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Religiöse und säkulare Apokalyptik
ОглавлениеZwei Erfahrungen haben das Bild der Geschichte in der Moderne geprägt. Zunächst: Wir können Geschichte machen! Dann: Wir können unserer Geschichte selbst ein Ende machen! Die erste Erfahrung prägte das 19. Jahrhundert. Die zweite wurde zur Entdeckung des 20. Jahrhunderts. Beide zusammen sind unser Erbe im 21. Jahrhundert. Durch beide stehen wir in einem eigenartig dialektischen Verhältnis zum Geschichtsbild des biblischen Glaubens. Wir haben dessen apokalyptische „Neigung“ unfreiwillig wiederentdeckt. Aber wir blicken einer säkularen Apokalypse ins Auge, im Vergleich zu der die überlieferte Apokalyptik mythologisch wirken muss.
Das lässt sich im Rückblick auf die Vor-Moderne verdeutlichen: Als das Christentum seine erste Jahrtausendwende erlebte, machten sich in Europa von Weltuntergangsstimmung und apokalyptischer Frömmigkeit geprägte religiöse Bewegungen breit, über deren Ausmaß und Resonanz die Historiker heute streiten. Für die einen ist der „religiöse Vorstellungskomplex, der sich um die Schrecken und Hoffnungen des Jahres eintausend scharte“, ein Auftakt der Krisen und apokalyptischen Wellen, welche „die folgenden fünf Jahrhunderte charakterisierten“ – das europäische Mittelalter also. Für andere spielte dieses Datum bei weitem nicht die herausgehobene Rolle im Haushalt mittelalterlicher Weltuntergangssorgen, die ihr erst im Nachhinein zugeschrieben wurde. „Viele andere nach ihm prophezeiten mit den Weherufen über die Plagen ihrer Zeit das nahe Weltende. Chiliasten und Endzeitpropheten gab es … zu allen Zeiten!“1
Wie auch immer die Bedeutung der christlichen Millenniums-Apokalyptik einzuschätzen ist, wie sehr sie durch politische und soziale Verhältnisse mitbedingt war, es handelte sich jedenfalls um ein religiöses Phänomen. Aus heutiger Sicht war diese Religiosität irrational, vergleichbar mit den Endzeitansagen moderner Sekten, für und gegen die sich schlecht argumentieren lässt, die aber regelmäßig dadurch widerlegt werden, dass das gesetzte Datum verstreicht und die Menschheitsgeschichte weiter geht.
Nun hat das Christentum seit einigen Jahren seine zweite Jahrtausendwende überstanden. Auch diesmal machte ihr Näherrücken das Thema Apokalypse kurzzeitig interessant, aber endzeitliche Ängste wurden mehr in den Feuilletons besprochen, als dass sie die Menschen über einige esoterische oder sektiererische Gruppen hinaus wirklich in ihren Bann gezogen hätten. Die Sorge um das Weiterfunktionieren der Computerprogramme war weit realer und massiver verbreitet als die Erwartung eines Endes der Geschichte. Am allerwenigsten war die Apokalyptik, so scheint es im Rückblick, noch ein Thema unter den Christen (jedenfalls denen der „Großkirchen“).
