Читать книгу Der Ausbrecher - Gregg Hurwitz - Страница 6
1.
ОглавлениеDie Stimmung im Knast war eigentlich wunderbar friedlich gewesen, bis sich Spook mit Klebeband Rasierklingen an den Händen befestigt und zwei Mitglieder der Arischen Bruderschaft und einen halben Wachmann aufgeschlitzt hatte. Damit lagen auf Terminal Island die Nerven endgültig blank, und die Bewohner mussten vorerst unrasiert bleiben – Wegwerfrasierer waren Gegenstände, die von den Wärtern nicht beliebig ausgegeben werden durften. Die restliche Woche musste sich Walker jeden Morgen mit den anderen Pensionsgästen in eine Schlange einreihen, um sich mit einem Scheißrasierapparat rasieren zu lassen. Nach jeder Rasur tauchte der Gefängniswärter den Scherkopf in eine blaue Desinfektionslösung.
Im August heizte sich der Knast regelmäßig auf. Die Luft bebte wie in Fieberschauern. Die Männer schliefen schlechter und wurden immer gereizter. Gewaltbereit. Manche, so wie Spook, wurden kreativ. Walker ging dem ganzen Scheiß aus dem Weg, wie immer. Er hielt sich vom Gefängnishof fern – da braute sich einfach zu viel Ungutes zusammen – und setzte sich stattdessen auf die aufeinandergestapelten Truhen in seiner Behausung, um seinen Ausblick zu genießen.
Zwei windgebeutelte Palmen, eine Reihe Müllcontainer, ein Anker auf einem Betonpfeiler vor dem Gebäude der Küstenwache auf der anderen Straßenseite – alles gefiltert durch zwei Lagen Maschendraht und ein paar flotte Kringel NATO-Draht. Keine großartige Aussicht. Aber mehr hatte er eben nicht. Er liebte die beiden Palmen – Sally und Jean Ann. Er liebte den Anblick ihrer Kronen, die das Abendlicht bis zuletzt festzuhalten wussten und immer noch in Gold badeten, während sich auf dem Boden die Schatten schon wie große Pfützen ausbreiteten. Wenn er sein Gesicht ganz fest gegen die Betonmauer presste, konnte er noch den Rand eines dritten Baumes ausmachen, aber den kannte er nicht gut genug, um ihm einen Namen zu geben.
Walker trat von den Gitterstäben zurück und betrachtete seine Behausung. Dieser Anblick war ihm ebenfalls vertraut. Die ganzen eins achtzig mal zwei fünfzig. Etagenbetten, Metall, aus einem Guss. Toilette und Waschbecken aus rostfreiem Stahl. Rein offiziell sollten die Wände eigentlich kahl bleiben, aber Walker hatte neben dem Fenster mit Kaugummi ein Foto von Tess an die Wand geklebt. Eigentlich vor allem deswegen, weil er nicht wusste, was er sonst damit anfangen sollte. Abgesehen von dem Bild und ein paar Brandflecken von den Zigaretten auf seiner Truhe hatte er in den zweieinhalb Jahren nicht allzu viele Spuren an diesem Ort hinterlassen.
Sein Zellengenosse, ein leise sprechender Vergewaltiger, der sich jetzt Imaad nannte, hatte da schon mehr Nestbauinstinkt an den Tag gelegt. Auf einem schwarzen Samtwimpel glänzte ein arabischer Spruch in goldener Kalligraphie. Daneben war mit Kleister eine Postkarte mit der Abbildung einer Moschee an der Wand befestigt, denn Wrigley enthielt ja – Allah behüte! – Gelatine. Ein Gebetsteppich, den er aus liebevoll zusammengedrehten Klopapierstreifen gewebt hatte, stand aufgerollt in einer Ecke. Auf dem ausgefransten oberen Ende, sicher über Bauchhöhe, lag ein Koran, dessen Ledereinband sich schon seit einer geraumen Weile von den Blättern gelöst hatte. Imaad, der sich tadellos benahm, dabei aber auf eine geradezu aggressive Art introvertiert war, tolerierte Walker so, wie Walker auch ihn tolerierte. Gestern hatte sich Imaad Ammoniak in seine Nudelsuppe geschüttet, woraufhin er sich so stark übergeben musste, dass man ihn vorübergehend auf die Krankenstation verlegte, wo er dem allgemeinen Getümmel erst einmal entzogen war. Ein guter Schachzug für einen vorbildlichen Gefangenen, denn der Rauch am Horizont war unübersehbar.
