfreut.
Walker beugte sich über sein Tablett, während er aß, und krümmte die Schultern. Dieser Mann hatte sich angewöhnt, seine Ressourcen zu schützen. Da näherte sich der nächste Häftling und flüsterte ihm etwas eindringlich ins Ohr. Walker erstarrte. Der andere klopfte ihm fast bedauernd auf den Rücken und wandte sich wieder ab. Der sehnige Mann ging leicht vornübergebeugt mit gesenktem Kopf davon, wobei seine Augen aber in alle Richtungen zuckten – er war äußerst wachsam.
Eine ganze Weile blieb Walker wie vom Donner gerührt sitzen. Dann stand er langsam auf und schritt zum Ausgang.
»Wer war der Flüsterer?«, wollte Tim wissen.
»Tommy LaRue. Er ist der Ansprechpartner für alle Gefangenen, die irgendetwas brauchen. Ab und zu nehmen wir ihn uns vor und schauen nach, was er so hat. Pornos, Gras, Geheimnummern von Ex-Freundinnen der Häftlinge. Sie würden staunen. Ich habe sogar mal ein Stück Brie-Käse bei ihm gefunden, kein Scheiß. Er wird von allen respektiert. Netter, höflicher Typ.«
»Weswegen sitzt er?«, erkundigte sich Bear.
»Zweifacher Mord.«
Sie ließen die Aufnahme noch einmal ganz langsam durchlaufen. LaRue hatte seine gekrümmte Hand an Walkers Ohr gelegt, deswegen konnten sie sich nicht aufs Lippenlesen verlegen. Er hatte jedoch maximal Zeit für ein paar Worte.
»Schauen wir uns doch mal an, wo er hergekommen ist. LaRue, meine ich.« Tim zeigte auf die Seitentür, durch die der Mann in den Speisesaal getreten war.
Quälend lange zwanzig Minuten vergingen, während die anderen Wachmänner Newlin widerwillig beim Durchsuchen der archivierten Aufnahmen halfen, bis sie die richtigen Ausschnitte gefunden hatten. Langsam, aber sicher setzten Tim und Bear LaRues Reise von hinten nach vorne zusammen. Die Kamera im Flur hatte ihn im Vorübergehen aufgenommen. Eine andere Kamera im Durchgang zwischen den beiden Gebäuden hatte aufgezeichnet, wie er hastig vom Hof hereingelaufen war. Eine Weitwinkelkamera auf dem Dach des C-Blocks zeigte ihn, wie er als kleiner Punkt unter anderen Punkten auf die Tür des B-Blocks zustrebte. Und schließlich zeigte die letzte Aufnahme, wo er ursprünglich hergekommen war: vom Telefon an der Wand im Erdgeschoss.
Während des Telefonats, das weniger als zehn Sekunden dauerte, drehte LaRue der Kamera den Rücken zu, so dass man auch die Nummer nicht erkennen konnte, die er gewählt hatte. Nachdem er erst ziemlich unbekümmert ins Gebäude geschlendert war, ging er nach dem Gespräch sehr zielstrebig davon.
Irgendetwas, was er gehört hatte, hatte ihm anscheinend Beine gemacht.
Tim und Bear mussten eine Weile warten, bis sie grünes Licht bekamen, das Gebäude zu betreten, in dem LaRue die nächsten Nächte in einer Einzelzelle verbringen würde. Während der Zellendurchsuchungen nach dem Ausbruch hatte ein Wachmann eine Phiole Heroin in seinem Kopfkissen gefunden.
Frank Zarotta, der Wachhabende des Nordhofs, zeigte Haltung und Temperament einer Bulldogge, eine Ähnlichkeit, die nicht unwesentlich dadurch verstärkt wurde, dass er permanent an einer Minisalami nagte. Er musterte Tim mit großen dunklen Augen, als wüsste er um irgendein schmutziges Geheimnis.
Zarottas Funkgerät knatterte. Er drückte es sich ans Ohr, dann gab es einen Summton, und die Tür ging mit einem Klicken auf. Er winkte Tim und Bear mit seinen Wurstfingern durch. Sie betraten die Falle, eine zweieinhalb mal dreieinhalb Meter große Zelle. Durch ein großes Fenster in einem Metallkäfig auf der rechten Seite blickten zwei Wachmänner einer Spezialeinheit von ihrem Kartenspiel auf und erwiderten Zarottas Nicken. Einer von ihnen langte unter den Tisch, woraufhin die Innentür aufsprang.
