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4.

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Der Wachmann hinter seinem Pult bedachte sie mit einem herzlichen Nicken, als sie an ihm vorbei in das Zimmer gingen, in dem sich fünf Männer um Tische aus gefängniseigener Produktion versammelt hatten.

An der Tür blieb der Wärter, ein leicht hinkender, anspruchsvoller Beauftragter für indianische Angelegenheiten mit gestutztem Schnurrbart, stehen. »John Sasso ist unser Lieutenant, und das ist Daniel McGraw, unser Nachrichtenspezialist. Sie sind zu Ihrer Unterstützung hier. Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen, ich muss mich jetzt um den Ansturm der Scheißmedien kümmern.«

Er zog sich zurück, und im Raum breitete sich wieder Schweigen aus. Weder Sasso noch McGraw – der stehen blieb, um seinen Ärger darüber zu demonstrieren, dass man ihn von wesentlich dringenderen Geschäften abgezogen hatte – grüßten sie, und die drei Gefängniswärter, die ihnen gar nicht erst vorgestellt worden waren, befassten sich weiter müde mit ihren Sandwichs und Akten. Die Stimmung war unbehaglich, aber Tim und Bear hatten mit nichts anderem gerechnet. Deputy Marshals waren Außenseiter, die zu Angelegenheiten der staatlichen Gefängnisse nur hinzugebeten wurden, wenn die Wärter oder die Nachrichtenspezialisten – die ihre Finger eigentlich immer am Puls des Lebens innerhalb der Gefängnismauern haben sollten – in ihrem Job versagt hatten.

Tim streckte eine Hand aus. »Tim Rackley. Und das ist mein Partner, George Jowalski.«

Während Sasso ganz nach Vorschrift gekleidet war – graue Hose, weißes Hemd, brauner Schlips und blauer Blazer –, zog sich McGraw eher so lässig an, wie es bei Mitarbeitern der SWAT-Teams üblich war: Seine kurzen Ärmel hatte er über den Bizeps hochgekrempelt, und die Hose mit Tarnmuster war in die ungeschnürten Stiefel gesteckt. An Sassos Gürtel hing jede Menge Ausrüstung: Funkgerät, Schlüsselringe, ein Schlagstock. Aus einer Tasche seines Blazers ragte ein Heft mit der Gefängnisordnung und ein blauer Block, der wahrscheinlich die Richtlinien der Gewerkschaft enthielt, wie Tim vermutete.

»Ich bring Sie mal zu Jamesons Zelle«, schlug Sasso vor. »Das müssen Sie gesehen haben, damit Sie’s glauben.«

»Wir würden gern zuerst die Aufnahme von dem Angriff ansehen«, sagte Tim. »Würde es Ihnen was ausmachen, sie mit uns anzuschauen?«

»Danke, die hab ich schon fünfzigmal gesehen«, gab McGraw zurück.

»Wir hatten gehofft, dass Sie uns Ihre Ansichten dazu mitteilen könnten.«

»Sauberer Schnitt mit einem selbst hergestellten Messer. Hat den Kerl in den Hals gestochen.«

Bear stellte sich auf Zehenspitzen und spitzte die Lippen, als wollte er gleich anfangen zu pfeifen – das konnte ja eine lange Nacht werden.

»Vielleicht könnten wir Ihnen ein paar Fragen stellen, bevor wir zur Zelle gehen?«, bat Tim.

McGraw zog ein Handy von seinem Gürtel und drückte eine Taste, um es zum Schweigen zu bringen. »Könnten wir das vielleicht schnell hinter uns bringen? Alle Hände voll zu tun hier, wie Sie sich sicher vorstellen können.«

»Wir tun unser Bestes«, versprach Tim. »Haben Sie diese Woche von den Informanten unter den Gefangenen irgendwelche Gerüchte aufgeschnappt?«

»Überhaupt nichts.«

»Ich habe gesehen, dass Jameson sich tadellos benommen hat.«

Der Anflug eines Grinsens. »Bis heute.«

»Wie war er heute drauf?«

»Tja, wie sind Gefangene so drauf?«, erwiderte Sasso.

»Irgendwelche Auffälligkeiten?«, erkundigte sich Tim.

»Neuer Tag, gleiche Scheiße wie immer«, meldete McGraw sich wieder zu Wort.

»Wir können nicht die Stimmungsschwankungen jedes Gefangenen verfolgen«, fügte Sasso hinzu.