Nach Spooks Rasierklingen-Eskapade stand fest, dass Gorillas und Arier noch mehr Blut lassen würden. Und die Cholos würden auch nicht ungeschoren davonkommen. Einer von den Norteños war auf Abwege geraten und von einem Ficker aus Surrenos aufgerissen worden, was die Glut einer halbwegs eingeschlafenen Vendetta neu angefacht hatte. In den letzten Nächten lag eine fast schon unnatürliche Stille über dem Zellenblock. Die Sträflinge horteten Lebensmittel. Trotz der Hitze liefen die Bandenmitglieder nur in ihren Leinenjacken herum und polsterten ihre Unterhemden mit Zeitschriften und Zeitungen aus, um sich gegen Messerstiche zu wappnen. Die Atmosphäre war ungefähr so, als wäre die ganze Woche über Gas aus allen möglichen Ritzen gesickert – und nun hielt jeder die Luft an und wartete darauf, dass jemand das Streichholz anriss.
Auf Walkers rechtem Arm prangte ein dunkles Komma über seinem Bizeps – das Yin des Yin-Yang-Symbols. Tommy La-Rue aus dem D-Block war der Tattookünstler, doch das Werk war unvollendet geblieben, da man seine Ausrüstung nach den Unruhen im Mai beschlagnahmt hatte. Walker hatte damals die Nadeln aus Unicor herausgeschmuggelt, wo die Gefangenen für einen Dollar zwanzig die Stunde schufteten. Sie nähten und packten und stellten so nützliche Dinge wie Papierschießscheiben her, damit die Polizisten das Erschießen von Häftlingen noch besser üben konnten. Walker hatte sich die Nadeln in die Hornhaut an seinen Fersen geschoben und zu LaRue geschmuggelt. Der band sie mit einem Schnürsenkel an die Spitze eines Bleistifts. Die Tinte kriegte man schon leichter – man musste einfach die Füllung einer Kugelschreibermine aufkochen in einem Löffel, wie Heroin, und die Farbe dann mit Zahnpasta und Seife vermischen. Der Schnürsenkel wurde mit der Tinte getränkt und die Nadel ritzte die Haut auf – und wenn es keine Razzia gegeben hätte, hätte Walker auch noch sein Yang bekommen. Aber da Kelly O’Connell sich bemüßigt gefühlt hatte, eine brennende Matratze aus der dritten Etage zu werfen, musste Walker drei Monate lang wie der letzte Vollidiot mit einer riesigen Kaulquappe auf dem Arm rumlaufen. Der Gerechtigkeit halber musste man aber sagen, dass Kellys Aufstand zumindest für kostenlose Unterhaltung gesorgt hatte. Erst das Bettzeug und der brennende Müll, der auf den Boden im Erdgeschoss hinunterregnete und dabei einen Funkenregen hinter sich herzog. Dann setzten sich die Häftlinge auf die bloßen Gitter ihrer Betten und sahen zu, wie die Mini-Bagger dort unten die verkohlten Haufen wegschaufelten. Das sorgte für ordentliches Aufsehen, aber sie hatten auch ihren Preis dafür bezahlen müssen. Einen Monat lang kleinere Strafmaßnahmen. Keine Basketbälle. Keine Zeitschriften. Kein Nachtisch.
Walker warf einen Blick auf Tess an der Wand und merkte, wie sich seine Gedanken überschlugen und ihn mit allen möglichen Szenarios quälten. Dagegen half nur geistiges Ausklinken, das hatte er mittlerweile gelernt. Gewichte heben, Kopfhörer aufsetzen, sein Vier-Sterne-Ausblick.
