Читать книгу Der Ausbrecher - Gregg Hurwitz - Страница 18
13.
ОглавлениеBoston sprang von der Veranda an Tim vorbei und machte einen großen Satz durch das offene Beifahrerfenster des Dodge Ram. Bear winkte im Anfahren noch einmal. Leise betrat Tim das Haus. Dray lag schlafend auf ihrem Bett, ein Taschenbuch aufgeschlagen auf ihrer Brust.
Sie bewegte sich ein wenig und rieb sich mit der Hand ein Auge. »Dein Sohn wünscht deine Anwesenheit.«
Tim blickte auf die Uhr. »Schläft er etwa noch nicht?«
»Schläft er denn überhaupt jemals? Und bevor er dich nicht gesehen hat, kommt er nicht richtig zur Ruhe. Das kennen wir doch mittlerweile.«
Als Tim über den Flur ging, sah er bereits Tylers Kopf über die gepolsterte Seitenwand seines Kinderbettchens ragen. Snowball, der passend getaufte Hamster, döste auf seinem Laufrad. Er war von Natur aus stinkfaul und hatte sich leider nie zu dem Spielkameraden entwickelt, den Tim und Dray sich erhofft hatten. Aus ihm war einfach nur ein größerer Hamster geworden.
»Kissen auffütteln.«
»Das ist doch schon aufgeschüttelt. Soll ich’s dir noch mal aufschütteln?«
Feierliches Nicken. Tim klopfte einmal rechts und einmal links aufs Kissen und drückte Tyler dann einen Kuss auf den riesigen Kopf. »Schlaf schön.«
»Elmo lustig.«
»Ich liebe dich.«
»Ich will ein Hund.«
Dann war Tyler auch schon eingeschlafen.
Tim setzte sich auf einen bequemen Sessel und betrachtete seinen Sohn. Die meisten Eltern, die er kannte, fanden immer, dass ihre Kinder im Schlaf aussahen wie Engel. Auf Tyler traf das ganz sicher nicht zu. Sein Kinn verlor unerklärlicherweise jede Kontur, und seine Lippen schoben sich zu einem kleinen Entenschnabel vor. Dazu wand er sich in seinem Bettzeug wie ein Irrer, der gegen die Zwangsjacke rebelliert. Sein feines blondes Haar war schweißgetränkt, und seine Stirn fühlte sich an, als hätte er mindestens hundert Grad Fieber – Tim und Dray hatten Monate gebraucht, bis sie endlich dahintergekommen waren, dass er nachts kein Fieber hatte, sondern ihm beim Schlafen einfach nur furchtbar heiß wurde.
Dray hatte ihn von Geburt an an klare Regeln gewöhnt – »Tut mir leid, Kleiner, das Brustrestaurant ist gerade geschlossen!« In den ersten drei Wochen von Ginnys Leben, als Dray wegen Kaiserschnittkomplikationen noch ans Bett gefesselt war, hatte die Verantwortung für die Kleine hauptsächlich bei Tim gelegen. So war ihm zu Anfang der Umgang mit seiner Tochter viel leichter gefallen als jetzt mit Tyler. Tim befürchtete, dass ihm mit Ginnys Ermordung durch den verurteilten Kinderschänder Roger Kindeil ein Teil genommen worden war, den er erst noch wiederfinden musste. Andererseits war er sicher, dass er in ihren zwei kinderlosen Jahren die kurze Zeit mit Ginny rückblickend zu einem reinen Idyll stilisiert hatte. Er hatte ganz vergessen, wie ein Kind die Geduld seiner Eltern überstrapazieren kann. Wie es an den Nerven zerren kann, wenn man kämpfen muss, um winzige Socken über völlig unkooperative Füße zu ziehen. Wie einen ein Kind erschöpfen kann, diese lebende Maschine, die erst einmal nur essen und heulen und kacken und Widerstand leisten und fordern kann, ohne dass man durch den undurchdringlichen Panzer dieses egozentrischen Wesens dringen könnte.
Als sie Tyler zum ersten Mal mit in den Park genommen hatten, war Tim ständig neben ihm, stützte ihn, wenn er stolperte, und dirigierte ihn sicher an Metall und Asphalt vorbei. Schließlich hatte Dray ihren Mann zu sich gerufen. »So funktioniert die Welt nicht.« Sie wies auf die Geräte auf dem Spielplatz. »Sie hat scharfe Kanten und harte Oberflächen. Das wird er eben lernen. Je länger er dazu braucht, umso mehr wird er sich weh tun.« Bevor sie ihren Satz hatte beenden können, fing Tim seinen Sohn auf, der gerade von der Rutsche segelte. Drays grimmiges Schweigen auf dem Heimweg hatte etwas Herablassendes.