Schon einige Jahre vor dem zweiten Millennium führten der italienische Semiologe und Schriftsteller Umberto Eco und der Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini einen öffentlichen Briefwechsel, in dem sie sich einig waren in der „Behauptung, dass der Gedanke an das Ende der Zeiten heute typischer für die laizistische Welt als für die christliche ist.“2 Der Kardinal erklärt sich mit dieser Beobachtung durchaus auch innerlich einverstanden, spräche doch die Angstresistenz der Christen für ihr Wissen darum, dass „keine menschliche oder satanische Macht ... sich der gläubigen Hoffnung wird entgegenstellen können.“3 Umberto Eco dagegen sieht den Grund für die Verlagerung der Apokalyptik ins Säkulare eher darin, dass uns heute Ängste bedrängen, die nicht mehr religiösen Themen entspringen. „Thema der modernen Apokalypse sind die Zunahme der unkontrollierbaren Atomlager, der saure Regen, das Verschwinden des tropischen Regenwalds, das Ozonloch, die Migration entrechteter Horden, die sich erheben, um an den Pforten des Wohlstands anzuklopfen. Thema sind der Hunger ganzer Kontinente, neue unheilbare Seuchen, die gewinnsüchtige Zerstörung des Bodens, das sich verändernde Klima, das schmelzende Polareis, die Gentechnologie – und am Ende gehört auch jener Ökologismus hierher, der den unaufhaltsamen Selbstmord der Menschheit vorsieht, die untergehen müsse, auf dass all die fast schon vernichteten Arten sowie die entstellte Mutter Erde gerettet werden können. Wir durchleben unsere Ängste vor dem Ende.“4
Zu Beginn des dritten „christlichen Jahrtausends“ ist die Unheilsprophetie also längst in nicht-religiöse Hände übergegangen. Forscher prognostizieren unsere möglichen Zukünfte, warnen vor den politischen, ökologischen, sozialen Brüchen; die Angstszenarien sind von Statistiken genährt, von den Kurven exponentiellen Bevölkerungswachstums, von den Berechnungen chemischer Einflüsse auf das Weltklima, von den Nachrichten aus den Waffenarsenalen der Staaten. Die erschütterndsten Predigten halten Wissenschaftler, die sich oft – auch unter ihresgleichen – wie Rufer in der Wüste empfinden und uns zu einer rationalen Umkehr aufrufen, bevor die Katastrophen unausweichlich geworden sind. Die Bilder solcher Katastrophen malen uns Literaten und Künstler aus. Einige politische Gruppierungen ziehen radikale Konsequenzen.
Die christlichen Kirchen jedoch halten sich, wenn es um diese moderne Apokalyptik geht, auffallend zurück. Zwar finden sich unter den Warnern manche überzeugte Christen, doch äußern sie sich selten explizit als Kirchenvertreter. Die greifen ihre Kritik mitunter gerne auf, beklagen den Werteverfall, die Gewalt, das Elend in der Dritten Welt, mitunter auch die Umweltzerstörung – aber nur, um auf einen Weg zurückzurufen, dessen Tauglichkeit sie schon kennen und der uns das Schlimmste ersparen soll. Und auch die Theologen, so sehr sie mitunter die Zukunft der Menschheit zu ihrem Thema machen, fallen – von einigen Außenseitern abgesehen – im gesellschaftlichen Konzert kaum durch schrille Töne auf. Sache der Christen scheint eher die Besonnenheit zu sein, ein temperierter Realismus, politisch ausgedrückt: die Haltung der Mitte. Die Sache der Christen ist die Zuversicht, die gute Praxis und die Hoffnung. Die vielfältigen Bewegungen zu „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ sind wohl von brennender Sorge geprägt, stellen jedoch ihre Diagnosen niemals so, dass nicht deren Zweck deutlich würde, „Wege aus der Gefahr“ zu bahnen. Ein Unheilsszenario wird hier, wenn überhaupt, dann dazu entworfen, uns aufzurütteln, uns zum verändernden Handeln zu bewegen, nicht aber, uns zu entmutigen und zu ängstigen.
Woraus entspringt diese auffällig unauffällige Ruhe der meisten Christen? Ist sie einer Gabe der Unterscheidung der Geister zuzuschreiben, welche übrigens auch schon um das Jahr tausend die offizielle Kirche und orthodoxe Theologie weitgehend davon abhielt, christliche Eschatologie mit aufgeregter Apokalyptik zu verwechseln? Ist die Theologie also durch kritischen Geist vor dem Kurzschluss von biblischen Weissagungen auf unmittelbare Zukunftsprognosen gefeit? Oder kommt heute noch die Erfahrung hinzu, allzu lange der Weltflucht, der Unfähigkeit zu diesseitiger Verantwortung und tätigem Optimismus geziehen worden zu sein, eine Erfahrung, welche gelehrt hat, dass es für den Glauben auf Dauer nicht gut ist, aus den Ängsten der Menschen spirituelles Kapital zu schlagen?
Beides mag zutreffen. Sehe ich aber recht, so steckt in der unapokalyptischen Haltung der Großkirchen und der Theologie noch etwas anderes: eine andere Verwechslung nämlich, ein Kurz-Schluss von christlicher auf weltliche Hoffnung, von geistlicher auf „profane“ Zuversicht, von christlicher Besonnenheit auf gesellschaftliche „Gemäßigtheit“, von christlicher Verantwortung auf bürgerlichen Optimismus. Demnach darf ein Gläubiger eigentlich kein Pessimist sein. Dieser Kurzschluss dürfte sogar von der genannten Erfahrung mit hervorgebracht worden sein: Die Abgrenzung von sektiererischem Prophetismus und die Hinkehr zum modernen, nach-aufgeklärten Begriff der Diesseits-Verantwortung scheinen es geradezu zu verbieten, denen das Wort zu reden, die notorisch schwarz sehen.