Bear räusperte sich. »Ach, so viel psychologisches Training, und alles umsonst.«

»Können wir uns mal seine Krankenakte ansehen?«, fragte Tim weiter.

»Steht nix drin«, sagte McGraw. »Der Kerl war total gesund.«

»Ich würde sie mir trotzdem gerne ansehen.«

»Vielleicht sollten wir auch noch eine Probe von seinem Toilettenwasser nehmen, ja?«

»Ist das ein Angebot?«

McGraws Funkgerät quäkte los, und er nuschelte hinein: »Ich hab doch gesagt, ich bin gleich da.« Dann blickte er wieder zu Tim und Bear auf. »Sehen Sie, ich bin sicher, dass dieser ganze Hintergrundscheiß hilfreich ist, wenn Sie einen Serienvergewaltiger jagen, aber hier drin sieht es anders aus. Hier ist es nicht wie auf der Straße. Wir haben Käfige und Gefangene. Das ist hier ein Dschungel, und hier gelten andere Regeln.«

»Sieht aber so aus, als wäre er nicht mehr hier«, bemerkte Bear gleichmütig.

»Ich war selbst mal eine Zeit im Gefängnis«, versuchte es Tim.

»Solange Sie nicht Vollzeit hier drin gewesen sind, wissen Sie gar nichts.«

»Ich war Vollzeit drin. Montag bis Sonntag, vierundzwanzig Stunden am Tag.«

McGraw blickte so verdutzt drein, dass Bear ihn aufklärte: »Er war selbst Häftling.«

Das brachte McGraw endlich zum Schweigen. Er musterte Tim. Dann sah man an einem kurzen Aufblitzen seiner Augen, dass er sein Gegenüber wieder erkannt hatte, und er setzte sich. Tims wilder Ausflug in die Selbstjustiz nach dem Mord an Ginny war den meisten – besonders in der Polizei – als eine Art Charles-Bronson-Legende in Erinnerung.

»Hören Sie«, beschwor ihn Tim, »wir sind nicht gekommen, um Ihnen Ärger zu machen. Unser Job besteht darin, Ihren Gefangenen aufzuspüren und wieder zurückzubringen, und um diesen Auftrag erfüllen zu können, sind wir auf Ihr Urteil und Ihr Fachwissen angewiesen.«

McGraw hielt Tims Blick stand, dann drehte er die Lautstärke seines Funkgeräts herunter.

»Irgendwelche Spuren außerhalb des Gefängnisses? Hat irgendjemand etwas beobachtet?«, wollte Tim wissen.

»Würden wir dann wohl hier stehen?«

»Irgendwelche Unregelmäßigkeiten bei den Sicherheitsmaßnahmen?«

»Vor ein paar Wochen hat eine Waschbärenfamilie so viel Chaos bei zwei unserer acht Bewegungsmelder an der Strandseite angerichtet, dass wir sie abgestellt haben. Aber nur diese beiden. An diesem Punkt können Sie aber nichts anderes tun als geradewegs aufs Meer hinausschwimmen – sobald Jameson versuchen würde, einen Bogen zu schlagen und zum Festland zurückzukommen, würde man ihn vom Wachtturm sofort sehen.«

»Gibt es irgendeine Chance, dass er übers Wasser entkommen sein könnte?«

»Ziemlich unwahrscheinlich, aber prinzipiell schon möglich. Draußen im Hafen haben wir noch eine zusätzliche Wache.«

»Wie sah die Mordwaffe aus?«

»Wir sind immer noch nicht ganz sicher. Sie wissen, dass sich hier drinnen die ganze Zeit schon was zusammengebraut hat, oder? Und dass wir hier letzte Woche eine Messerstecherei gehabt haben? Ich habe Ihren Mann – Guerrera? – am Telefon darüber informiert.« McGraw wartete ab, bis Tim nickte. »Nach dem Vorfall haben wir die Zellen durchsucht. Und alles einkassiert – Rasierklingen, Stifte, sogar Löffel. Ich habe also keine Ahnung, was Jameson als Waffe benutzt haben könnte, und auf der Aufnahme ist nichts zu erkennen.«

»Sah es so aus, als wäre Jameson in die Unruhen der letzten Woche irgendwie verwickelt gewesen?«, wollte Bear wissen.

Als McGraw nicht gleich antwortete, fügte er hinzu: »Oder war er irgendwie gereizt oder nervös?«

Zum ersten Mal zögerte McGraw, bevor er antwortete. »Nicht, dass ich etwas bemerkt hätte.«

»Erzählen Sie uns bitte vom Opfer«, bat Bear.