Nachdem Ginny aus ihrem Leben gerissen worden war, hatte Tim alle Freiheit der Welt gehabt, irrwitzige – nutzlose – Risiken einzugehen. Kein Mensch war völlig von ihm abhängig, er war für niemand verantwortlich. Eine Art von Freiheit, die er sich zunutze gemacht hatte. Und weidlich ausgenutzt hatte. In der stürmischen Ruhe der letzten zwei Jahre hatte er sich mehrfach gefragt, ob er immer noch derselbe Deputy war wie in der Zeitspanne zwischen Ginny und Tyler. Zweifellos hatten seine neu erwachte zärtliche Zuneigung und die Sorge um ein hilfloses Geschöpf seine Kanten wieder abgeschliffen. Es fragte sich nur, wie weit.
Tim stand auf und trottete den Flur hinunter. Auf dem Weg nahm er die Videobänder aus Terminal Island von der Ablage, steckte eine von ihnen in den Videorecorder und schaltete den Fernseher ein. Während er zurückspulte, informierte ihn ein Werbespot über die x-te Kinderkrankheit, von der er noch nicht gehört hatte.
»Schätzungsweise zwei von tausend Kindern sind weltweit von Alpha-1-Antitrypsin-Mangel betroffen«, warnte eine Stimme, die so klang, als würde sie sonst eher in Kinotrailern eingesetzt werden. Dabei schwenkte eine Kamera auf einen besonders bemitleidenswert aussehenden kleinen Jungen mit schmutzigem T-Shirt, gerunzelter Stirn und einer dicken Brille.
Tim hob die Fernbedienung und drückte die Starttaste. Er sah sich noch mehrere Male an, wie Boss erstochen wurde, und hielt dabei nach Einzelheiten Ausschau, die ihm vielleicht entgangen sein könnten. Danach legte er eine andere Aufnahme ein und beobachtete, wie LaRue durch den Speisesaal trippelte. Er spielte die Flüsterszene immer wieder ab und versuchte, die Botschaft mitzusprechen und ans Bild anzupassen: »Die linke Seite.« »Die linke Seite.«
Er stand vom Sofa auf, setzte sich vor dem Fernseher auf den Teppich und spielte Walkers Reaktion auf LaRues Worte ganz langsam Bild für Bild ab. Erst zog er den Kopf leicht zurück – für den Bruchteil einer Sekunde war er vor Schreck zurückgeprallt. Tim hielt das Bild an. In diesem Moment entdeckte Tim einen Ausdruck auf Walkers Gesicht, der ihm bis jetzt entgangen war. Trauer.
Walkers Mund bewegte sich, als würde er noch weiter an seinem Mais kauen, obwohl er den schon sieben Bilder zuvor heruntergeschluckt hatte. Sein Kummer verwandelte sich in Wut – eine emotionale Logik, die Tim nur zu gut bekannt war. Schließlich stand Walker auf und entfernte sich von der Kamera. Seine offensichtliche Entschlossenheit beschleunigte seine Schritte.
Von hinten erklang überraschend Drays Stimme: »Und, was macht unser kleiner Terrorist?«
»Schläft«, antwortete Tim, ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen.
»Erst hält mich dieser Tyrann die halbe Nacht wach, und jetzt, da er endlich friedlich schläft, bin ich hellwach.«
»Ich komm in zehn Minuten, dann machen wir Löffelchen. Ich sorg dafür, dass dir ruck, zuck die Lichter ausgehen.«
»Ich steh drauf, wenn du mir mit deinen schmutzigen Einschlafritualen drohst. Das Problem ist nur, dass deine geschätzten zehn Minuten in Wirklichkeit...« Sie legte eine Pause ein und tat, als würde sie im Kopf etwas ausrechnen. »... in Wirklichkeit eine Stunde und dreiundfünfzig Minuten lang sind. Und dann müssen wir eigentlich sowieso schon wieder aufstehen.«
»Maximal zwanzig Minuten.«
»Na ... wer bietet dreißig?«
Tim spulte ein paar Bilder zurück, bis er wieder bei der Szene angekommen war, in der Walker schmerzlich zurückzuckte. Im Ansturm der Gefühle verlor er kurzzeitig beinahe die Kontrolle über seine Gesichtszüge, so dass er fast verletzlich aussah. Ein Gesichtsausdruck, der bei ihm irgendwie fehl am Platz wirkte und auch nur mit Mühe an die Oberfläche gedrungen war.
Dray setzte sich hinter Tim auf den Teppich und streckte rechts und links von ihm ihre kräftigen Beine aus. Von hinten schlang sie ihm die Arme um Schultern und Brustkorb und drückte ihn kurz. Dann legte sie das Kinn auf seine Schulter und sah mit zu, wie Walker den Speisesaal verließ.