Er gab sich gerade wieder der nächsten stummen Zwiesprache mit Sally und Jean Ann hin, da schickte Boss nach ihm. Walker mochte es nicht, wenn man ihn herbeizitierte, und bei jedem anderen hätte er die Aufforderung einfach ignoriert. Doch Boss hatte seit Monaten nicht mehr nach ihm geschickt, und wenn Boss einen sehen wollte, dann ging man.
Sweet Boy lehnte sich an den Türrahmen, stützte seine glatte Wange gegen das abgeknickte Handgelenk und wiederholte gerade seinen Auftrag, da sagte Walker: »Schon gut, ich hab’s gehört.«
»Boss hat aber gesagt, jetzt sofort.«
»Boss kann warten.«
Sweet Boys Lider flatterten, als hätte Walker sich gerade die Nase an der Robe des Papstes geputzt. Dann machte er ein verächtliches, kleines Geräusch in der Kehle und verschwand. Walker stand auf und streckte sich. Vom Eipulver vom Frühstück hatte er immer noch einen widerlichen Geschmack im Mund, deswegen bürstete er sich kurz die Zähne. Er schlug mit der Justizvollzugsgummizahnbürste auf den Waschbeckenrand, bevor er sie in eine Tasse aus dem Speisesaal fallen ließ. Als er sich vorbeugte, um auszuspucken, rutschte ein Titaniumkreuz aus seinem T-Shirt-Ausschnitt. In seinem ersten Monat im Knast hatte LaRue ihm die dünne schwarze Schnur – sie ähnelte eigentlich eher einem Schnürsenkel – für den Anhänger besorgt.
LaRue konnte alles besorgen, von albanischem Hasch bis zur E-Mail-Adresse von Catherine Zeta-Jones’ PR-Agenten, dem man schreiben konnte, um sich ein Autogrammfoto schicken zu lassen. LaRue war der Mann, den Walker noch am ehesten als Freund bezeichnen würde hinter diesen Mauern. Oder auch außerhalb. Er arbeitete für alle und keinen, und es gefiel Walker, wie LaRue höchst demokratisch jede Art von Bündnis ablehnte.
Walker trat auf die Empore hinaus und warf einen Blick über das hüfthohe Geländer nach unten, auf den Boden zwölf Meter unter ihm. Er konnte das Klirren der Gewichte und die Rufe der Bocciaspieler im Nordhof hören. Die Echos wurden von der hohen Decke verzerrt und zurückgeworfen.
LaRue eilte mit gesenktem Kopf auf ihn zu und drückte seine Ellbogen fest an den Körper, um die Schmuggelware zu sichern, die er gerade transportierte. Sie gaben sich die Hand und stießen sich kurz mit den Schultern an.
»Lass mal dein Tattoo sehen.« LaRue schüttelte den Kopf, während er Walkers einsames Yin musterte. »Das machen wir fertig, sobald dieser ganze Scheiß sich hier wieder gelegt hat.«
»Hast du eine Nachricht für mich?«
»Zum Mittagessen kannst du damit rechnen.« Er zauberte von irgendwo eine Zigarette her, drückte sie Walker in die Hand und ging wieder seiner Wege.
Walker steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und setzte seinen Weg über die Empore fort. Boss Hahn, eine der Führungspersönlichkeiten der Arischen Bruderschaft, hatte die beste Zelle in der dritten Etage des J-Blocks, direkt neben dem Fernsehzimmer. Als Walker vor die Zellentür trat, versperrte ihm Kellys Arm den Weg, aber Boss nickte ganz leicht, der Arm verschwand, und Walker trat ein.
