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14.

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Walker saß auf der durchgesessenen Couch und beobachtete, wie der Staub durch den Streifen Morgenlicht tanzte, der durch die hintere Schiebetür fiel. Er hatte sich vorgelehnt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Finger verschränkt. Auf dem zerkratzten Wohnzimmertisch mit der Glasscheibe lag ein Teller mit einer Blütenmischung, die nicht mehr allzu viel Wohlgeruch verströmte, ein Schlüsselbund mit einer blauen Kaninchenpfote als Anhänger und rätselhafterweise ein gebrauchtes Gerät zum Bedrucken von Klebeetiketten, an dem immer noch eine rote Geschenkschleife pappte. Ein paar ehrgeizige Pendler jaulten bereits über den Freeway, ein entferntes Geräusch, das fast nur als Vibration ins Wohnzimmer gelangte. Eine Uhr tickte. Irgendwo in der Straße bellte ein Hund. Walker hatte schon vergessen, wie die Welt klang.

»Raus aus meinem Haus oder ich knall Sie ab, verdammt!«

Ruhig blickte er sich um und sah die Frau hinter sich. Sie stand auf dem Flur und hielt mit zitternden Händen eine Waffe vor ihrem L. A.-Clippers-Nachthemd in die Höhe.

»Du hast nicht entsichert«, sagte er.

»Walker?« Dann noch einmal, diesmal verärgert: »Walker!« Kaitlin straffte die Schultern, als er aufstand, als erwartete sie eine körperliche Auseinandersetzung. Sie war in eine Jeans geschlüpft, an ihrer Hüfte sah man einen kleinen schwarzen Pager.

Einen Augenblick lang war sie völlig ratlos. Er konnte beobachten, wie sie sich mit aller Kraft zusammennahm und Entschlossenheit in ihr Gesicht zwang. Als sie weitersprach, war ihre Stimme wieder fest: »Du bist kräftiger geworden. Neue, verbesserte Version.« Sie presste die Lippen zusammen. »Und du hast aufgehört zu trinken.«

Er nickte.

»Warum?«

»Probleme mit dem Nachschub.«

Sie zeigte auf eines der windschiefen Schränkchen neben dem Fernseher. »Bitte sehr. Bedien dich.«

»Hab gerade Wichtigeres im Kopf.«

Sie musterte ihn neugierig, als wäre seit ihrer letzten Begegnung ein Jahrzehnt vergangen, dabei waren es gerade mal drei Jahre. Das Gefängnis musste ihn stärker verändert haben, als er gedacht hatte. Er hatte den Ärmel bis über den Bizeps hochgeschoben und merkte, wie ihr Blick an dem beschissenen Paisley-Tattoo hängen blieb, dann aber gnädigerweise weiterglitt.

»Du bist aber früh rausgekommen.« Das war keine Frage; sie ging immer noch sämtliche Möglichkeiten durch.

Er nickte noch einmal langsam.

»O Gott«, seufzte sie. »Das ist ja wunderbar. Noch eine Erfolgsstory von einer Wiedereingliederung in die Gesellschaft.« Sie schüttelte den Kopf und klopfte sich mit einer Hand auf den Oberschenkel. Dabei blickte sie aber woanders hin, als wüsste sie nicht recht, wo sie anfangen sollte. Der Lärm vom Freeway hatte sich mittlerweile zu einem sonoren Brummen gesteigert. »Tja, während du anderweitig beschäftigt warst, hab ich hier einen Haufen Scheiße geerbt.«

Eine leise, gekränkte Stimme aus dem Flur hinter ihr: »Ich hab dich nicht drum gebeten.«

Kaitlin drehte sich um und auf einen Schlag war aller Ärger aus ihrem Gesicht gewichen. »Schätzchen, ich hab doch nicht gemeint...«

Ein ungefähr siebenjähriger Junge spähte an Kaitlins Hüfte vorbei, um zu sehen, mit wem sie redete. Die Waffe, die sie mittlerweile hatte sinken lassen, betrachtete er mit Angst, aber auch einer gewissen Begeisterung.