»Boss Hahn. Ein großes Tier in der Arischen Bruderschaft, hat drei Morde auf dem Gewissen. Ein bewaffneter Raubüberfall, der ein bisschen aus dem Ruder gelaufen ist. Er saß gerade seine zweite Strafe ab – lebenslänglich auf Raten sozusagen.«

»Hatte Jameson irgendwelchen Ärger mit ihm?«

»Nicht mehr als jeder andere auch. Boss hatte hier das Sagen.«

»Aber man kann nie wissen, wann ein Gefangener einem anderen doch mal in die Quere kommt«, meinte Sasso. »Was das Fass zum Überlaufen bringt. Die meisten hier sind gute Jungs. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und dem Rest der Menschheit ist der, dass ihre Zündschnur kürzer ist.« Er hob den kleinen Finger hoch.

»Warum, glauben Sie, hat Jameson einen Ausbruch riskiert, wenn er nur noch ein Jahr von seiner Strafe abzuhocken hatte?«, fragte Tim. »Er hat sich doch die ganze Zeit so tadellos geführt. Warum jetzt?«

»Warum bricht überhaupt irgendjemand aus?«, entgegnete Sasso. »Um frei zu sein. Manchmal flippen die Leute einfach aus und halten es nicht mehr aus, ihre Strafe abzusitzen.«

McGraw schüttelte den Kopf, und zum ersten Mal spürte Tim einen Hauch von Rivalität zwischen den beiden. »Er musste fliehen. Man kann nicht Boss umbringen und danach hier drin überleben.«

»Verstehe«, sagte Bear. »Was hatte Jameson also gegen Boss?«

»Nichts«, antworteten Sasso und McGraw gleichzeitig.

»Mit wem hat sich Jameson zusammengetan?«, erkundigte sich Bear.

»Eigentlich mit niemand so richtig«, erwiderte Sasso.

»War er religiös?«

»Er trug ein Kreuz, aber in den Gottesdienst ist er nie gegangen«, sagte McGraw. »Ich überwache die Teilnahme persönlich.«

Kein Geistlicher, den man hätte befragen können. Noch eine Sackgasse also.

»Stand er sich gut mit seinem Zellengenossen?«, bohrte Bear weiter. »Imaad Durand?«

McGraw zog die Augenbrauen hoch und blätterte den nächsten Blätterstapel durch. »Bill, schmeiß mir mal Jamesons Akte rüber.« Einer der stummen Gefängniswärter schob ihm Walkers Akte über den Tisch, und McGraw blätterte sie durch. Entnervt stieß Bear die Luft aus – sie brauchten gerade die Art von Informationen, die normalerweise nicht in Akten aufgezeichnet wurden. Ohne die Augen von den Papieren zu nehmen, sagte McGraw: »Nicht besonders.«

»Hat er irgendwann mal weiblichen Besuch gehabt?«, erkundigte sich Tim.

»Besuche vom Ehepartner?«, fragte Sasso.

»In unseren staatlichen Gefängnissen gibt’s kein Verbrecher-Reproduktionsprogramm«, grinste McGraw.

»Schon richtig. Ich meinte ja auch nur ganz gewöhnliche Besuche«, sagte Tim.

McGraw blätterte in der Akte zurück. »Keinen einzigen.«

Bear pfiff, während er etwas in sein Notizbuch kritzelte.

»Hatte er irgendwelche Jobs?«, wollte Tim wissen.

McGraws Augen glitten über die Seite nach unten. »Essen, Unicor, Putzkolonne, Müllabfuhr, Wäscherei. Der übliche Scheiß eben.«

»Wie sah seine finanzielle Situation aus?«

McGraw blätterte um. »Er hatte ungefähr siebzig Dollar zusammengespart. Heute Morgen hat er zwanzig davon auf sein Kantinenkonto umbuchen lassen.«

»Wie sah der Kontostand davor aus?«

»Elf Dollar. Hätte noch eine Woche gereicht oder so.«

»Warum hätte er das Geld umbuchen lassen sollen, wenn er in der Nacht noch ausbrechen wollte?«

Als offensichtlich wurde, dass niemand Tim eine Antwort darauf geben würde, ging die Tür auf und ein junger Gefängniswärter trat ein. »Seht euch mal an, was wir da draußen gerade aus dem Abfallhaufen gezogen haben.« Mit dramatischer Geste ließ er einen Plastikbeutel aufrollen. Darin steckte eine blaue Zahnbürste.

