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Prophetische Theologie als geschichtstheologische Reflexion

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Prophetie habe ich definiert als die theologische Qualifikation einer geschichtlichen Situation durch kontingentes, vollmächtiges Wort. Unter prophetischer Theologie verstehe ich dem gegenüber die theologische Qualifikation der Gegenwart durch geschichtstheologische Reflexion.

Beide Definitionen sind kategorial-systematische oder „typologische“ Charakterisierungen im Dienst der Analyse apokalyptischer Vernunft. D. h.: Sie versuchen die Phänomene an deren Ursprung in ihrer Typik zu erfassen und zu strukturieren. Sie enthalten also wie jede Typik eine „Idealisierung“, die nicht vollständig auf alle empirischen Einzelbefunde zurückübertragen werden kann, an denen sie gewonnen wurde. Konkret: Natürlich haben auch einzelne Propheten zumindest in Ansätzen prophetische Theologie getrieben, und sei es nur in der Begründung und Ausformulierung ihre Einzelsprüche. Der Prophet ist kein reflexionsloses Organ von Inspirationen! Und umgekehrt können prophetische Theologen auch prophetische Einzelgestalten sein, deren Theologie von persönlicher Inspiration, Sendung und Verkündigung bewegt wird. Der entscheidende, „typische“ Unterschied besteht jedoch darin, dass die Prophetie in der aktuellen, vollmächtigen Konfrontation mit ihrer Situation bestehen kann und verbleibt. Die prophetische Theologie dagegen verknüpft ihre Konfrontation mit der Gegenwart mit der begründenden und reflektierten Aufnahme der ihr vorangehenden Prophetie sowie deren „Schicksal“ in den geschichtlichen Ereignissen. Prophetische Theologie kommt nach Prophetie, sie folgt ihr. Sie schöpft ihre Vollmacht nicht mehr aus sich selbst, sondern aus diesen geschichtlichen Zusammenhängen, also aus der Evidenz früherer Prophetie und deren Verhältnis zur neuen Gegenwart. Sie ist also historisch wie systematisch das spätere Phänomen. Sie ist Theologie in der Nachfolge der Propheten, in der Schule der Prophetie.

In diesem Übergang kann man durchaus „Verlust“ und „Gewinn“ sehen: Tatsächlich scheint die aktuelle Prophetie zurück zu gehen, als die Zeit prophetischer Theologie gekommen ist, da „es im 6. und 5. Jahrhundert viele Anzeichen dafür gibt, dass die Prophetie in der Tat zu einem Ende kam.“59 Verloren geht die prophetische Ursprünglichkeit, die Kraft der prophetischen Einzelpersönlichkeit und ihrer Worte, – dies so sehr, dass den heutigen Historikern und Exegeten tatsächlich in den Prophetenbüchern die Propheten selbst verloren gegangen sind, nicht mehr klar auffindbar in den Übermalungen und Fortschreibungen durch die spätere prophetische Theologie. Die Forschung hat lange vor allem diesen Verlust gesehen und durch literarkritische Verfahren rückgängig zu machen versucht in der Rekonstruktion der ursprünglichen Schichten. Ihr galt der Prophet als das religiöse Genie, der prophetische Theologe als Epigone einer nicht mehr in gleichem Maße prophetisch inspirierten späteren Zeit.

Das weitgehende Scheitern dieser Forschung durch die Unsicherheit ihrer Hypothesen hat aber auch die Einsicht in die Gewinn-Seite des geschichtlichen Vorgangs gefördert: Gewonnen wird im Übergang von Prophetie zu prophetischer Theologie die Sicherung der prophetischen Inspiration über den Augenblick hinaus, und zwar nicht einfach durch deren Überlieferung, sondern durch die kreative Neuanwendung, durch die Übertragung prophetischer Prinzipien in das theologische Bedenken der Gegenwart. Darin sind die prophetischen Theologen nicht epigonal, sondern schöpferisch. Wir haben es „mit schriftgelehrten Redaktoren zu tun, die ihrerseits insofern als ‚Propheten‘ gelten können, als sie zum einen in ihrer schriftgelehrten Tätigkeit eine erstaunliche sachliche Innovativität zeigen und sich zum anderen in ihrer anonymen Unterordnung unter die Namen gebenden Gestalten der Bücher, an denen sie arbeiten, von ihrem Selbstverständnis her selbst als prophetisch wirkend zu erkennen geben.“60 Es gelingt ihnen, das befremdlich Neue, das in seiner Zeit meist abgelehnte Offenbarungsmoment der Prophetie zum kritischen Instrument theologischen Denkens zu formen. Erst durch diesen Übertrag kann die Theologie und Religion unwiderruflich nicht mehr so sein wie vor der Prophetie.