Walker ließ den Kolben der Redhawk wieder los, die hinten aus seinem Hosenbund herausragte. »Was zum Teufel ist das denn?«

»Dein Neffe.«

»Oh. Ich dachte, das wäre ...« Er brachte es nicht über sich, dein Kind zu sagen. Auf keinen Fall wollte er zugeben, dass er überlegt hatte, ob sie einen neuen Freund hatte, ob es vielleicht Stiefkinder gab.

»Das ist er jetzt auch.«

Der Junge trat hinter Kaitlin hervor, verängstigt, aber trotzig, ein Terrier, der sein Revier gegen einen Rottweiler verteidigt. Anorektische Ärmchen ragten aus den Ärmelausschnitten seines »Dragon Ball Z«-T-Shirts. Eine Hose mit Tarnmuster beulte sich um seine Beine. Die dicken Gläser seiner Brille verstärkten noch die gelbliche Färbung, die das Weiß seiner Augen überzog.

Walker suchte nach dem Namen. »Sam.«

»Mein Onkel ist bei den Marines, merk dir das. Der hat schon Terroristen umgebracht.«

Kaitlin beugte sich zu dem Kind herunter und flüsterte ihm etwas zu, wobei ihr das feine braune Haar seitlich übers Gesicht fiel. Sam schluckte einmal, als müsste er etwas Großes hinunterwürgen. Erst starrte er Walker nur an, dann trat er einen Schritt zurück, dann noch einen, und schließlich rannte er durch den Flur davon. Eine Tür schlug zu.

Kaitlin schob sich mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht und stieß einen Seufzer aus, der erahnen ließ, dass dieser Auftritt nur ein kleiner Ausschnitt aus einer rasenden Talfahrt war.

»Warum ist er denn bei dir?«

»Ach weißt du, irgendwie haben die sich geweigert, ein Etagenbett in Terminal Island einzurichten.«

»Jede Zelle hat dieselbe Ausstattung.«

»Tja, wenn wir das gewusst hätten.« Sie stützte sich mit den Schultern gegen die Wand und achtete darauf, dass weiterhin genügend Abstand zwischen ihr und Walker blieb. »Du wusstest doch, dass sie einen Sohn hatte. Wahrscheinlich hast du dich nie gefragt, was aus ihm geworden ist, oder?«

»Ich bin davon ausgegangen, dass sich jemand darum kümmern wird.«

»Genau. Ich kümmere mich darum.«

Kaitlin war sechsunddreißig, also fünf Jahre älter als Walker, nur zwei Jahre jünger als Tess. Während ihrer Ehe war das Verhältnis zwischen seiner Frau und seiner Schwester eher lau geblieben. Zwei Frauen, die starke Gefühle für denselben Mann hegten und weder genug Jahre noch genug Kilometer auseinander waren. Es fiel ihm schwer, seine Erinnerungen mit dem zu vereinbaren, was er hier in Tess’ Haus vorgefunden hatte.

»Deswegen wohnst du also hier«, sagte er.

»Beständigkeit in Sammys Leben. Und mehr Platz. In Pear-blossom hatte ich nur eine schäbige Einzimmerwohnung. Du erinnerst dich vielleicht.«

Walker nickte Richtung Flur. »Was hat er denn?«

»Seine Leber stellt langsam ihre Funktion ein. Er braucht ein Transplantat. Ja, wir haben hier wirklich Spaß ohne Ende, Walk. Dazu kommt, dass wir in der größten Spenderregion leben, das heißt, wir haben hier auch die längste Warteliste. Und er hat Blutgruppe null, schlimmer könnte es kaum sein. Wenn jemand mit Blutgruppe null stirbt, kann seine Leber an einen Empfänger mit Blutgruppe null, A, B oder AB gehen – so ziemlich an jeden. Aber er selbst darf nur ein Transplantat von jemand mit Blutgruppe null bekommen. Willst du mal raten, wie viele vor uns auf der Liste stehen?«