»Lass mal sehen, Newlin.« McGraw legte den Beutel auf den Tisch und die Männer lehnten sich darüber. Der Hartgummistiel der Zahnbürste war messerscharf zugespitzt worden. Gut fünf Zentimeter waren rot verfärbt. Um den Griff hatte jemand Stoffstreifen gewickelt und festgeklebt. Ein Schnürsenkel diente als Aufhänger. Die Bürste selbst war durch die Asche geschwärzt.

»Wo hatte er den Klebstoff her?«, fragte Sasso. »Von Unicor?«

»Imaad hatte einen kleinen Becher für seine Poster. Kaugummi hat er nicht benutzt, weil er Moslem ist und die dürfen aus irgendeinem Grund keinen Kaugummi kauen. Also hat er aus Seife und Wachs seinen eigenen Kleber hergestellt, den er auch an Mitgefangene verkaufte.« Newlin sah Tim und Bear mit einem Anflug von Verlegenheit an und strich sich den sandfarbenen Schnurrbart glatt, den er sich zweifellos stehen ließ, um sein jungenhaftes Gesicht zumindest ein paar Jährchen älter aussehen zu lassen. »Ich arbeite seit sechs Monaten in der J-Einheit.«

Sasso lächelte obenhin. »Lang genug, um zu wissen, wo Sie hingehören, würde ich sagen.«

»Ja, natürlich. Entschuldigung.« Statt eines Büchleins mit den Gewerkschaftsrichtlinien hatte Newlin eine Schachtel Zigaretten in der Brusttasche. An seinem Gürtel hing neben der normalen Ausrüstung auch noch ein Bündel Latexhandschuhe. Wohlinformiert, locker und gut vorbereitet. Und als er von Walkers Zellengenossen sprach, hatte er ihn beim Vornamen genannt. Bear und Tim tauschten rasch einen beeindruckten Blick.

»Hören Sie«, wandte sich Tim an Sasso und McGraw, »wir haben schon genug von Ihrer Zeit in Anspruch genommen. Wenn es ...?«

»Cary Newlin.« Der junge Gefängniswärter streckte erst Bear die Hand hin, dann Tim.

»... nichts ausmacht, könnte er uns ja die Aufnahme vorspielen und uns dann zu Jamesons Zelle bringen. Dann müssen wir Sie nicht länger beanspruchen.«

»Ich?« Newlin zuckte mit den Achseln, zum Zeichen, dass er einverstanden war. McGraw senkte den Kopf und hob die Hände, als wollte er ihnen seinen Segen geben. Sasso brachte sie hinaus und lieferte sie in der Kontrollzentrale am anderen Ende des Flurs ab.

Dort saß ein weiteres Team von zombieartigen Gefängniswärtern, die Tims und Bears Eintreten kaum zur Kenntnis nahmen. Mittels einer ganzen Reihe von Bildschirmen wurden hier sämtliche Gebäude des Gefängnisses überwacht. Auf dem Bildschirm, der mit »J« gekennzeichnet war, sah man Minibagger, die Haufen von qualmenden Abfällen wegschaufelten. Wächter liefen am Rand des Szenarios auf und ab, während die Arbeiter den brennenden Müll in Rollcontainer beförderten. Einige vereinzelte Wärter schwenkten Feuerlöscher und besprühten damit eifrig echte oder eingebildete Glutherde, so dass ihnen der Nebel wie in einem Science-Fiction-Film bis zu den Knien waberte. Die scheunentorartige Stahltür war zurückgeschoben worden, um Platz für die Bagger zu machen, während ein Wachmann mit einem M4 die drei Meter breite Öffnung bewachte und die Ausweise der passierenden Arbeiter und Gefängniswärter kontrollierte.

Newlin griff sich eine der drei Kassetten, die Sasso ihnen gegeben hatte, und spulte sie vor. Ein unbeleuchtetes Stück Empore, mit verschwommenen Streifen aufgrund der mittelmäßigen Qualität des Videos. Die Aufnahme war aus allernächster Nähe gemacht worden, die Sicherheitskamera musste direkt über dem Gang angebracht sein.

»Die Chefs sind Ihnen blöd gekommen, oder?«, erkundigte sich Newlin.