Der Gewinn besteht aber zugleich darin, dass prophetische Einsichten argumentativ kommunikabel werden. In der theologischen Geschichtsreflexion aus dem Geist der Prophetie wird sozusagen im Nachhinein die Logik der prophetischen Zeitdiagnose aufgewiesen. Prophetie wird dadurch „rationalisiert“. Diese Theologie bedarf zwar der Autorität in Erfüllung gegangener alter Prophetie, sie kann aber ihre rückblickenden und aktuellen Folgerungen plausibel machen. Beides, die prophetische „Unselbständigkeit“ und die argumentative „Selbständigkeit“ erklären m. E., warum die Autoren prophetischer Theologie weitgehend anonym bleiben wollen und auch können.61 Es gehört zur inneren Logik ihres Tuns, dass sie sich an die Namen der alten Propheten binden, deren Bücher schreiben und auf diesem Weg allmählich die Prophetie in ihren „kanonischen“ Rang erheben, als dem vollmächtigen Kommentar zur Uroffenbarung, zu Tora und Geschichte Israels, an dem jede spätere Auslegung und aktuelle Anwendung der Offenbarung in der Zeit sich zu orientieren hat. „Eines der wichtigsten Ergebnisse des Exils war die wachsende Textualisierung der heiligen Traditionen Israels.“ Sie ermöglicht „die neue Rolle des kanonischen Textes als Medium zur Erkenntnis des Willens Gottes durch das Amt des Auslegers.“ So stellt „die Formierung des prophetischen Kanons ein Medium bereit, durch das die prophetische Botschaft für jede nachfolgende Generation aktualisiert werden konnte.“62

Für die Analyse apokalyptischer Vernunft ist die Typik dieses Vorgangs deshalb von so entscheidender Bedeutung, weil erst in ihm die Offenbarungstradition für uns greifbar theo-logisch wird, sich als Vernunft konstituiert. Nicht, als ob es vorher kein Glaubensdenken gegeben habe, nicht als ob die schon früher angelegten besonderen Züge der theologischen Denkweise am Ursprung der Bibel überhaupt nicht relevant wären; die bisherige Darstellung hat sie ja schon gestreift. Aber erst in der prophetischen Theologie kommen diese Züge zu sich selbst, bilden ihre eigene, auch schriftlich fixierbare Rationalität aus.

Wenn dies zutrifft, folgt daraus eine doppelte, nach rückwärts und vorwärts formulierbare These: Die apokalyptische Vernunft wird geboren aus dem Ereignis der Prophetie. Dieser Ursprung des prophetischen Einspruchs in die Geschichte des eigenen Volkes, der eigenen Religion wird sie bleibend prägen. Wenn der Gott-Glaube Israels, die Tradition von Väterzeit und Exodus (wie immer historisch zu betrachten) den Offenbarungs-Ursprung dieser Vernunft darstellen, so bedeutet die Prophetie ihr Anheben aus einer Offenbarung als Unterbrechung. Nur indem beides zusammen kommt, entsteht apokalyptische Vernunft.

Und nun nach vorwärts formuliert: Die Geburt der apokalyptischen Vernunft geschieht im Übergang von Prophetie zu prophetischer Theologie. Erst in diesem Übergang schafft sich diese Vernunft ihre eigene Rationalität. Da diese aus der Reflexion darüber entsteht, was die Unterbrechung durch Prophetie für die Interpretation des Offenbarungsursprungs im Glauben Israels auf die Gegenwart hin bedeutet, vollzieht sie sich notwendigerweise als eine Geschichtstheologie. Hier liegt der Schlüssel der eigentlich überraschenden Beobachtung, dass die auf die jeweilige gegenwärtige Situation und ihre anbrechende Wende zur Zukunft – sei es ins Gericht, sei es in neues Heil hinein – ausgerichtete prophetische Verkündigung, dass überhaupt der stets auf eschatologische Verifikation hindrängende Gott-Glaube so einzigartig geschichts- und damit auch vergangenheitsbezogen wirkt, und dies gerade in seiner reflektierten theologischen Form.

Allerdings ist63 in der inneren Tendenz der exklusiven Bindung an den Gott JHWH und in dem Umgang der Propheten mit ihrer Gegenwart in der Sache gewissermaßen das Ganze der apokalyptischen Vernunft schon enthalten. Aber in der geschichtstheologischen Reflexion wird es in immer neue, der Ursprungsphase weit entfernte Kontexte übersetzbar. Dies bedeutet das „Zu-sich-Selbst-Kommen“ dieser Vernunft als Vernunft, als Bewusstsein von sich selbst. In ihr „werden die Ereignisse in der Rückschau in ein Bewusstsein aufgenommen, das zur Zeit ihres Geschehens erst entstand, also noch nicht gegeben war; d. h. die berichteten Ereignisse werden in der Rückschau auf neue Weise verstanden.“64 In diesem Vorgang liegt auch der Grund für das Historiker-Problem, im Alten Testament die erzählte Geschichte stets nur aus der Perspektive der Erzähler-Geschichte zu erhalten, also nur als seinerzeit „ver-gegenwärtigte“ Erinnerung. Die Erzählung erzählt gleichzeitig von den gründenden Ereignissen der Vergangenheit und von den Ereignissen jener Gegenwart, welche die Vergangenheit erst so zu verstehen ermöglichten. „Die ‚historia quae narratur‘ und die ‚historia qua narratur‘ bilden eine Einheit, denn mit dem neuen Ereignis entstand zugleich erst dasjenige neue Bewusstsein, das die Ereignisse verstehen und ‚erzählen‘ kann.“65