»Wusste Tess darüber Bescheid?«

Kaitlin lachte, aber ihre Augen blieben kalt. »Du bist echt der Hammer. Natürlich wusste sie das. Was meinst du eigentlich, womit sie sich die letzten zwei Jahre rumgeschlagen hat?«

Er trat einen Schritt zurück und setzte sich auf die Sofalehne. »Eine Weile gab es in Region eins – Maine und so – eine kürzere Liste, aber sie hatte nicht genug Geld für den Umzug und die Wohnung«, erklärte Kaitlin. »Sobald sie dreitausend Dollar zusammengekratzt hatte, um die Flüge und eine Wohnung dort zu bezahlen, war die Liste schon wieder so lang, dass es zwecklos geworden war.«

»Sie hatte nicht genug Geld für den Umzug?«

»Ach, jetzt wo du’s sagst – komisch eigentlich, bei all dem Geld, das du aus dem Gefängnis nach Hause geschickt hast, um ihr zu helfen, oder? Ich glaube, wir wissen beide, dass die große Kohle nicht hier zu Hause war.« Sie musterte ihn und wartete offensichtlich auf eine Reaktion, aber er war zu müde, um nach dem Köder zu schnappen. »Sie hatte noch ein bisschen Geld von der Scheidung, aber was damit passiert ist, weiß ich nicht. Du kennst ja Tess – sie konnte nicht so super mit Geld umgehen. Bis das mit Sammy anfing.«

»Warum?«

»Keine Ahnung, Walk, aber vielleicht ist es einfach eine gute Motivation zu wissen, dass dein Kind stirbt, wenn du deine Kröten nicht zusammenhältst. Sie hatte zwei Jobs und ist abends noch zur Schule gegangen, um ein Buchhaltungsdiplom zu machen. Manchmal hab ich ausgeholfen und auf Sammy aufgepasst. Hier eine Stunde, da vielleicht mal ein Kinobesuch. Das war vor zwei Jahren, kurz nachdem sie dich verurteilt hatten.«

»Das hat sie mir nie erzählt.«

»Hat es dich interessiert?« Feindselig musterte sie sein ausdrucksloses Gesicht. »Du hast ihn ja nicht mal wiedererkannt, verdammt noch mal!«

»Ich war drei Jahre weg.«

»Und was war in der Zeit davor?«

»Ich war an der Front. Gab ein paar Kriege in der Zwischenzeit.«

»Und davor?«

»Du weißt ganz genau, was davor war. Du warst schließlich dabei. Tess lebte mit diesem Flachwichser in Simi Valley zusammen. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass du dauernd bei ihr auf der Matte gestanden wärst.«

Kaitlin behielt ihre kampflustige – traurige und kampflustige – Haltung bei, aber jetzt war sie um die prompte Retourkutsche doch verlegen. Er deutete ihr plötzliches Schweigen dahingehend, dass ihr aufgegangen war, wie unverhältnismäßig ihr Verhalten war. Als sie weitersprach, war ihre Stimme sanfter geworden. »Wir haben es mit dieser Biotechnologie-Firma versucht. Gentherapie und so. Sie haben Sammy sogar für einen ihrer Werbespots genommen.«

»Der neue Kühlschrank.«

»Was? Ach so, ja genau. Von der Bezahlung für den Spot konnten sie sich den kaufen und ein paar von Sammys Arztrechnungen begleichen. Von Tess’ Gehaltsscheck ließ sich nämlich nur so gerade eben leben. Wir schwimmen hier auch nicht im Geld, aber wir haben wenigstens immer zu essen. Und wenn wir unsere Schecks immer richtig timen, kriegen wir auch keine Inkasso-Gesellschaften auf den Hals.«