Ein rotes Tuch vor dem Fenster dämpfte das Licht zu einem sanften Glühen. Sweet Boy lag auf dem Bett und las einen Liebesroman. Boss’ Zellengenosse, Marcus, war gerade dabei zu kacken, wobei er ein Bein ganz aus der Hose herausgezogen hatte, für den Fall, dass eine unerwartete Schlägerei losbrechen sollte. Wenn man im Gefängnis sonst nichts lernte – das lernte man bestimmt: Jeden Moment kann man hinterrücks überfallen werden. Der Gestank vermischte sich mit dem Geruch der Ramen-Nudeln auf der Kochplatte. Nach einer Weile nimmt man solche Sachen einfach nicht mehr wahr. Marcus, dem starken Mann der Arischen Bruderschaft, fehlten oben zwei Schneidezähne, so dass er mit geschlossenem Mund lächeln und seinem Gegenüber dabei trotzdem noch die Zunge rausstrecken konnte.
Boss saß auf seiner Truhe, die sich unter seinem Gewicht bog, und beugte sich über ein Schachbrett aus Papier. Die Figuren waren aus Seife geschnitzt, die eine Hälfte unbehandelt, die andere mit Schuhcreme geschwärzt. Ein Kronkorken musste einen fehlenden Bauern ersetzen. Boss tippte gegen den Kopf eines Springers. Wurstfinger, die sich an den Nägeln trichterförmig verbreiterten. Sein Arm quoll derartig vor Muskeln über, dass die Wölbungen kreisförmig aneinanderstießen – Deltoideus, Bizeps, Unterarm. Wie Walker trug auch Boss die Gefängniskleidung: khakifarbene Hose, hellbraunes durchgeknöpftes Hemd. Seinen Einfluss konnte man nur an seinen Nikes erkennen – Walker trug die üblichen Leinenhalbschuhe – und an den rot-weißen Kartons, die sich gegenüber vom Bett an der Wand stapelten. Boss hatte Zigaretten bis zum Abwinken, und mit Zigaretten konnte man sich im Gefängnis so gut wie alles kaufen, vom kleinen Auftragsganoven bis zu einem Messer, das dem Rivalen plötzlich in der Nierengegend steckte. Auf Boss’ Hals war das Symbol der Arier eintätowiert: das Kleeblatt und dreimal die Sechs. Er war noch von der alten Schule. Mittlerweile war die AB schlauer und begann, ihre Abzeichen zu verstecken.
Kelly setzte sich wieder auf seinen Platz gegenüber von Boss. Der studierte weiterhin die Lage und trug einen leicht schmerzerfüllten Gesichtsausdruck zur Schau. Schließlich nickte er in Sweet Boys Richtung: »Warum bist du nicht sofort gekommen, als sie dir Bescheid gesagt hat?«
Walker zuckte mit den Achseln. Schob die unangezündete Zigarette von einem Mundwinkel in den anderen.
»Antworte gefälligst.« Kelly sprang auf und baute sich fünf Zentimeter vor Walker auf. »Was geht, GI Joe, willst du aufmucken, oder was? Nein? Lieber nicht? Dann antworte dem Boss, verdammt noch mal.«
Vier Männer. Sie konnten ihn selbstverständlich überwältigen, aber es wäre die Verletzungen nicht wert. Walker wiederholte sich sein Mantra. Sechzehn Monate. Zwei Wochen. Vier Tage. Boss machte ein zustimmendes Geräusch, obwohl niemand etwas gesagt hatte. »Walk redet nicht viel, weißt du. Der macht alles mit sich allein aus. Is doch so, oder, Walk?« Er nahm den Läufer hoch, tippte sich damit nachdenklich an die Lippen und setzte ihn dann wieder ab. »Die Dinge spitzen sich zu, und meine regulären Mitarbeiter stehen alle unter Beobachtung. Du kannst ebenfalls kämpfen, das wissen wir. Diese ganze Zeit, die du bei der Army warst. Du musst Spook für mich abstechen, wenn er wieder rauskommt.«
»Was krieg ich dafür?«
»Schutz.«
»Ich mein’s ernst.«
Boss schnaubte kurz, dann deutete er mit einer lässigen Handbewegung auf seine Marlboro-Wand. »Du kannst leben wie ein König, verdammt noch mal.«
Walker sah, wie Marcus sich den Hintern abwischte. »Danke trotzdem.«
»Du wirst ein Teil der neuen Ordnung werden.«
»Ich mochte die alte schon nicht.«
»Okay. Du willst also deine Zeit absitzen wie ein guter Christ und danach wieder raus in die Welt. Wie immer.«
»Wie immer.«
»Okay«, meinte Boss. »Okay, okay, okay.« Er hob langsam den Kopf und bedachte Walker mit dem berüchtigten Blick aus seinen starren blauen Augen. »Ich sorg hier für Ordnung. Vergiss das lieber nicht.« Und mit plötzlich aufflammender Wut fügte er hinzu: »Und bleib mir bloß aus den Augen, du Wichser.«
Sweet Boy ließ sein Buch auf die Brust sinken. Marcus und Kelly brauchten auch einen Moment, bevor sie sich wieder entspannten. Walker wartete ab, ob er hiermit entlassen war, aber Boss hatte seine Aufmerksamkeit schon wieder dem improvisierten Schachbrett zugewandt. Gedankenverloren fummelte er an den Köpfen der weißen Läufer herum.