Die Kirchen begegnen damit der eingangs angesprochenen Geschichtserfahrung des 20. Jahrhunderts – „wir können ihr ein Ende machen“ – auf dem Boden des 19. Jahrhunderts: „Wir haben es in der Hand.“ Diese klassische moderne Haltung wird dann in die biblisch-christliche Rede von der Hoffnung eingetragen. Es ist so, als würde der Regenbogen, mit dem Gott dem Noah die Zusage gab, keine zweite Sintflut zu schicken (Gen 9), nun über das moderne, unsere Welt gestaltende Geschichtshandeln gespannt. Inzwischen aber wirkt dies, als sei Hoffnung (in diesem neuen Sinn) ebenso Christenpflicht wie Ruhe bekanntlich erste Bürgerpflicht. Eine Hoffnung aber, welche sich als Pflicht auferlegt, kann nur schal und unglaubwürdig wirken. Man kann niemand einfach „hoffen heißen“. Vor allem durch diese Verquickung biblischen und modernen Geschichtsdenkens ist das Objekt dieser Hoffnung nicht mehr klar: Ist es Gottes Erhalten oder ist es die menschliche Zukunftsfähigkeit? Deshalb erscheint die „Mäßigkeit“ der christlichen Zukunftseinstellung doch wieder als eine gewisse Weltferne, entspringend dem Abstand zu den Weltproblemen, der Temperiertheit unmittelbarer, vom „Hoffnungsgebot“ ungefilterter Wahrnehmung. Zukunftseinschätzungen von Christen, die bevorzugt das Etikett „realistisch“ als wertenden Begriff für sich in Anspruch nehmen, verdecken oft eine nicht mehr rationale Tabuisierung des „Pessimismus“, die theologisch aufzuklären dringlich ist.
Denn die unausgesprochene Gleichsetzung von „Pessimismus“ mit Unglauben übersieht einen entscheidenden Unterschied zur Situation vor tausend Jahren: Damals ließ sich der Zusammenhang zwischen Gegenwartsverhältnissen und apokalyptischen Katastrophenerwartungen nur über religiöse Vorstellungen herstellen. Diese wiederum waren schon damals – und sind erst recht heute – exegetisch-theologisch widerlegbar, indem man zeigt, dass sich aus biblischen Texten keine Datierung des Weltuntergangs ausrechnen lässt. Heute jedoch sind die Katastrophen „berechenbar“, sie sind am Ende von Kurven angesetzt, welche in Extrapolation gegenwärtiger Entwicklungen gezeichnet werden, mit der einzigen Hypothese, dass sich an ihnen nichts ändert. Es ist gerade unser „Geschichte machen“ mit seinem unbestreitbaren „Fortschritt“, das uns nun gleichzeitig verhängnisvoll erscheint: „Das Wesen der neuen Apokalyptik … ist die scheinbare Überwindung des Todes, eine Überwindung, die ihrerseits zum tödlichen Sieg wird, zum möglicherweise letzten und endgültigen Sieg über eine von uns bewohnbare Zukunft.“5 D. h. aber doch: Zumindest die Möglichkeit einer katastrophalen Entwicklung im Sinne des „Unterganges“ wenn nicht der Menschheit insgesamt, so doch unserer Zivilisation und der von uns als menschenwürdig erachteten Rahmenbedingungen, muss gerade von Realisten ins Auge gefasst werden. Solche ausrechenbaren Möglichkeiten sind zwar nicht den kosmischen Visionen von Apokalypsen gleichsetzbar, werden aber doch nicht zufällig als deren neuzeitliches Pendant wahrgenommen. Sie bedeuten nämlich für die Zeitgenossen genau jene Vernagelung der Zukunft, jene Ab-Gründe von Zukunftsangst, welche antike und mittelalterliche Menschen angesichts der religiösen Apokalypsen empfanden.