»Erinnert mich an meine Kindheit.«

»Erinnert mich an unsere Gegenwart.« Sie rieb sich die Augen. »Diese verdammten Krankenversicherungen saugen dir den letzten Blutstropfen aus. Als Tess Sammy auf die Versuchsliste für diese Gengeschichte setzen lassen konnte, war das wie ein Sechser im Lotto. Es war ja auch noch kostenlos. Er sollte demnächst an die Reihe kommen – in ein, zwei Wochen wird das Medikament zum Test freigegeben. Aber es haben sich zu viele für diese Studie angemeldet, also haben sie ihn wieder rausgenommen. Einfach so.« Sie machte einen Schlenker mit der Hand, und er hörte es knacken. »Das könnte ihn sein Leben ...« Sie gab ein Geräusch von sich, als hätte sie Schluckauf, und Walker begriff, dass sie beinahe losgeschluchzt hätte. Sie drückte die Hand auf den Mund, und er gab ihr eine Minute, bis ihre Wangen nicht mehr zitterten. »Ich schätze, Tess hat es einfach nicht mehr ertragen.«

»Tess konnte eine Menge ertragen.«

Kaitlin fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Ich bin nicht sicher, ob ich es kann.« Es war nicht klar, ob sie sich Trost wünschte, und noch unklarer, ob er sich noch erinnerte, wie man das macht.

Verlegenes Schweigen. Schließlich lachte sie auf, als hätte sie sich plötzlich an etwas Lustiges erinnert, blickte auf ihren Pager und schlug einen gespielt optimistischen Ton an: »Also doch die Spenderleber. Wir warten. Und beten.«

»Beten hat mir nie viel geholfen.«

»Ist so ungefähr das Einzige, was uns noch bleibt. Ich will bloß nicht, dass er Angst kriegt. Alles andere kann ich aushalten, glaub ich. Aber nicht, dass er Angst bekommt. Diese ganzen Ärzte immer. Die Nadeln. Nach jedem Besuch kauf ich ihm ein kleines Geschenk.«

Walker blickte auf das Geschenk auf dem Wohnzimmertisch. Gebraucht, aber neu verpackt. Die rote Schleife zeigte Spuren von der häufigen Wiederverwendung. »Du hast dem Kleinen einen Etikettierapparat gekauft?«

»Den hat er sich gewünscht. Ich weiß auch nicht, wieso. Gab’s für acht Dollar bei eBay.«

»Hatte Tess sonst irgendwelche Probleme?«

»Ich sehe schon, meine Konversation interessiert dich nicht mehr.«

»Einen neuen Typen, irgendwas in der Richtung?«

»Ich weiß nicht. So nah standen wir uns auch wieder nicht.«

»Warum ziehst du dann ihr Kind auf?«

»Deinen Neffen, meinst du?« Sie wartete, offensichtlich verärgert über sein Schweigen. »Weil ich nicht besonders gut hart sein kann. Außerdem muss ich mich immer zwanghaft um Leute kümmern, damit ich hinterher drüber jammern kann.«

»Hatte sie Kontakt zu ihrem Ex?«

»Erzähl du’s mir. Sie war deine Schwester.«

»Nachdem ich zum zweiten Mal in den Knast gewandert war, hat sie nicht mehr mit mir gesprochen.«

An Kaitlins Miene sah er, dass Tess ihr das nicht anvertraut hatte, und er sah auch, dass Kaitlin sehr wohl wusste, was das für ihn bedeutet haben musste. Die mitleidigen Falten über ihren Augenbrauen hielten aber nicht lange an, sondern wurden von einem wütenden Stirnrunzeln abgelöst: »Kluges Mädchen.«

»Allerdings.«

»Ihr Ex ist in Lompoc, seit vier Jahren mittlerweile. Kleine Unterschlagungen oder so was. Ich glaube, seit Sammy ein Baby war, haben sie keinen Kontakt mehr gehabt.«

»Ist meine Mutter gestorben?«

»Was? Nein, sie ist im Altenheim in Valley Glen.«

»Und mein Vater? Wo ist der?«

»Das ist derjenige, der hätte sterben sollen.«

»Oh. Du kannst ja doch hart sein.«

Ihre Mundwinkel verzogen sich leicht, doch statt zu lächeln, fragte sie nur: »Hast du eine Unterkunft?«