Schließlich zog er eine Grimasse und lehnte sich mit seinem massigen Körper zurück. »Ich war noch nie besonders gut in Schach.« Ein resignierter Seufzer. »In wie vielen Zügen setzt er mich matt, Walker?«
Walkers Augen zuckten zum Schachbrett. »Drei.«
Dann machte er einen Schritt zurück und verließ die Zelle.
Picknicktische aus Plastik, fest am Boden verschraubt. Krümeliger Hackbraten, wässriger Mais, ein harter Kuchenwürfel auf einer weißen Untertasse. Trotz des Essens hatte Walker im Knast fünfzehn Pfund zugenommen, vor allem an den großen Rückenmuskeln und am Brustkorb. Ein Gefängniskörper, den man sich mit Hanteln und Gewichten holte, weil man ja sowieso nichts Besseres zu tun hatte. Das zusätzliche Körpergewicht – und gleich zu Anfang ein paar effektive Demonstrationen seiner Nahkampffähigkeiten – hatten ihm das Recht verschafft, allein zu essen. Ohne irgendwelche Verbündeten. Sogar LaRue ließ ihn bei den Mahlzeiten in Ruhe. Er flitzte stattdessen lieber durch die Gegend und betrieb im Speisesaal seinen florierenden Handel.
Darum war Walker auch einigermaßen angefressen, als Moses Catrell beim Abendessen an seinen Tisch kam und sich zu ihm setzte. Auf Moses’ Ebenholzunterarm wand sich der Drache der Black Guerilla Family um einen Gefängnisturm und hielt dabei einen Wärter in den Klauen.
»Das war eine reine Vergeltungsmaßnahme von Spook«, erklärte Moses und nahm damit den Faden einer Diskussion auf, von der Walker gar nicht wusste, dass er an ihr beteiligt war. »Boss hat ihn im Labor vergewaltigen lassen, von zwei solchen Superfickern. Mit acht Stichen mussten sie ihn nähen.«
Walker hatte noch sechzehn Monate, zwei Wochen und vier Tage vor sich, und das Letzte, womit er sich abgeben wollte, war der Zustand von Spook Roberts Arschloch. Er würgte einen Mundvoll Hackbraten herunter und spülte mit einem Schluck Apfelsaft nach.
»Wenn Boss einen Gang höher schaltet«, fuhr Moses fort, »dann werden hier noch ein paar Leute sterben.«
»Ich hab keinen Ärger mit Boss. Ich halt mich aus seinen Angelegenheiten raus und er sich aus meinen.«
»Du bist der Einzige, der irgendwas gegen den Mist unternehmen könnte, der sich hier anbahnt.«
»Geht mich nix an.«
»Scheiße, du Blödmann.« Moses blies Luft durch die halbgeschlossenen Lippen. Walkers Auffassung von Altruismus schien ihn offensichtlich wenig zu beeindrucken.