Auch die psychischen Folgen der uns abverlangten Reaktionen sind – immer den Paradigmenwechsel vom religiösen zum (natur)wissenschaftlichen Kontext der Wirklichkeitsauffassung mitgesehen – durchaus vergleichbar: Es geht auch heute um abwendende Handlungsstrategien, um Hoffnung oder Verzweiflung, Untergangskult oder Verdrängung, Aggression oder Resignation samt diverser Mittellösungen. Weil aber die säkulare Apokalyptik keiner religiösen Mythologie entspringt, kann sie auch nicht inner-theologisch abgewehrt werden. Gegen die futurologisch beweisbare Möglichkeit der Katastrophe hilft keine theologische Abwehr von Angstkult, Unheilsprophetie und „Pessimismus“. Die „Zeugen Jehovas“ sind grundsätzlich exegetisch widerlegbar wie ihre mittelalterlichen „Vorgänger“ auch, – die Fortschreibungen von „Global 2000“6 und die Schlüsse, die etwa H. v. Ditfurth oder G. Fuller populärwissenschaftlich aus ihnen zogen7, sind es nicht. Die säkulare Apokalyptik der Gegenwart ist gerade deshalb ein Faktor, ein „Zeichen der Zeit“, an dem die Theologie nicht vorbeigehen darf, weil sie kein religiöses Phänomen mehr ist (so viel religiöse Phänomene sie auch wiederum bewirken mag)! Die Aufgabe hieße, Theologie bewusst im Angesicht der realistischen Möglichkeit (was nicht heißt: als unabwendbarer Tatsache) einer Menschheitskatastrophe als Ende der bisherigen Geschichte zu treiben, – einer Katastrophe also, die auch dann „Untergang“ genannt werden müsste, wenn sie nicht die gesamte Menschheit restlos beträfe, auch dann, wenn dieser Untergang nicht der letzte (der „jüngste Tag“) wäre, wenn es also noch irgendein innerweltliches Danach gäbe. Denn auch dann bedeutet eine solche Katastrophe doch für uns das Ende der Geschichte, den Zusammenbruch nämlich eines geschichtlichen „Projekts“, das wir zumindest mit der Epoche der Neuzeit, mit dem „Abendland“, wahrscheinlich aber mit den Menschen seit den ersten neolithischen Stadtkulturen teilen. Dieses Projekt wäre, was immer noch käme, gescheitert, sollten die rechnenden Unheilspropheten unserer Zeit Recht behalten, – und diese Möglichkeit besteht.
Hinzu kommt: Sollte dieses Projekt der Zivilisation in den berechenbaren möglichen Katastrophen scheitern, dann hauptsächlich an den Folgen seiner selbst. Dies ist genau die Herausforderung säkularer Apokalyptik, welche zu begreifen sich die Theologie des Christentums (das wiederum selbst ein bedeutender Faktor dieses Projekts ist!) noch kaum, jedenfalls noch nicht mit der ihr entsprechenden Grundsätzlichkeit, d. h. Radikalität (im Wortsinn) und Ausdauer gestellt hat. Hier möchte dieses Buch einsetzen.
Seine Leitfrage lautet: Wie verhält sich das biblische Geschichtsdenken zum modernen, sowohl dem vom Geschichte-Machen als auch dem vom Geschichte-Beenden durch den Menschen? Seine Zielfrage heißt: Lässt sich aus dem biblischen Geschichtsdenken für heute eine Geschichtstheologie ableiten, die weder vormodern-mythologisch oder fundamentalistisch ist noch den jüdisch-christlichen und den modernen Geschichtsbegriff oberflächlich miteinander harmonisiert? Die Folge einer solche Harmonisierung ist nämlich stets der Verlust der Geschichte für die Theologie: Die Geschichte „außerhalb“ der Heilsgeschichte, die profane Menschheitsgeschichte wird dann gleich-gültig, eine Nacht, in der alle Katzen grau sind. Sie wird zum Feld ethischer Appelle, aber nicht theologischer Erkenntnis.
Meine Analyse anhand der Leitfrage wird ergeben, dass ein solches Sich-Selbst-Überlassen der Geschichte dem biblischen Glauben nicht entspricht. Eine moderne Geschichtstheologie ist also die Ziel-Forderung dieses Buches, ohne dass sie hier schon ausgeführt werden könnte. Das Buch versteht sich als ihre Exposition, als Prolegomena.