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Apokalyptische Vernunft denkt Gott eschatologisch

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Eine sehr grundsätzliche, geradezu apriorische Bemerkung zu diesem Begriff apokalyptischer Vernunft scheint mir an dieser Stelle vorweg notwendig. Denn es muss zu Beginn meines Analyse-Weges an Texten der Bibel der Eindruck vermieden werden, als sei apokalyptische Vernunft sozusagen ein Text-Phänomen, als sei anhand von Texten erschöpfend zu begreifen, was diese Vernunft ausmacht. Das ist nicht so. Deshalb stelle ich hier vor den hermeneutischen Hinweisen zu meiner biblischen Analytik eine sozusagen vor-hermeneutische Warntafel auf.

Gott als Offenbarer denken heißt schon, ihn voraus-setzen und jede zu bedenkende Wirklichkeit im Licht der Offenbarung Gottes als eine Ganze „zu Ende zu denken“. Gottes Offenbarung „anzunehmen“ schließt schon ein, dass die „Letzten Dinge“, um die es uns in dieser Annahme geht, nicht prinzipiell offen bleiben können, weil sonst Gott nicht Gott wäre oder seine Offenbarung nicht wirklich seine. Sicher gibt es andere Weisen, Gott oder das Göttliche zu denken oder zu glauben, außerhalb apokalyptischer Vernunft. Aber dann offenbart sich Gott nicht in der Welt, wie Ludwig Wittgenstein sagt.10 Er wird nicht in seinem Handeln in der Geschichte erkannt. Deshalb wird sich ein anderes Denken, das nicht selbst aus apokalyptischer Vernunft heraus denkt, deren „Wissens“-Anspruch gegenüber stets vorkommen wie der Hase gegenüber dem Igel in deren berühmtem Wettlauf: Während es menschlichem Denken „natürlich“ zu sein scheint, von sicheren Grundlagen, Erfahrungen oder Axiomen ausgehend den offenen Weg einer Annäherung an das mögliche ganze Er-Gebnis seiner Wahrheit zurückzulegen, ist ein Denken apokalyptischer Vernunft gleichzeitig mit seinem Anheben in der Offenbarung auch schon am Ziel, mit seinen ersten schon bei seinen letzten Worten, wie viel dazwischen auch noch ungedacht und ungesagt sein mag.11 Wo Gott gedacht wird als Ausgangspunkt des Denkens, scheint immer schon irgendwie „klar“, worauf das Denken insgesamt hinaus läuft. Es ist in seiner „Welt-Anschauung“ nicht mehr prinzipiell ergebnisoffen. Man kann logisch nicht Gott in seiner Offenbarung bekennen, denkerisch aber prinzipieller Skepsis verfallen.

Das gilt insbesondere für den Bereich, den zu klären sich diese Analyse apokalyptischer Vernunft vorgenommen hat: für das Verhältnis von Offenbarungsglauben und Geschichte. Man kann offensichtlich nicht Gott am Anfang oder inmitten der Geschichte wirkend vernehmen, sein zukünftiges Wirken jedoch offen lassen. In diesem logischen Sinn denkt apokalyptische Vernunft von der Geschichte eschatologisch: Indem sie Gott denkt, denkt sie Geschichte nicht ziellos. Dabei bleibt noch offen, wie ausdrücklich sie überhaupt Geschichte denkt, und damit auch, in welchem reflektierten Grad sie Eschatologie, Lehre von der Zukunft und den „Letzten Dingen“ entwickelt. Sie wird aber in dem Maße eschatologisch denken, in dem sie geschichtlich zu denken beginnt. Sie scheint sogar durch ihren gleichzeitigen Zugriff auf die Gegenstände von ihrem Anfang und ihrem Ende her, also dadurch, dass sie alle Dinge „zwischen Gott“ stellt, zur Herausbildung des Totalbegriffs von „der“ Geschichte entscheidend beizutragen: Ist doch eine solche Totale letztlich nur denkbar, indem man Geschichte endlich, ihr Ende antizipierend denkt. Geschichte erscheint dann als „teleologischer Gesamt-Zusammenhang aller Ereignisse, der erst von seinem nahe bevorstehenden Ende her als ganzer verstehbar und erzählbar wird.“12

