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3.

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Auf dem Harbor Freeway beschleunigte Bear rasant, was seinem überbeanspruchten Dodge Ram ein Aufheulen und ein gestresstes Ruckein entlockte. Sowohl bei einem Ausbruch aus dem Gefängnis als auch bei einer Vermisstenmeldung waren die ersten vierundzwanzig Stunden entscheidend. Seit 1979, als das Justizministerium die Verantwortung für entlaufene Gefangene vom FBI auf den Marshals Service übertragen hatte, fielen alle entflohenen Sträflinge aus staatlichen Gefängnissen in den Zuständigkeitsbereich der Marshals. Tim und Bear waren beim Büro in der Stadt vorbeigefahren, um die Akten mitzunehmen, die Guerrera in der Zwischenzeit hatte zusammensuchen können. Nach einem fragwürdigen Einsatz seiner Schusswaffe beim Erstürmen einer Lagerhalle im letzten Frühjahr war Guerrera vorläufig für leichten Innendienst eingeteilt worden. Er begleitete sie noch über den Flur bis zum Lift, wo sich die Aufzugtüren abrupt vor seinem neidischen Gesicht schlossen. Ein unangenehmer Moment für alle Beteiligten.

Bear, der stolze Taufpate, hatte mit Gummiband ein Foto an seiner zerfledderten Sonnenblende befestigt – es zeigte ihn, wie er Tyler an den Knöcheln festhielt und kopfüber vor einem Legoland-Empire-State-Building baumeln ließ. Lautstark hupend fuhr er an einer Mutter im Hummer vorbei, die sicher gerade unterwegs war, um ihre Kleinen vom Fußballtraining abzuholen. Auf ihrer Stoßstange prangte ein Aufkleber mit der Aufschrift KEIN KRIEG FÜR ÖL, und Bears Dodge, nicht gerade das benzinsparendste Modell, gab klappernd zu verstehen, was er davon hielt.

Tim blätterte einen Stapel Ausdrucke durch und verharrte bei einer Zusammenfassung den Aktivitäten, die Walker Jameson ausgeübt hatte, bevor er verurteilt wurde. Er blinzelte, um die vom Faxgerät verzerrten Buchstaben am Rand noch lesen zu können. Soldat beim U.S. Marine Corps. Posten: Gewehrschütze, Infanterie. Wenn die kurze, inoffizielle Zusammenfassung seiner neun Jahre bei den Marines korrekt war, hatte Jameson an Kampfhandlungen in Jordanien, im Kosovo, in Somalia, im Sudan und im Irak teilgenommen. Nach dem elften September hatte er selbst gebeten, für eine Antiterrorismuseinheit geschult zu werden, und absolvierte die Fortbildung für Aufklärer und Scharfschützen in Quantico. Als fertig ausgebildeter Scharfschütze wurde er Hauptmann bei einer Elite-Aufklärungstruppe. Die Kopie eines grobkörnigen Fotos zeigte einen schlanken, kräftigen Mann, der mit der Faust ein Kampfmesser umklammerte. Sein mit Tarnfarbe beschmiertes Gesicht hatte er halb in den Schatten gedreht, so dass die Dunkelheit seine linke Gesichtshälfte schluckte. Das Gewehr hatte er umgehängt, den Kolben an der rechten Schulter, den Lauf am linken Knie.

Nach elf Jahren als Feldwebel bei den Army Rangers wusste Tim nur zu gut, wie viel Erfahrung Jameson sich im Laufe seiner diversen Einsätze angeeignet hatte. Aufmerksam studierte Tim das Gesicht des entflohenen Häftlings. Der hervorragende Nahkämpfer einer Elitetruppe, der auf Kosten des Steuerzahlers darauf trainiert worden war, so zu denken, zu schleichen und zu schießen, wie auch Tim es einmal gelernt hatte. Tim stellte das Foto aufs Armaturenbrett. Seine Augen wanderten zur letzten Zeile: Unehrenhaft entlassen. Degradiert. Sechs Monate Haft in Leavenworth. Keine weiteren Erklärungen.

»Erinnere mich dran, dass ich Guerrera bitte, mir Jamesons SRB zu besorgen.«

»Seinen wen?«, fragte Bear nach.

»Sein Service Record Book. Seine militärische Personalakte quasi.« Bear und er arbeiteten mittlerweile schon so lange zusammen, dass er manchmal vergaß, dass sich ihr gemeinsamer Wortschatz nicht auch auf den Militärjargon erstreckte.

Im persönlichen Bereich waren die Informationen über Jameson überraschend karg. Einunddreißig Jahre alt. Einmal verheiratet, seit langem getrennt lebend, die Scheidung aber noch nicht rechtskräftig. Keine Kinder. Eine Schwester, sieben Jahre älter als er. Während seiner Ehe hatte er in Littlerock gewohnt. Die ländliche Gemeinde mit ungefähr zehntausend Einwohnern lag achtzig Kilometer nordöstlich von L. A., ziemlich genau in der Mitte von ziemlich genau überhaupt nichts. Nach seinem letzten Einsatz und seinem Urlaub in Leavenworth war er nicht mehr zurückgekehrt. Angesichts dessen, was Tim über Littlerock wusste, war das nur zu verständlich.