»Nein.«

»Geld?«

»Nein.«

»Irgendetwas?« Als sie seinen verlegenen Blick sah, ging sie in die Küche und kam mit einer Kaffeedose zurück. Sie machte den Deckel ab und fischte ein Bündel Dollarnoten hervor, aber er hob abwehrend die Hand. »Na los«, meinte sie schroff. »Das ist für Notfälle gedacht. Und das hier ist ja wohl einer.«

»Behalt es für dich und den Kleinen.«

»Danke, aber wir haben bis jetzt auch überlebt, ohne dass du dich um uns gekümmert hättest. Außerdem bekomm ich in ein paar Stunden meinen Lohn. Was hast du als Nächstes vor?« Sie hielt ihm die Scheine weiter vor seine reglose Hand, bis die Szene anfing, kindisch auszusehen. »Jetzt nimm’s schon, verdammt noch mal! Die vierzig Dollar. Kauf dir was zu essen und geh duschen.«

Widerwillig steckte er das Geld ein.

Sie musterte ihn mit ihren harten, grauen Augen. »Was hast du eigentlich vor, Walk? Was machst du hier?«

»Unerledigte Geschäfte.«

»Wessen Geschäfte?«

»Tess’.«

»Tess hat ihre Geschäfte selbst erledigt.«

Er blickte zu Boden und kaute auf seiner Unterlippe herum.

Sie schien zu verstehen, was er nicht aussprach. »Und, wie wird das aussehen? Ehrst du ihre Erinnerung, indem du aus dem Gefängnis ausbrichst und ein paar Köpfe rollen lässt?«

»So was in der Richtung.«

»Wessen Köpfe?«

Keine Antwort.

»Warum ehrst du deine Schwester nicht so, wie es ihr gefallen hätte?«

Ein Hauch von Gereiztheit schlich sich in seine Stimme: »Du kennst Tess nicht. Du warst nicht dabei. Du warst nicht dabei, als wir im B...«

»Im Buick. Genau. Der Winter, als ihr zwei in einem Auto in der Nähe vom Griffith Park gelebt habt. Komm mal langsam drüber weg, Walk. Ist deine Schwester nämlich auch. Sie hat sich zusammengerissen. Und wofür? Um dir bessere Chancen zu verschaffen.«

»Ich hab sie ergriffen. Hat toll funktioniert. Ich hab den Krieg für Dick Cheney gekämpft.«

»Oh – man hat dich also nicht fair behandelt? Soll ich dir mal was verraten? Du hast kein Recht auf eine faire Behandlung. Leute wie wir werden nicht fair behandelt. Du nicht, Tess nicht, ich nicht und Sammy schon gar nicht. Und dagegen kannst du nicht das Geringste tun.«

»Oh«, erwiderte Walker, »da fällt mir schon was sein.«

»Hab ich’s mir doch gleich gedacht – dir geht es überhaupt nicht um T...« Plötzlich klingelte das Telefon, und Kaitlin brach mitten im Satz ab, eilte in die Küche und sah auf das Nummerndisplay. »Verdammt. Das ist Sammys Versicherung. Die rufen immer zu solchen unchristlichen Zeiten an, damit sie mir ihre Nachrichten auf den Anrufbeantworter sprechen können. Ich muss da rangehen.«

Walker deutete in den dunklen Flur, auf die geschlossene Tür gegenüber dem umfunktionierten Wohnzimmer, in dem Kaitlin schlief. »Ist sie da drin gestorben?«

Kaitlin nickte. »Bleib, wo du bist.« Klingeln. »Ich hab noch nicht entschieden, ob ich dich abknallen soll oder nicht.« Sie nahm den Hörer ab, und er konnte ihren nervös höflichen Ton hören, als er auf den Flur trat. Er kam an einer Tür vorbei, aus der die übertriebenen Soundeffekte eines Videospiel-Blutbads drangen, dann blieb er vor Tess’ Zimmer stehen. Wo das selbstklebende Absperrband der Kriminaltechniker die Farbe vom Türrahmen gelöst hatte, sah man das Holz durchschimmern. Walker drückte die Klinke herunter und sammelte sich eine Sekunde.