Zarotta führte Tim und Bear weiter nach links und in einen Betonkorridor, auf den beiderseits Zellentüren mündeten. »So, Sie denken bitte dran«, ermahnte er, »keine Schläge auf den Kopf. Wenn er sich dabei nämlich einen Zahn in die Lippe bohrt oder ihm das Hirn einblutet, bekommen wir Ärger. Zielen Sie bitte nach weiter unten, auf die Schienbeine oder von mir aus auf die kurzen Rippen.« Er schwieg, lehnte den Oberkörper leicht zurück und breitete die Arme zu einer resignierten Geste aus. »Aber, hey, was erzähl ich Ihnen das überhaupt noch? Sie wissen ja, wie’s geht.« Seine Augen blieben an Tim hängen. »Stimmt’s, Troubleshooter?« Er wollte sich schier totlachen über seinen Witz. »War bloß Spaß, Leute. Wow, Sie hätten Ihre Gesichter sehen sollen!«
Er schloss die Stahltür auf und ließ sie ein. Die Betonzelle war mit den üblichen Einrichtungsgegenständen aus rostfreiem Stahl ausgestattet. Das Bett war fest im Zementboden verankert. Durch ein winziges Fenster an der Hinterwand, gerade mal fünfzehn mal sechzig Zentimeter groß, blickte man in die Dunkelheit hinaus wie durch einen Sehschlitz. Das Metall reflektierte das kalte blaue Neonlicht der Deckenlampen. Trotz des begrenzten Raumes sah LaRue klein aus. Er saß mit dem Rücken zur Wand und hatte die Knie an den Körper gezogen. Mit dem Fingernagel pulte er irgendetwas zwischen zwei Backenzähnen heraus.
»Die Deputy Marshals sind hier«, sagte Zarotta. »Wird langsam mal Zeit, dass du uns erzählst, was du weißt.«
»Ich bin kein Verräter. Bring diese Witzfiguren wieder raus.«
»Keine Chance, Kumpel. Und pass mal ein bisschen auf deinen Ton auf, sonst gibt’s Ärger.«
»Ich will mit einem deiner Vorgesetzten sprechen.«
»Na klar, ich sag gleich mal Condoleezza Rice Bescheid, dass sie ihren MSN Messenger aufrufen soll.« Zarotta schloss die Tür und gluckste vor Lachen, während er sich über den Flur entfernte.
»So ein Arsch«, saget Bear.
»Verstehe, verstehe«, meinte LaRue. »Wollen wohl auf Kumpel machen, was?«
»Nö«, erwiderte Tim, »den Tagesordnungspunkt überspringen wir. Sind Sie ein Freund von Walker?«
LaRue pulte jetzt so hingebungsvoll zwischen seinen Zähnen herum, dass er seinen Ellbogen auf Kopfhöhe heben musste. »Bin kein Freund von Walker. Aber stimmt schon«, hier sah man ihm doch einen gewissen Stolz an, »ich bin der Einzige hier drin, mit dem er überhaupt redet.«
Die Wachleute hatten Walkers Ausbruch noch nicht öffentlich gemacht, aber wenn es um sensationelle Neuigkeiten ging, war außer Promiklatschjägern keiner so schnell im Herausfinden und Weitertratschen von Informationen wie die Insassen eines Gefängnisses. Tim beschloss, die inoffiziell bereits bekannte Nachricht weiterzugeben, um einzuschätzen, wie gesprächsbereit Walker war.
»Er ist ausgebrochen.«
LaRues Augen blieben ungewöhnlich ungerührt. »Tatsächlich.« Er gab es auf, sich mit dem Fingernagel die Zähne zu putzen und zog stattdessen ein Stück Garn aus seiner Socke, das er eindrehte, bis es sich als Zahnseide benutzen ließ. »Walk hatte nicht mehr lang nach. Sechzehn Monate oder so, dann wäre er sowieso draußen gewesen. Warum sollte er also so was tun?«
»Wir hatten gehofft, Sie könnten uns erleuchten.«
LaRue machte eine Handbewegung, hielt plötzlich eine Zigarette in der Hand und zog sich dann ein Streichholz aus dem zerstrubbelten Haar. Er legte die Daumennägel auf den Phosphorkopf und teilte das Streichholz vorsichtig der Länge nach. Eine Hälfte riss er an einem Schneidezahn an und entzündete die Zigarette. Als er den ersten Zug inhalierte, schloss er genussvoll die Augen.
»Was wissen Sie über seine Schwester?«
»Walk hat ’ne Schwester?«
»Und seine Frau?«
»Seine Frau? Scheiße, das ist doch schon Jahre her. Ich würd ’n Löffel voll H wetten, dass die sich mittlerweile schon ’n anderen Kavalier zugelegt hat.«
»Kavalier?«, fragte Bear.
LaRue lächelte säuerlich. »Einen Mann, der deiner Frau die Zeit vertreibt, während du im Bau sitzt.«
»Hatte Walker Probleme mit Boss?«, wollte Tim wissen.