»Wie haben Sie das bloß erraten?«

»Weil Sie sich so eifrig auf mich gestürzt haben.« Er zwinkerte Tim und Bear mit einem leichten Nicken zu. »Ich kenn das doch selbst.«

Bear deutete auf die Aktivitäten, die gerade live auf den Videoüberwachungsbildschirmen des J-Blocks zu beobachten waren. »Was suchen die denn immer noch da drin?«

»Na ja, technisch gesehen hat bis jetzt noch kein Gefangener den J-Block verlassen«, erklärte Newlin. »Die einzige Tür nach draußen wurde im gleichen Moment blockiert, als Boss’ Körper auf dem Boden aufgeschlagen war. Wir denken uns, dass Walker vielleicht immer noch in irgendeinem Lüftungsschacht stecken könnte oder so. Obwohl das eher Wunschdenken ist, denn wir haben inzwischen jeden Zentimeter zweimal abgesucht. Er ist buchstäblich verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt, verstehen Sie?«

»Und wie haben Sie die Unruhen so schnell in den Griff bekommen?«

»Das waren keine Unruhen, bloß ein paar Wutanfälle. Wir sind nur auf die mittlere Sicherheitsstufe hochgefahren. Sobald der letzte Stuhl und der Fernseher durch die Luft gesegelt sind, verlieren die Gefangenen die Lust. Außerdem hatten wir gleich unsere gesamte Belegschaft und das DCT alarmiert, unsere Eingreiftruppe für alle Arten von Unruhen. Allein durch die Überzahl nehmen wir ihnen den Wind aus den Segeln. So können wir die Jungs ohne allzu viel Scherereien bewegen, sich wieder in ihre Zellen zu verziehen.«

»Haben Sie heute irgendeine Veränderung an Walkers Verhalten bemerkt?«

Newlin legte eine neue Kassette ein und drückte auf schnellen Vorlauf. »M-hm.«

Die Antwort überraschte Tim und Bear. »Ja?«, hakte Tim nach. »Ja, allerdings. In der Nacht schlug seine Stimmung plötzlich um. Er war so still – okay, Walker war eigentlich immer still. Aber als er vom Abendessen zurückkam, war er so ... ich weiß auch nicht, irgendwie völlig daneben. Wollte auch nicht mehr fernsehen.«

»Ist das vorher noch nie vorgekommen?«, erkundigte sich Tim.

»Nicht dass ich wüsste.«

Tim ließ den Blick über die Reihen der Überwachungsmonitoren schweifen, bis er bei dem Bildschirm mit der Beschriftung »SpS« gelandet war. Eine Reihe Picknicktische, in der Dunkelheit nur schwer auszumachen. »Können wir die Aufnahme vom Abendessen ansehen?«

»Hast du gehört, Earl?«

Einer der Beamten hob lethargisch den Daumen, ohne seinen Blick von den Monitoren zu nehmen.

Newlin drückte auf die Starttaste. Die Zeitanzeige unten rechts begann bei 20:24:32 Uhr. Boss Hahn tauchte auf. Sein Körper war mit einer glänzenden Schweißschicht überzogen, die Muskeln an seinem Oberkörper zeichneten sich über dem Handtuch deutlich ab. Er trat betont mit den Hacken auf und musste wegen seines gewaltigen Umfangs die Arme leicht abspreizen. Dann erschien plötzlich ein Schatten auf dem Bildschirm, und Walker stand vor Boss, den Rücken zur Kamera. Für den Bruchteil einer Sekunde geschah gar nichts, dann hob sich ein Arm, fuhr auf Boss’ Hals nieder, Boss wurde übers Geländer gestoßen und Walker verschwand in die Richtung, aus der er gekommen war. Einen Moment später vibrierte die Kamera leicht in ihrer Halterung – Boss Hahns Körper war unten aufgeschlagen.

Der ganze Überfall hatte sich innerhalb von drei Sekunden abgespielt.

Rasch füllte sich die Empore mit brüllenden Häftlingen, die durcheinanderbrandeten und sich gegenseitig herumschubsten. Innerhalb kürzester Zeit warfen sie Decken und Mikrowellengeräte von den Emporen. Ihre stummen Bewegungen und die unheimliche Beleuchtung verliehen der Szene die Atmosphäre eines düsteren, alten Films.

»Liegt seine Zelle hier runter?« Tim deutete in die Richtung, aus der Jameson auf dem Bildschirm gekommen und in die er wieder verschwunden war.