Die Gerüche trafen ihn jäh und heftig. Die Vorhänge waren vorgezogen, und nach den vielen Sonnentagen war die Luft in dem geschlossenen Raum abgestanden und stickig. Bleiche. Reinigungsmittel. Und unter der ganzen Chemie hing immer noch dieser tröstliche Duft von Jean Naté, der ihn direkt in seine Kindheit zurückkatapultierte. Die gelbe Flasche mit ihrem seltsamen kursiven Schriftzug stand auf dem Schreibtisch. Er öffnete den Flakon und schnupperte. Genau dieser Duft hatte damals in ihrem Buick immer den verblichenen Geruch des brüchigen braunen Veloursrücksitzes überlagert, auf dem er als Achtjähriger zwei Monate lang geschlafen hatte. Und sich an Tess gekuschelt hatte, um nicht so zu frieren. Genau dieser Duft hatte in ihrem Schleier gehangen, als er sie bei ihrer verunglückten Hochzeit im gemieteten Hinterzimmer des Olive Garden geküsst und sich verzweifelt bemüht hatte, etwas Sinnvolles zu sagen. Was hätte er schon sagen können? Nach allem, was Tess für ihn riskiert hatte? Als ihre Mutter in ihre soundsovielte nicht ernst gemeinte Entziehungskur verschwunden war und ihr bereits entfremdeter Vater im Knast saß, hatte die fünfzehnjährige Tess den Kofferraum des Buick mit Crackers, Erdnussbutter, billigen Dosensuppen, Sechserpackungen Diätlimo, Kleidung und einer Taschenlampe beladen und war mit Walker abgehauen, damit sie dem Zugriff der Sozialarbeiter entgingen. Mit Erfolg. Siebenundfünfzig Nächte später, als sie wie jede Woche am Haus ihrer Mutter vorbeifuhren, hatten sie das Licht in der Küche gesehen – Tess war so erleichtert gewesen, dass Walker sie zum ersten und letzten Mal in seinem Leben hatte schluchzen sehen. Was hätte er Jahre später zu seiner Schwester sagen sollen, bei schlechtem Rotwein und einer leiernden Version von »That’s Amore?« Danke schön?

Unter dem Parfüm lag wie ein Untersetzer ein Wochenkalender mit Spiralbindung, in der richtigen Größe für eine Damenbrieftasche. Ein Bild von Tess in einem Benihana-Rahmen aus Papier hing unter dem Spiegel über dem Schreibtisch. Walker steckte beides in seine Tasche. Auf dem restlichen falschen Walnussfurnier und auf den Bücherregalen rundum stapelten sich Ordner, die kopierte Artikel aus medizinischen Fachzeitschriften, Berichte und Zeitungsartikel enthielten. Er nahm an, dass es darin um Sams Gesundheitszustand ging. Ein paar Videos mit professionell wirkenden VECTOR-Aufklebern auf dem Rücken weckten seine Aufmerksamkeit. Derselbe Name und das Logo tauchten nämlich auch auf diversen Broschüren und Berichten auf. Er kombinierte, dass Vector Biogenics wohl die Biotechnologie-Firma war, die Kaitlin erwähnt hatte. Eines der Vector-Videos trug einen Aufkleber mit einer kindlichen Handschrift: Mein Nachrichtenbeitrag. Ein laminierter Besucherausweis für den »Vector Campus« baumelte von einem Schlüsselbund, den Tess an den Griff ihrer Schranktür gehängt hatte.

