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Geschichtstheologie durch Spurensuche

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Die Deuteronomisten sind moralistische Geschichtsdeuter. Sie wollen jenen Knüppel weiterreichen, den die Gottesworte der Propheten zwischen die Beine der geschichtlichen Akteure geworfen haben. Vor diesem Standpunkt „gelten die Siege nicht, hier wird im Gegenteil der Besiegte so oft dankbar nach vorn gerufen. Die scheidende Linie bleibt die eine: die zwischen echtem und falschem Recht, die zwischen echter und falscher Geschichte. Nur wo das wahre Recht herrscht, ist hier Geschichte.“41

Dennoch haben die Deuteronomisten gerade bei den großen Gestalten wie David und Salomo das Grau und das Zwiespältige stehen gelassen, wie es die Erzählungen enthielten. Sie haben die Zwischentöne und Widersprüche – gerade um das Königtum insgesamt und die einzelnen Könige – nicht durch ihre großen Urteile getilgt. Auf manche Strecken lassen sie den Leser sogar fast mit dem Fluss dessen allein, was gewesen ist. Nicht zuletzt in diesem Umgang mit ihren Quellen erweisen sich die Deuteronomisten als echte Geschichtstheologen, für die Geschichte der Gegenstand ihres theologischen Fragens und nicht nur das Exempel feststehender Lehren ist. Schließlich erforderte ja schon die Wahl des kritisch-„moralistischen“ Kriterienrahmens dieser Geschichtsdarstellung einen „Entscheid, der bisherigen Orthodoxie strikt zuwiderlaufende Erfahrung theologisch ernst zu nehmen, sie zu verarbeiten“ und so eine „Konzeption zu wagen, von der von vornherein noch keineswegs feststeht, ob sie sich ihrerseits als orthodox durchsetzen wird.“42

Damit hat die Deuteronomistik, auch indem sie schließlich kanonisch maßgeblich wurde, der biblischen Tradition ein Erbe an Beweglichkeit mitgegeben, das der apokalyptischen Vernunft ihre geschichtstheologische „Anfälligkeit“ stets erhalten wird: Für sie ist „das hermeneutische Gefälle zwischen Tradition und Erfahrung von der Erfahrung her zu denken. Das heißt: Die Tradition dient nicht der Negation von Erfahrung, sondern Erfahrung transformiert die Tradition.“43

Wie es am Nullpunkt, den diese Geschichtsschreibung re-konstruiert, in der Prophetie zum Umschlag in die Heilsverheißung kommt, so überträgt die Deuteronomistik auch ihre Hoffnung auf die Wende zum Neuaufbruch, zur wahren Gemeinde Gottes, ihre Hoffnung auf einen „Neuen Bund“ retrospektiv begründend in die Vergangenheit: Ihre Geschichtsschreibung ist nicht nur Kritik und Klage, sondern auch Spurensuche des Gelungenen. Geschichtliche Erinnerung war in Israel schon zuvor im Kern ein Sich-Festmachen an gewissermaßen in die Vergangenheit gelegte Visionen, sei es an die des Bundes mit Abraham, sei es die des Exodus aus Ägypten, sei es später die des Königtums Davids auf dem Zion. Aber in der Deuteronomistik sind diese Modelle nicht mehr unkritisch wie Ikonen auf Goldgrund auszumalen. Die kritische Erinnerung seit den Propheten, die Erinnerung Israels gegen sich selbst hat vor diesen Modellzeiten nicht halt gemacht: Sie kennt Israels Kleinmut, Abfall und Sünde gerade in der Wüstenzeit, sie sieht das Königtum als problematische Institution auch, wo es erfolgreich und glanzvoll war, sie weiß, dass keine politische oder sakrale Institution, kein Zion und kein Tempel Gottes Segen garantieren können, wo Menschen ihn verwirken. Die Geschichtserzählungen Israels, wie sie auf uns gekommen sind, bewahren die Utopien der Vergangenheit als Erinnerungen an Gottes Dennoch gegenüber menschlicher Unzulänglichkeit (z. B. in der Geschichte Davids) und als Erinnerung an die Opponenten gegen den bösen Strom der Zeit (wie bei Elia und den späteren Propheten). Es stimmt, dass dies dieser Geschichtsschreibung wie schon der Prophetie selbst einen Ton „ausgesprochener Intoleranz“ verleiht44 – gegen die Synkretisten, die Götzenverehrer, die Gleichgültigen. Aber man darf dies nicht aus seinem Kontext lösen: Intoleranz ist hier die Haltung des Unterdrückten, aber auch des sich selbst als schuldig Erkennenden, der auf der Nicht-Relativierbarkeit von Unrecht beharrt.