»Walker hatte mit niemandem Probleme. Nicht mal mit den Wachen.«
»Warum hat er Boss dann umgebracht?«
»Bin ich hoffnungslos überfragt.«
»Ich glaube, Sie wissen es sehr gut.«
Derselbe ausdruckslose Blick. »Tatsächlich.«
Tim trat vor LaRue und ging vor ihm in die Hocke, so dass er mit ihm auf Augenhöhe war. »Sie haben kurz vorm Abendessen jemanden angerufen. Dann konnten Sie gar nicht schnell genug in den Speisesaal wieseln, um Walker was ins Ohr zu flüstern. Sie werden uns jetzt schön sagen, was Sie herausgefunden hatten.«
Zum ersten Mal schien LaRue ein wenig aus der Ruhe zu kommen, aber er hatte sich gleich wieder unter Kontrolle, und sein Gesicht erstarrte erneut zur Maske. »Ich glaube, ich kann mich an diesen Anruf nicht besonders gut erinnern.«
»LaRue. Ich will eine Antwort.«
LaRue zuckte mit den Achseln und zeigte zwei Reihen saubere weiße Zähne. »Und, was wollen Sie tun, wenn ich nichts sage? Mich ins Gefängnis werfen?«
»Er hat vollkommen recht«, räumte Tim ein, während er durch den Gang zwischen den beiden Gebäuden schritt. »Wir können ihm überhaupt nichts. Er hat bereits lebenslänglich. Wir brauchen den Typen, den er angerufen hat.«
Bear machte ein paar eilige Schritte, um wieder auf Tim aufzuschließen. »Und wie wollen wir an den rankommen?«
Tim ging den kurzen Flur entlang und durch die Tür ins Kontrollzentrum, wo Newlin gerade einem Krapfen den Garaus machte.
»Überwachen Sie die Telefongespräche der Häftlinge?«, fragte Tim.
Newlin blickte von dem Video auf – zum x-ten Mal LaRues geflüsterte Botschaft – und wischte sich einen Fettfleck vom Kinn. »Klar.«
»Werden sie auch aufgezeichnet?«
»Nur, wenn derjenige unter besonderer Beobachtung steht. LaRues Anruf haben wir wahrscheinlich nicht aufgenommen. Über die finstere Unterwelt des Brie-Käses zerbrechen wir uns den Kopf eher selten.«
»Können wir die Nummer herausfinden, die er angerufen hat?«
»Ja, die Gefangenen müssen eine PIN eingeben, bevor sie wählen können. Sie können nur Nummern anwählen, die wir in unserer Datenbank als unbedenklich gespeichert haben. Wir müssten bloß kurz in den Aufzeichnungen nachsehen. Ich ruf die Jungs mal eben an.«
»Und sehen Sie auch gleich, ob Sie uns irgendwelche Informationen darüber beschaffen können, mit wem LaRue verbündet ist.« Tim klopfte Bear auf die Schulter. »Darauf können wir ja auch noch Guerrera ansetzen. Der kokelt wahrscheinlich schon Löcher in den Telefonhörer mit seinem patentierten Little-Havanna-Blick.«
Newlin wählte eine Nummer, und während es klingelte, sagte er: »Oh, und sie haben noch ein Update des Besucherbuches geschickt.«
Tim überflog die bereits bekannten Namen. Wachmänner und Reinigungspersonal.
Auf einmal ging sein Herzschlag schneller, denn er merkte, wie ein paar von den Daten begannen, sich – endlich! – zu einem Bild zusammenzusetzen. Es bildete sich ein vages Muster, das sich seiner Deutung aber immer noch entziehen wollte.
Newlin hatte sein Telefonat beendet und sah sich nun mit Bear noch einmal die Aufzeichnung aus dem Speisesaal an. LaRue, wie er sich in der Hüfte vorbeugte. Wie er die zu einer Muschel geformte Hand an Walkers Ohr hob. Wie sich eine Faust noch fester um eine Gabel schloss.
»Was zum Teufel kann er ihm da bloß gesagt haben?« Newlins Neugier kippte langsam in Frustration. »Ein Fluchtfahrzeug, das ihn im Hafen erwartet? Grünes Licht für den Mord an Boss?« Er kicherte. »Das Codewort für die Aktivierung seines mandschurischen Kandidaten?«
Tim ließ sich auf einen Stuhl sinken und blickte auf den J-Block-Monitor. Der Müll war mittlerweile größtenteils entsorgt, die Reinigungsmannschaften mussten nur noch den letzten Schmutz zusammenwischen. Hatte Walker seine Chance genutzt, als das große Chaos ausgebrochen war?
Tim schloss die Augen und rief sich das Bild der Zelle noch einmal ins Gedächtnis. Zwei zerschnittene Cola-Plastikflaschen. Pisse und Mundwasser. Walker, der sich seine ganzen Hemden übereinander angezogen hatte. Die eine Matratze war nicht angerührt worden, die andere fehlte. Zwei eingeschlagene Fensterscheiben. Hinter den Gitterstäben nichts als NATO-Draht, Palmen und Müllcontainer. Der Abfalleimer – Kleenex und Schraubverschlüsse. Was hatte nicht im Abfalleimer gelegen?
Tim blätterte im Besucherbuch um. Noch mehr Wachmänner. Der Baggerfahrer. John Sasso. Derselbe Hausmeister wie zuvor. Noch einmal McGraw. Reinigungspersonal.
Abrupt stand Tim auf. So schwungvoll, dass sein Stuhl nach hinten kippte und krachend auf den billigen Laminatboden fiel. Er sah Bears und Newlins verblüffte Blicke.
»Ich weiß, wie er’s angestellt hat.«