Walker wappnete sich innerlich, bevor er sich umdrehte und das Bett betrachtete, das er beim Betreten des Raums nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte. Vor dem Fußende hob sich der gebleichte Fleck vom rostfarbenen Teppich ab. Die Fasern standen hoch wie kleine Maden. Der Bettüberwurf fehlte, wahrscheinlich hatte man ihn entsorgt. Jetzt lag nur noch eine ordentlich zurückgeschlagene gelbe Überdecke auf der zerschlissenen Bettdecke. Das Spezialreinigungsteam hatte die Wand über dem Kopfende eifrig geschrubbt, so dass die Farbe abgegangen und ein ungleichmäßiger Fleck entstanden war.

Über den Flur hörte man Kaitlins Stimme: »Ich weiß, Sir, aber ich dachte, dass der Eigenbeitrag für die Notaufnahme auch mit dem Notfall-Selbstbehalt verrechnet wird.«

Walker ging zum Bett und setzte sich dort hin, wo seine Schwester in ihren letzten Momenten gesessen haben musste: Mit dem Rücken zum Kopfende und den Füßen in der Mitte des weißen Flecks am Boden. Er versuchte, ihre Stellung zu rekonstruieren – ihren Kopf musste sie leicht zur Seite gewandt haben. Trockene Schluchzer ließen seinen Körper beben, aber es kamen keine Tränen, als er sich zusammenkrümmte, die Schultern hochzog und sein Magen sich zusammen-krampfte. Seine Handflächen waren schweißnass. Schließlich biss er die Zähne zusammen und richtete sich wieder auf.

Die Tür glitt mit einem leisen Geräusch über den Teppich, als sie von außen ein paar Zentimeter aufgeschoben wurde. Sams erschrockener Blick glitt durchs Zimmer – er konnte nicht anders –, dann fiel ihm der drahtlose Joystick aus der Hand, und er zog sich leise von der Schwelle zurück.

Walker ging ihm nach und fand ihn neben der Tür, wo er sich an die Wand gelehnt hatte und schwer atmete.

»Sie hat Nona besucht«, erzählte Sam, sobald er wieder zu Atem gekommen war. »Ich hab gehört, wie du danach gefragt hast.«

»Ihre Mutter? Deine Großmutter?«

»Ja.«

»Wie oft?«

»Einmal pro Woche. Ich bin meistens mitgegangen.«

Walker ging weiter zum Wohnzimmer. Kaitlins Stimme hatte mittlerweile einen verzweifelten Ton angenommen, während sie in der winzigen Küche auf und ab lief. Sie bemerkte gar nicht, wie Walker an der Türöffnung vorbeihuschte. Als er fast schon an der Glasschiebetür war, blieb er stehen und ging noch einmal zurück. Sam hatte die Tür zu Tess’ Zimmer geschlossen und stand davor, ohne die Klinke loszulassen.

»Kannst du den Mund halten?«

»Klaro.«

»Gut. Wenn nicht, kostet es mich nämlich das Leben. Völlig im Ernst. Also: Du kennst mich nicht. Du hast mich niemals gesehen. Kapito?«

Sams Lippen zitterten, dann stürmte er in sein Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Diesmal starrte Kaitlin Walker hinterher, als er vorbeiging. Er trat durch die Hintertür hinaus, umrundete das Haus und nachdem er sich im Schutz des Wacholderstrauchs vergewissert hatte, dass die Straße leer war, ging er zu seinem Accord. Er fuhr ein paar Straßen weiter, dann hielt er am Straßenrand. Die Luft roch nach Teer und nach Fleisch, das sich gerade irgendjemand zum Frühstück briet – irgendetwas Süßliches, wahrscheinlich abgepackte Würstchen. Walker schlug Tess’ Kalender an ihrem Todesdatum auf. Leer. Der letzte Eintrag fand sich am ersten Juni um sieben Uhr abends: Vector-Party. The Ivy – Beverly Hills. Genau eine Woche vor ihrem Tod.

Walker überflog die vorherigen Monate. Der Name Vector fand sich auch im März und April, manchmal sogar mehrmals pro Woche. Während er den Namen anstarrte, der immer wieder in der säuberlichen Handschrift seiner Schwester auftauchte, wuchs seine Neugier.

Der Ausbrecher

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