Historie der Verheißung ist den Deuteronomisten Erinnerung an die kritischen Unterbrechungen der jeweils Herrschenden, derer, die Geschichte „machten“, bis hin zur Erinnerung an die Opfer der eigenen Geschichte. „So ist die Geschichtstheologie Israels eine Form von Widerstand gegen alles, was der Geschichte als Befreiungstat JHWHs widerspricht. Sie will gerade in Zeiten der Erschütterung und der drohenden Gottlosigkeit eine unzerstörbare ‚Heimat‘ in der ‚Geschichte‘ JHWHs selbst anbieten, die freilich wie die ‚Luft von einem anderen Planeten‘ (H. Marcuse) erscheinen mag, weil sie die so genannten Realitäten und den politischen status quo in Frage stellt und die Sehnsucht nach dem ‚Ziel‘ der Geschichte wachhält.“45 Die deuterojesajanische Gestalt des leidenden Gottesknechtes (Jes 53) – mag sie nun den Propheten selbst, das Volk, die Treuen oder einen noch zu erwartenden neuen Propheten meinen – ist die theologisch wie poetisch dichteste Vision von der Wahrheit einer Geschichte, die in den Opfern, den Verlierern verborgen ist und von den Zuschauern allzu spät erst, im bitteren Rückblick, eingestanden wird.

Die deuteronomistische Geschichtsschreibung will in ihrer Heilsspuren-Lese auf einer Linie mit der prophetischen Heilsverheißung ihrer Gegenwart der kleinen, machtlosen Herde, die sich nach dem Exil als Israel sammelt, eine Perspektive geben, die sich nicht kleinmütig in den Schatten der großen Vergangenheit stellen muss, weil sie deren Dialektik dekonstruieren gelernt hat. „Ihre Perspektive umfasst nicht nur den Abfall und das Exil, sondern auch die Umkehr Israels (Dtn 4,23 - 31), seine Heimführung und Herzensbeschneidung durch Gott, so dass es jetzt das Liebesgebot und die ganze Sozialordnung des Dtn halten kann (Dtn 30,1 - 10). Durch diese unvergleichlich weise und gerechte … Tora kann Israel Gesellschaft Gottes auch ohne König und Staat sein.“46 Dort, wo die Deuteronomisten die Thora weiter schreiben, formulieren sie z. T. in rückblickender Fiktion ein Israel der Sabbatheiligung, des sozialen Ausgleichs und der religiösen Einheit, dass es so nie gegeben hat. „Das deuteronomistische Deuteronomium ist ein utopischer Entwurf geblieben.“47

Zweifellos erkennt man als ursprüngliche Träger dieser konkreten Utopie die Heimkehrerkreise aus dem Exil wieder, jene „Fraktion, die sich in der Verbannung behauptet hat“ und die aus dieser Erfahrung (und gewiss auch aus ihrer sozialen Stellung heraus) den Anspruch erhebt, „sie besitze das göttliche Recht, den Charakter judäischer Orthodoxie zu bestimmen.“48 Sie bringen in den Neuaufbau des Gemeinwesens in der Perserzeit beides ein: Kritik der Vergangenheit und einen Heilsoptimismus für die Zukunft.