Walker kannte diesen Typ – der wütende kleine Junge, der sich in seinem Gangsterkörper ganz groß vorkam. Der immer noch glaubte, dass das Leben ihn gerecht behandeln müsste. Der einfach nicht kapierte, dass die Welt sich nicht um Gerechtigkeit scherte, nicht, wenn es um solche gestrandeten Existenzen und zur Strecke gebrachten Gangster wie die Insassen von Terminal Island ging.
»Geh zu Boss und nimm die Friedenspfeife mit«, bat Moses.
»Auf dich hört er.«
Walker ließ das Wasser von seinem Mais durch die Zinken seiner Plastikgabel tropfen. »Ach ja?«
»Ja, verdammt noch mal. Ich hab gehört, wie du kämpfen kannst.«
»Märchen.«
»Aha, und deswegen lässt dich also auch die AB in Ruhe?«
»Zieh mich da nicht mit rein.«
»Das ist also alles, was du dazu zu sagen hast?«
Walker überlegte kurz. »Verschwinde von meinem Tisch.«
Moses verzog den Mund zu einer einseitigen Grimasse, die er einstudiert hatte, um äußerste Empörung zu zeigen. Dann sah er Walker an, sog noch einmal die Luft durch die Zähne und zog sich zurück. Walker kippte den Rest seines Apfelsafts hinunter und fischte die letzten Maiskörner vom Teller. Als er aufblickte, sah er LaRue auf sich zukommen – nicht gerade im Lauftempo, aber mit seltsam energiegeladenen Schritten.
»Und?«, fragte Walker.
LaRue beugte sich vor, schnaufte heftig vor Anstrengung und flüsterte feucht gegen Walkers Wange: »Links.«
Walker tat sein Bestes, um die Nachricht mit Fassung zu tragen. Er fasste die Gabel so fest, dass seine Finger ganz taub wurden, genau wie der Rest seines Körpers.
LaRue bedachte ihn mit einem besorgten Blick, tätschelte ihm feierlich den Rücken und schoss wieder davon.
Walker schöpfte die Toilette leer, um durch das Abflussrohr die unteren Stockwerke belauschen zu können. Mit schräg gelegtem Kopf saß er vor der leeren Metallschüssel und hörte der Vergewaltigung unten in Boss’ Behausung zu. Die Geräusche von fünf oder sechs großen Männern, die sich schweigend in dem beengten Raum bewegten. Die kehligen Schreie wurden zwar von einem Stoffknebel erstickt, waren aber immer noch laut genug, um an Walkers Ohren zu dringen, und vielleicht auch an die Ohren des Gefängniswärters im Erdgeschoss, der an seinem elenden kleinen Tischchen vor dem einzigen Ausgang saß, einer stahlverstärkten Schiebetür. Der Junge, der hier seine Initiation erhielt, war aus Orange County, ein Surfertyp mit Zottelfrisur. Er war gebräunt und dünn und hatte nicht die geringste Chance. Der Zählappell lag fünfzehn Minuten zurück, und die Geschichte würde für ihn erst beendet sein, wenn sie für die anderen beendet war. Terminal Island war kein Hochsicherheitsgefängnis, es gab keinen zentralen Hebel, mit dem alle Zellen verriegelt wurden. Hier hatte man noch ganz altmodisch einen Schlüssel für jede Tür, und das wiederum bedeutete, dass nur wenige wirklich eingesperrt wurden und man sich nachts ziemlich problemlos im Gefängnis bewegen konnte.
Gut für die Wölfe, schlecht für die Schafe.
Schließlich verstummten die gedämpften Geräusche. Boss würde sich jetzt gleich auf den Weg zu den Duschen am Ende der Etage machen. Er war ein Gewohnheitstier, und mit der Hygiene nahm er es peinlich genau.