Der Dodge nahm eine der Abfahrten nach Long Beach und flog auf einer grünen Hängebrücke über den Kanal. Als sie sich schließlich Terminal Island näherten, ging Bear vom Gaspedal. Auf dieser Insel, die gleichzeitig Bestandteil des Hafens von Los Angeles war, lag das Gefängnis, das schon so berühmte Insassen wie Al Capone oder Charles Manson beherbergt hatte. Containerschiffe fuhren von ihren Liegeplätzen los oder legten gerade an. Manche von ihnen waren so groß, dass man fast den Eindruck hatte, die Schiffe stünden still und das Land bewegte sich von ihnen weg, mitsamt dem Dodge obendrauf. Über ihren Köpfen verlief das weiße, gerippte Rohr einer Pipeline, das sich über die ganze Insel zog wie eine Einschienenbahn.

Jameson hatte eine fünfjährige Gefängnisstrafe bekommen, weil er Sprengstoff gehortet hatte. Bei einer Razzia der Bundespolizei war er aufgeflogen, als er zwei Kisten mit Handgranaten kaufen wollte. Wegen guter Führung war ihm ein Jahr seiner Strafe erlassen worden.

»Fünf Jahre für einen erstmaligen Verstoß gegen die Waffengesetze, das kommt mir ganz schön heftig vor«, meinte Tim. »Hat Guerrera noch irgendwelche Hintergrundinformationen mitgeliefert?« Als der verschlafene Marshal Tannino Tim im Büro beiseite genommen und ihm die Wichtigkeit einer schnellen Festnahme vor Augen gehalten hatte, waren Tim Teile von Guerreras mündlicher Zusammenfassung entgangen.

Bear hob die Stimme, um sich über das Rattern des losen Armaturenbretts und den Lärm eines vorbeifahrenden Müllautos hinweg verständlich zu machen. »Jameson weigerte sich, mit den Ermittlern zusammenzuarbeiten – er wollte keine Namen nennen, nicht mit einem versteckten Mikrophon Kontakt zu seinen Händlern aufnehmen, nichts –, darum haben sie dafür plädiert, sein Vergehen als besonders schwerwiegend zu betrachten. Dürfte ihn mehrere Jahre gekostet haben.«

Der Wachtturm kam in Sicht. Die dunkle Ebene des Hafens, die im Osten unter einem Streifen gepflegten Rasens glitzerte, unterstrich das leuchtfeuerartige Aussehen des Turms. Das Gefängnis erhob sich über einem starken Maschendrahtzaun, die Betonblöcke der Umzäunung waren blassgelb. Rollen von NATO-Draht bildeten ein dichtes und abschreckendes Gestrüpp. Hinter rostigroten Gitterstäben verbargen sich halbblinde Fenster und die tausendköpfige Sippschaft des Staatlichen Gefängnisses von Terminal Island. Im Westen stand ein ganzer Haufen Verwaltungsgebäude der Küstenwache. Sie sahen aus, als wollten sie das Gefängnis, dessen östliche Mauer schon über dem Wasser hing, jeden Moment vom Land drängeln. Wächter mit halbautomatischen Waffen liefen an den Mauern des Gefängnisses entlang, und im Wind konnte man schwach ihre Rufe hören. Das Licht des Wachtturms wurde von den falschen Quarzbrocken in dem schmalen Gang zwischen den Maschendrahtzäunen zurückgeworfen, und Tim musste blinzeln. Der Ausbruch musste wirklich so spektakulär gewesen sein wie behauptet. Tim dachte wieder an Jamesons beachtliche Ausbildung.

Bear zeigte dem Pförtner seinen Ausweis, woraufhin der Mann Tabak in einen Kaffeepappbecher spuckte und sagte: »Wächter erwarten Sie schon. Waffen bleiben im Auto.«

Sie fuhren durch das Tor, parkten und deponierten ihre Waffen ins Handschuhfach. Tim nahm noch schnell den Schlüssel für die Handschellen von seiner Schlüsselkette und klebte ihn sich unter seine Uhr.

Mit gerunzelter Stirn blickte er auf die Akte in seinem Schoß. Bear griff nach der obersten Seite und studierte sie gründlich, als könnte er so herausfinden, was Tim so beunruhigte. Tim kaute auf der Innenseite seiner Wange herum und musterte aufmerksam das bewegte Wasser im Hafen. In der Luft lag ein starker Teergeruch. Der ferne, sonore Laut des Nebelhorns eines Tankers ließ die Fensterscheibe vibrieren.

»Warum sammelt ein Kerl erst Bonuspunkte für gute Führung, sitzt den Großteil seiner Strafe ab und bricht dann plötzlich aus?«, wollte Tim wissen.

»Die Wege des Sträflings sind unergründlich.« Bear ruckelte leicht am Autoschlüssel, um ihn aus dem Zündschloss zu bekommen. »Aber sobald wir den Grund rausgefunden haben, sind wir schon ein gutes Stück weiter.«

Am anderen Ende des Parkplatzes sahen sie einen Wachmann aus dem Gebäude kommen, der die Hand zum Gruß hob. Tim winkte zurück, und Bear und er lösten die Sicherheitsgurte.

Als Tim seine Tür aufgemacht hatte, hielt er noch einmal inne. »Sag mir noch mal kurz seine Beschreibung. Die von Jameson, meine ich.«

Bear hielt den Zettel in das schwache Licht. »Eins dreiundachtzig groß. Sechsundachtzig Kilo. Weiß.«

»Toll. Er sieht also aus wie jeder andere. Er sieht aus wie überhaupt niemand.«

Bear warf einen Blick auf das Foto auf dem Armaturenbrett. »Er sieht so aus wie du.«

Der Ausbrecher

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