Diese beiden, der Gerichts- und der Heils-Aspekt deuteronomistischer Geschichtsschreibung, prägen auch die spätere biblische und nachbiblische Erinnerung in Israel: die Lesart der Geschichte gegen sich selbst und die Spurensuche unterdrückter Verheißung. Deshalb entzündet sich Israels Geschichtsreflexion auch später immer wieder an Katastrophenerfahrungen, bleibt darin der Deuteronomistik zumindest strukturell verpflichtet. „Israels Geschichtstheologie hat ihre unverwechselbaren Konturen in den Epochen geschichtlicher Erschütterungen gefunden. So verwundert es nicht, dass die meisten ‚Bücher der Geschichte‘ ihre entscheidende literarische (End-)Gestalt in der Auseinandersetzung mit geschichtlichen Krisenerfahrungen erhalten haben (Untergang des Nordreiches 722 v. Chr.; Exilserfahrung des 6. Jh.; hellenistische Erschütterungen im 3. Jh.; Makkabäerzeit 2. Jh.). Angesichts dieser Erfahrungen entstand Israels Theologie der Geschichte als Meta-Theorie über Bedingungen, Sinn und Ziel von Geschichte überhaupt.“49 Nicht eine besondere Neigung zur Abstraktion auf diesem Gebiet, sondern gerade die Konkretion, die gegenwärtigen Widerspruchserfahrungen zwischen „Theorie und Praxis“ nicht ausweichen kann, hat also Israels Totalperspektiven auf Geschichte zwischen Schöpfung und Vollendung hervorgetrieben. Dadurch aber enthält die Aitiologie der eigenen Katastrophe in der Frage nach deren Sinn und Ziel den Keim zur eschatologischen Geschichtstheologie schon in sich.

Indem aus der Verarbeitung prophetischer Theologie theozentrische Geschichtsschreibung entsteht, gewissermaßen rückschauende, rekonstruierende prophetische Theologie, verliert das israelitische Offenbarungsdenken keineswegs seinen eschatologischen Charakter, sondern integriert ihn in sein Geschichtsbewusstsein: Denn „Eschatologie“ bestand ja, wie an den Propheten gezeigt, auch in den Anfängen viel weniger in bestimmten ausdrücklichen, etwa messianischen Zukunftsvorstellungen, schon gar nicht in einer Erwartung des Abbruchs von Geschichte und Welt, sondern in der Funktion der Offenbarung, das Jetzt, die Gegenwart als Entscheidungsstunde, als entscheidende „letzte Zeit“, als Zeit unmittelbar zu Gott, zu dem von ihm kommenden Gericht oder Heil, zu charakterisieren. Dies treibt die Deuteronomistik systematisch voran, ohne dafür einen aufgeregten eschatologischen Ton zu bemühen: Ihr Rückblick auf die Urzeit und die Urproblematik zwischen Gott und Menschen, ihre Periodisierungen guter und schlechter Zeiten, ihre Aitiologie der Katastrophe dienen der Kennzeichnung ihrer nachexilischen Gegenwart als der Chance zum Anbruch einer neuen Bundeszeit, in der Israel wird, was es immer sein sollte, was es aber in seiner staatlichen Karriere weitgehend verfehlt hat.

In dem, worin für die Deuteronomisten im Kern Offenbarung ergeht, nämlich in der Stimme Gottes in den Weisungen vom Sinai und in den Rufen der Propheten, steckt der Anstoß, der geschichtliche Erinnerung zukunftswirksam sein lässt. Die Deuteronomisten halten die Offenbarung zusammen mit deren Schicksal in Israel, ja in der Welt und halten diese Dialektik ihrer Gegenwart als Spiegel vor. Sie sind damit vielleicht die ersten „Geschichtsphilosophen“, die aus der von Offenbarung, vom intensivsten Punkt ihrer Wahrheit her „gewerteten“, gedeuteten Vergangenheit die Vision der jetzt möglichen und gebotenen Zukunft schöpfen. Sie sind theologische Aufklärer, die aus der Klärung dessen, was war, und weshalb wir geworden sind, die wir nun sind, die Selbstevidenz des Morgen gewinnen. Nicht durch ein „historisches Bewusstsein“ als solches, nicht durch eine entmythisierte, säkulare Weltanschauung, auch nicht durch eine begriffliche Aneinanderbindung von Gott und Geschichte, sondern durch diese Reflexion des Schicksals ihrer Offenbarung, durch die ursprünglich von den Propheten aufgeworfene Frage, wie es jetzt, heute um Israel steht, wird das Geschichtsbild dieses Volkes „linear“, wird Geschichte – auch in Verfall und Verfehlung, auch im Hin und Her von Gericht und neuem Segen – zu einer Progression, einem Lauf von Gottes Anstoß und Angebot her auf deren Annahme und Vollendung hin.

Apokalyptische Vernunft

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