Auch wo Offenbarungsdenken seine Reflexion noch nicht so weit vortreibt, ist ihm die Tendenz zu dieser Totalperspektive durch die Art, wie ihr Gott Anstifter des Denkens geworden ist, schon mitgegeben. Gottes Konkretion im menschlichen Vernehmen die eigene Vernunft fundieren zu lassen, bedeutet schon, „apokalyptisch“ zu denken im Doppelsinn: Im Denken Gott zum Anfang zu haben, bedeutet, ihn für das Bedachte – Dinge, Welt, Mensch, Geschichte – als Ende zu haben. Mit dem Bekenntnis, Gott habe sich geoffenbart, wird mitten in der Gegenwart ein „Letztes“ behauptet, denn Gegenwart Gottes kann qualitativ nichts Vorläufiges sein. Es „eignet dem ‚Kommen‘ Gottes dort, wo es erfahren wird, stets der Charakter des Eschatologischen“13, der Unterbrechung der Zeit durch etwas Letzt-Gültiges, durch eine „Vorwegnahme und Vorankündigung des Zukünftigen, des Ultimum.“14 Der Offenbarungsvernunft wird Gott zur „Apokalypse der Welt“.

Andererseits gilt aber auch die Umkehrung dieses logischen Zusammenhangs: Man kann den Gott der Offenbarung nur eschatologisch denken, heißt auch, dass streng genommen erst eschatologisch Gott wirklich denkbar wird! So gesehen ist das „natürlicher Denkweise“ so steil anmutende, das Letzte, das Ende schon vorwegnehmende Gott-„Wissen“ apokalyptischer Vernunft gar kein „Wissen“ im üblichen Sinn: Denn gerade, indem es eschato-logisch denkt, kann es sich gegenwärtig nicht verifizieren. Seine scheinbare Igel-Überlegenheit der Hasen-Bewegung sonstigen Denkens gegenüber erweist sich doch als eine recht missliche Situation: Sein Ausgangspunkt in der Offenbarung liegt in seiner Erinnerung und Überlieferung, deren Verifikation liegt in der Zukunft der Verheißung. Auch in diesem Sinn ist Offenbarungsdenken allerdings Denken „zwischen Gott“: zwischen seiner Offenbarung und deren Erfüllung. Über beides verfügt dieses Denken so wenig wie über Gott, – strukturell: so wenig wie die Peripherie über die Mitte, das Haus über das Fundament.

Karl Barth, stets bemüht, das Denken von Offenbarung her so rein wie möglich von anderen Weisen des Denkens zu unterscheiden, hat diese „unmögliche Situation“ festgehalten, in der Offenbarung streng genommen nur erinnert und erwartet werden kann, gegenwärtig aber wie eine Leerstelle, eine leere Mitte des Denkens wirkt, die nicht wir, sondern nur die Offenbarung selbst füllen kann.15 Dies gilt in der Zeitstruktur dieses Denkens, weil es Gottes Handeln nicht erzwingen, nicht „auf den Plan führen“, nicht herbei demonstrieren, sondern nur auf es verweisen kann. Gottes bezeugtes Kommen bedeutet nicht, „dass Gott schon ‚gekommen‘, ‚angekommen‘ sei“16; aus dem Ereignis Offenbarung in seiner ganzen letzt-gültigen Qualität „von innen“ wird keine äußerlich manifeste Vergangenheit: Eschatologische Offenbarung wird nicht historisch, – nur ihr Zeugnis, ihr Niederschlag. Selbst aktuelle Offenbarung ist als solche nicht „fest-stellbar“. „Auch die biblischen ‚Tatsachen‘“ haben „den Charakter der Verheißung“, und die auf ihnen beruhende apokalyptische Vernunft ist ja selbst keine Apokalypse, sondern eben schon ihr Vernommen-Sein, schon Rezeption, Interpretation. Diese Vernunft vollzieht allerdings die sie bewegende Offenbarung nach, indem sie von ihr erzählt, ihre Wirklichkeit und Evidenz aufzeigt, indem sie denkend „von ihr ausgeht“. Aber letztlich kann sie Offenbarung nicht selbst verifizieren. Offenbarung heißt ja, dass Gott Gott ist und doch nicht einfach bleibt, sondern „zur Welt kommt“. Daher rührt der Wille apokalyptischer Vernunft, höchste Abstraktion und Konkretion miteinander zu verbinden: Er beruht letztlich auf dem Verlangen, von Gott und Welt gleichzeitig reden zu können. Das gelänge aber erst wirklich, wenn Offenbarung sich erfüllen würde, wenn sie in den Modus der Offenbarkeit, der Transparenz („Aufgeklärtheit“) der Dinge, der Welt für Gott, der Sichtbarkeit der Mitte in der Peripherie überginge. Solange dies nicht vor unseren Augen geschieht, ist apokalyptisches Denken Denken im Modus des Glaubens und der Hoffnung: Denken von Gott als dem, der dieses Denken von ihm bewahrheiten wird.