Newlin nickte. »Gerade eben außerhalb dieses Blickwinkels. Er könnte also in seine Zelle zurückgekehrt sein, genauso gut aber auch weiter über die Empore gelaufen und die Südtreppe runtergerannt sein. Allerdings kann man die Treppe komplett einsehen, und der diensthabende Beamte hätte ihn auf jeden Fall bemerkt.«

»Außer Jameson hat abgewartet, bis der Tumult losbrach, und ist dann abgehauen.«

»Stimmt. Zu der Zeit hatte der Beamte seinen Posten schon verlassen, hätte aber trotzdem die Tür verriegelt.«

»Ist auf den anderen Kassetten irgendwas zu erkennen?«

»Es wird immer nur ein Ausschnitt gefilmt, wie Sie eben gesehen haben. Wir haben in jeder Etage eine Kamera in der Mitte, so wie diese hier, und dann noch die große Kamera«, er zeigte auf den J-Block-Bildschirm, »die nur das Erdgeschoss und die Mitte der ersten Etage filmt. Wir haben schon ein Team drangesetzt, die sehen das alles durch. Bis jetzt haben sie aber noch nichts entdecken können.«

»Spielen wir doch noch mal die Aufnahme des Überfalls ab«, bat Tim. »Sagen Sie mir, was Sie da sehen.«

Boss flog aus dem Erdgeschoss wieder zur Empore und übers Geländer, landete auf seinen Füßen. Das Blut floss wieder in seinen Hals zurück. Er watschelte rückwärts, dann ging er wieder vorwärts, um sich erneut ermorden zu lassen.

»Da war ein echter Experte am Werk«, bemerkte Newlin.

»Allerdings.« In Tims Stimme schwang ein Hauch von Bewunderung mit. »Er hat genau zwischen dem Schädel und dem Kiefergelenk zugestochen, wo das Messer leicht eindringen kann. Nach dem Druck zu urteilen, mit dem das Blut herausschießt, muss er die äußere Halsschlagader durchstochen haben, die geradewegs vom Herzen hier hochläuft. Damit ist schnelles Verbluten garantiert – sieben Sekunden ungefähr. Jameson ist Rechtshänder, liegt also nahe, dass er auf dieser Seite zugestochen hat.«

Newlins Augen wanderten vom Bildschirm zu Tims Gesicht, und man merkte ihm an, dass er sein Gegenüber plötzlich mit ganz neuen Augen sah. »Woher wissen Sie, dass er Rechtshänder ist?«

»Auf Fotos aus seiner Zeit in der Armee ist zu sehen, dass er sich sein Gewehr von rechts nach links umgehängt hat.« Tim tippte auf den Monitor. »Können wir das bitte noch mal ansehen?«

Sie sahen sich den Ausschnitt noch ein paarmal an. Der Strahl, der aus Boss’ durchbohrtem Hals schoss, sah noch spektakulärer aus, wenn man ihn Bild für Bild in Zeitlupe verfolgte. Sie wollten gerade gehen, da sprang Newlin auf einmal aufgeregt von seinem Stuhl auf. »Moment mal. Da. Sehen Sie sich das noch mal genau an.« Als Walker auf Boss zutrat, um ihn übers Geländer zu schubsen, rutschte sein Hemd auf der linken Seite hoch und gab für einen ganz kurzen Moment den Blick auf die Säume mehrerer Unterhemden frei. »Und ich dachte mir doch noch, dass er irgendwie massiger aussieht. Er hat mehrere Schichten an.« Auf Bears verdutzten Blick fügte Newlin erklärend hinzu: »Er hat mehrere Lagen Hemden übereinander angezogen. So kann man sich gegen Angriffe mit dem Messer schützen. Und wenn man selbst jemand abgestochen hat, kann man eines ausziehen und sieht sofort anders aus.«

»Warum sollte er seine Kleidung wechseln?«, zweifelte Bear.

»Er weiß doch, dass er gefilmt worden ist.«

»Außerdem war er doch der Angreifer«, fügte Tim hinzu. »Ich bezweifle, dass er Angst hatte, selbst mit dem Messer angegriffen zu werden.«

»Vielleicht hatte er die Hemden schon vorher angezogen«, überlegte Bear.

»Bisschen zu heiß hier, um vier Hemden übereinander zu tragen«, widersprach Newlin.

Bear nickte zustimmend. »Wirklich seltsam.«

Newlin stand auf und ging zur Tür. »Aber nicht halb so seltsam wie seine Zelle.«

Der Ausbrecher

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