Walker setzte sich im Schneidersitz neben seine offene Zellentür und blickte in den schwarzen Abgrund, der hinter dem Geländer gähnte. Wenn es erst einmal ganz ruhig wurde, war die Stille beängstigend. Eine Lagerhalle aus Beton, die selbst schockiert darüber war, wozu sie genutzt wurde. Ab und zu zogen sich die Vollzugsbeamten Mokassins über und krochen in die Wände zwischen den Zellen, in denen die Rohre verliefen, um die Zellenbewohner auszuspionieren. Natürlich hörte sie jeder, wenn sie wie riesige Mäuse hinter den Wänden entlangschlurften.
Noch immer konnte er den Geruch des Tages wahrnehmen. Der Moschus eines schlecht gelüfteten Gebäudes mit hundert zusammengepferchten Männern. Darüber lagerten die Düfte von illegalen Kochplatten – Reis, Bohnen, Nudeln in Thunfischdosen. Er schloss die Augen und wartete, bis er die Empore quietschen hörte. Ein Quietschen, das hundertdreißig Kilo Lebendgewicht verriet, dazu die wohlbekannte Kadenz von Schritten. Er hatte genügend Zeit allein im Dunkeln verbracht, um das Stöhnen des Gitters unter seinen Füßen richtig deuten zu können, um die Männer an ihrem Atem zu erkennen. Seit seinen Tagen bei der Aufklärungstruppe hatte er sich nicht mehr so genau mit den Geräuschen beschäftigt, die die Menschen so von sich gaben.
Erst spürte er die Vibrationen am Boden, dann hörte er das Metall in Abständen von einer halben Sekunde schwach aufstöhnen. Noch ein paar Schritte, dann gesellte sich das Geräusch des rasselnden Atems dazu.
Das war die Melodie von Boss Hahn in Bewegung. Walker stand auf und blieb im Dunkel seiner Zelle stehen. Er zählte die Schritte und schätzte ab, wie nah Boss schon war. Dann trat er mit einer Vierteldrehung auf die Empore hinaus und stand Auge in Auge mit Boss. Der große, dicke Mann hatte sich ein zerschlissenes weißes Handtuch um Hüfte und Oberschenkel geschlungen. Von der Anstrengung des Gehens verzog er die Lippen und entblößte dabei seltsam quadratische Zähne. Seine Wangen und sein Brustkorb glänzten von Schweiß. Zuerst drückte sich Überraschung auf seinem Gesicht aus, doch dann setzte er ein arrogantes Lächeln auf.
Walker drückte das harte Plastik gegen die Handfläche. Dann schwang er den Arm jäh nach oben und erwischte Boss ganz oben am Hals. Schwarz sprühte es in die Luft, der Mann grunzte und ruderte mit seinen fetten Armen, als wollte er das Gleichgewicht halten. Walker legte ihm eine Hand auf den bulligen, glitschigen Brustkorb, die andere unters Kinn, und dann stieß er Boss übers Geländer. Er verschwand in der Dunkelheit, und das Handtuch flatterte ihm weiß hinterher.
Ein Augenblick kompletter Stille.
Dann schlug der Körper auf. Der Vollzugsbeamte schaltete das Licht ein, und da lag Boss, keuchend und zuckend, mit unnatürlich verdrehten Gliedmaßen. Das Blut floss träge aus einer Wunde hinter seinem Ohr und vergrößerte langsam die Blutpfütze, die sich bereits um seinen Oberkörper gebildet hatte. Ein Arm brachte noch eine paddelnde Bewegung über den Boden zustande, malte einen zittrigen Kreisbogen auf die Fliesen und erstarrte dann.
Der Gefängniswärter stierte auf die rosarote Leiche herab, deren Lippen zu einem perfekten O gerundet waren. Langsam trat er an die Stahltür, die den J-Block hermetisch abriegelte. Gleichzeitig tastete er nach dem Funkgerät an seinem Gürtel und fand es im zweiten Anlauf. Ein Moment atemlos gespannter Stille, während hundert Augenpaare aus fünfzig Zellen starrten. Dann plötzlich stieg ein Brüllen auf, wie aus einer einzigen Kehle, und alle Gefangenen stürzten gleichzeitig aus ihren Zellen.