Glaube und Hoffnung sind hier ganz eng zusammen gebunden, denn Offenbarungsglaube besteht nicht primär in einer logischen Differenz des nur unsicher Gemeinten zum sicher Beweisbaren, sondern in einer Zeitdifferenz zwischen der durch Offenbarung verheißenen, aber doch gegenwärtig ausstehenden Wirklichkeit.17 „Letztbegründungen sind, folgt man dem Geist der biblischen Traditionen, immer Zuletztbegründungen.“18 Und dabei sucht Eschatologie nicht einfach qualitätslos „ein letztmögliches Denken des Letzten“, sondern das „des letzten Guten“19, so wie der sich offenbarende Gott nicht das namenlos Absolute ist, sondern der, dessen Namenseröffnung (etwa in Exodus 3, vor Mose im brennenden Dornbusch) eine Zusage von Zukunft bedeutet: „Ich werde sein, der ich sein werde“, d. h. doch: Gott, der sich in Offenbarung zu erkennen gibt, gibt sich in seiner Zuwendung zu erkennen, mit der er denen, denen die Offenbarung gilt, in eine eröffnete Zukunft hin voraus ist.20 Offenbarung stiftet also gleichzeitig Glaube als Hoffnung, sagen wir es ruhig so banal: auf ein „Happy End“ mit ihm! Gerade angesichts dessen, was die Hoffnung auf Gottes Bewahrheitung in der Welt von ihm erwartet, erfährt sie den gegenwärtigen Zustand der Welt als gegensätzlich zu dem, was sein sollte, – viel schärfer, als wenn sie diesen Zustand nur aus sich selbst erklären müsste.

Aus diesem Gegensatz von Verifikationserwartung und gegenwärtiger Wahrnehmung bricht der ursprüngliche Doppelsinn des „Apokalyptischen“ auf: Wo ein Offenbarungsdenken sich der Geschichte zuwendet, wird es „angesichts der abgründigen Leidens-Geschichte das apokalyptische Erbe“21 einklagen: Müsste angesichts des Anfangs in Gott diese Geschichte nicht anders verlaufen, als sie es tut? Wo das Glaubensdenken diesen Zwiespalt extrem erfährt, wo es verheißene und erlebte Wirklichkeit absolut nicht mehr überein bekommt, erhält das Denken Gottes zwischen Zweifel und Hoffen einen insgesamt geradezu eschatologisch-konjunktivischen Charakter: „Es wird sich zeigen, ob Gott will und er lebt“, es wird das „Hoffen auf Gott ... zu einem Hoffen auch für ihn.“22 Der Offenbarungsvernunft wird Gott erst wirklich wahr in der Apokalypse der Welt.

Meine These lautet also zusammen genommen: In der apokalyptischen Vernunft gibt es Theo-logie eigentlich nur als Eschato-logie. Mag es auch sonst metaphysische, mystische oder andere Theologien, Reden von Gott geben: Diese von einem sich kundgebenden, von einem in Denken und Erfahrung von sich aus konkret werdenden Gott erfüllte Vernunft ist erst „in der Eschatologie ‚bei sich selbst‘“, weil „hier überhaupt alles, was sie als wirklich ausgeben kann, begründet ist.“23 Diese Vernunft ist von Offenbarung als ihrem Anfang und ihrer Unterbrechung abhängig; anders als jede sonstige Vernünftigkeit „bildet sie die Maßstäbe dessen, was sie als ‚wirklich‘ erkennen kann, dort, wo Gott und alle seine Werke evident wirklich werden, wo sie nicht mehr bloß dialektisch mit der üblicherweise so genannten ‚Wirklichkeit‘ vermittelt, sondern unvermittelt in sich selbst und aus sich heraus wirklich sind.“24 Das aber sind sie erst, wenn Wirklichkeit – die übliche, die uns wahrnehmbare – und die Verheißungen Gottes zusammen fallen. Apokalyptische Vernunft denkt eschatologisch, weil sie gerade nicht fundamentalistisch oder ideologisch den Augenschein überdeckt durch den Schein ihres Glaubens. Sie mag deshalb Gott erst wirklich denken, wenn er wirklich geworden ist, und deshalb setzt sie darauf, dass umgekehrt die Evidenz des Gedankens Gott als dem ersten und letzten Denkbaren stärker ist als die scheinbare Statik der Wirklichkeit. Apokalyptische Vernunft kann – jedenfalls in ihrer ihr inhärenten Tendenz, dort, wo sie reflektiert zu sich selbst kommt – „von einer Wirklichkeit Gottes überhaupt nur unter den Bedingungen eines neuen Seins im ganzen sprechen – selbst auf die Gefahr hin, dadurch als reine Utopie ... abgeschrieben zu werden“25.

Apokalyptische Vernunft

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