»Manchmal fehlt mir das«, meinte sie. »Der Job. Fast so viel, wie er mir nicht fehlt.«
»Dein Job wartet doch auf dich. Du bist immer noch der erklärte Liebling deines Chefs.«
»Ich würde lieber Teilzeit arbeiten. Bessere Arbeitszeiten.« Sie wartete einen Moment, und als Tim schwieg, drehte sie ihm den Kopf zu und berührte mit den Lippen kurz sein Gesicht. »Hey, du Blödmann, das war dein Stichwort.«
Während er für sie die Informationen zusammenfasste, die sie bis jetzt zusammengetragen hatten, merkte er, wie er dabei selbst Ordnung in seine Gedanken brachte. Sie hielt ihn mit ihrem muskulösen Körper umfangen und hörte ihm schweigend und aufmerksam zu. In der intensiven, aber trotzdem nicht unangenehmen Schweigepause, die seinem Bericht folgte, konnte er spüren, wie sie die Fakten im Kopf durchging.
»Palmdale ist doch für Littlerock zuständig, oder?«, erkundigte sich Tim. »Hast du immer noch einen Draht zu Jason Elliott da oben?«
»Ab und zu sind wir noch in Kontakt, ja. Du meinst, ich als ehemalige Sheriff’s Deputy könnte dir ein vollständigeres Bild von der Selbstmorduntersuchung der Schwester verschaffen?«
Er legte wieder das andere Video ein – zurück zur Zahnbürste, die die Halsschlagader durchtrennte.
Dray sah aufmerksam zu. Ihr entfuhr ein kehliges Geräusch, als hätte sie gerade beobachtet, wie Barry Bonds den Baseball aus dem Stadion hinaus schlug. »Beeindruckend. Nicht eine Sekunde gezögert.«
»Ex-Soldat.«
»Du weißt ja selbst, was das für Jungs sind.« Sie nahm Tim die Fernbedienung aus der Hand und spulte noch einmal zurück. »Guck dir das an. Nicht mal Adrenalin. Keine Wut, kein Zittern in der Hand, nichts.«
»Sieht so aus, als wäre er ziemlich leidenschaftslos.«
Sie drückte auf die Pausentaste und hielt das Band unabsichtlich an der Stelle an, als Boss mit grotesk verzerrtem Gesicht über das Geländer rutschte. »Nur, wenn man ihm diese Fassade abkauft. Aber auf der Aufnahme aus dem Speisesaal sieht man, dass ihm schon so einiges im Kopf rumgeht. Hier nicht mehr. Er nimmt sich nicht mal Zeit, Boss’ Reaktion auf den Messerstich abzuwarten. Kommt mir nicht so vor, als würde etwas Persönliches dahinterstecken.«
»Das ist genau das Problem. Niemand – weder die Wachleute, noch LaRue oder Freddy – konnte sagen, was für ein Motiv Walker gehabt haben könnte, Boss umzulegen.«
»Vielleicht gibt es ja gar keins.«
»Es muss eins geben. Wenn wir es finden können, sind wir zumindest schon mal auf der richtigen Spur.«
»Wie in dem Moment, als du draufgekommen bist, wozu das Pfefferminzmundwasser gut war?«
Tim drehte sich leicht um, um sie über seine Schulter mustern zu können.
Sie drückte noch einmal auf die Starttaste und ließ Boss in die Dunkelheit stürzen. »Bombastischer Mord. Spritzendes Blut. Freier Fall. Das war kein hastiger Meuchelmord auf der Empore. Du darfst nicht vergessen, dass Walker ein Stratege ist. Er hat in seiner Zelle auch schon falsche Spuren gelegt, um dich abzulenken.«
»Du glaubst also, sein Mord an Boss war nur ein Ablenkungsmanöver?«
»Ich glaube, du siehst das Ganze zu sehr vom jetzigen Standpunkt aus. Es gibt überhaupt keinen Grund, den Typen auch noch drei Stockwerke runterzuwerfen, nur damit er ihn unten aufschlagen hört. Der Mord an Boss war auf keinen Fall der Grund, warum Walker beschloss auszubrechen.« Dray zeigte auf die Häftlinge, die sich auf dem Bildschirm scharten. »Damit hat er einfach nur ein Höllenspektakel losgetreten, das ihm den Ausbruch erst möglich machte.«
Tim merkte, wie die Zahl der Möglichkeiten sich auf einmal vergrößerte – ein Gefühl, das ebenso aufregend wie beängstigend war. »Okay. Aber es bleibt immer noch die Frage: Warum bricht ein Typ aus, der seine Haftstrafe fast schon vollständig abgesessen hat?«
Dray stand auf, zog Tim hoch und führte ihn ins Schlafzimmer. »Wegen etwas, das keine anderthalb Jahre mehr warten kann.«