Die Einzigartigkeit der Geistesgeschichte Israels besteht in der geschichtlichen Helligkeit, in der dieser Übergang von Prophetie zu prophetischer Theologie als Gründungsvorgang biblischer Vernunft zu Tage liegt: Er vollzieht sich – wie im letzten Abschnitt schon skizziert – durch die Wasserscheide des Exils hindurch, also parallel zur größten Existenzkrise Israels, welche im Ergebnis (über das Ende des Nordreichs durch die Assyrer, das Ende des Südreichs durch die Babylonier bis zur Konstitution einer Provinz Juda durch die Perser) in dessen Transformation vom Königreich und Volk zu seiner Identität als „Judentum“ und „Gemeinde“ besteht. Eine existenzielle Krise bedeutet diese Geschichte, weil sie mit der politischen Selbständigkeit und Verfassung auch die Grundlagen, den hergebrachten Kontext der Religion Israels zerstört. Dass aber gerade aus dem Glauben heraus solche Kräfte der Krisenbewältigung aufgebracht werden konnten, die auch die politische und soziale neue Existenz ohne eigenen Staat, im eigenen Land, aber auch in der sich ausbreitenden Diaspora begründeten, lässt die besonderen Ressourcen dieser Religion erst ans Licht treten, welche in staatlicher Zeit in die Normalität eines altorientalischen Königtums eingetaucht und dadurch auch verborgen, synkretistisch ein-gemischt in ihre Umgebung waren. Aber diese Ressourcen waren schon da, vorgebildet, und treten in den vorexilischen Prophetensprüchen an die Oberfläche.

„Von entscheidender Bedeutung für den Umstand, dass mit der Katastrophe Judas und Jerusalems nicht auch die Religion Judas unterging – was für vergleichbare Fälle das altorientalische Standardprozedere wäre –, dürften die geistesgeschichtlichen Entwicklungen im 7. Jh. gewesen sein. Die in dieser Zeit entstandenen Texte und Schriften hatten sich zu nicht geringem Anteil mit der Erfahrung des Scheiterns des Nordreichs auseinanderzusetzen und begannen von daher, Visionen ‚Israels‘ zu entwickeln, die nicht von Staatlichkeit und politischer Souveränität her determiniert … waren.“66 In einer Zeit, in der Assur, Babel und dann Persepolis das Schicksal des Volkes JHWHs bestimmen, können die Theologen darauf aufbauend weltgeschichtlich und universalistisch denken lernen, wenn sie die eigene Identität verstehen und retten wollen.

Die prophetische Theologie, ausgebildet im Anschluss an Ezechiel und „Deuterojesaja“ von den Redakteuren der Prophetenbücher, von den „Deuteronomisten“ und den Redakteuren der Tora, reflektiert nun gleichzeitig die sie überwältigenden weltgeschichtlichen Vorgänge, deren Objekt Israel ist, und die Besonderheit der eigenen Offenbarung, durch die es neu Subjekt wird. Deshalb gehen die geschichtstheologischen Entwürfe und die Herausbildung der großen Gesetzeskorpora sowie die Bewusstheit des Monotheismus aus verschiedenen Strömungen einer großen Bewegung hervor.

Inhaltlich besteht die wichtigste geschichtstheologische Leistung der prophetischen Theologie dieser Zeit darin, die prophetische Dialektik von Gericht und Heil, das aktuelle Entweder-Oder, zum Interpretationsschlüssel der Geschichte Israels, ja der Weltgeschichte insgesamt zu erheben.67 „Das Exil hatte Israel den theologischen Boden unter den Füßen weggezogen. ... Es muss erkennen, dass es die wahren Propheten und ihre Gesellschaftskritik nicht hören wollte (Klgl 2,14; 4,13). Die scharfen Gerichtsworte der Propheten wie Jeremia erweisen sich im Nachhinein als Gottes Wort – aber es war ein schwaches, ohnmächtiges Wort. Oder besser gesagt: ein Wort, das sich in der Ohnmacht des Propheten und auch noch in seinem Scheitern als wahr und heilbringend erweist.“68 So wie die vorexilischen Propheten die gegenwärtige Stunde als Anbruch der Gerichtsereignisse qualifizieren, so gehen die prophetischen Theologen nun, die Erfüllung ihrer Botschaft, das vollzogene Gericht als Ausgangserfahrung nehmend, von der Erwartung der neuen Heilswende aus dem Tiefpunkt heraus aus.69 Durch diese Gegenwartsbestimmung wird es möglich, die Vergangenheit als das Drama zwischen dem Heil schaffenden Gott und seinem problematischen Bundespartner zu lesen.

Die Pluralität der Erinnerungen und Überlieferungen kann anhand dieses Schemas geprüft, geschichtstheologisch systematisiert werden, ohne ideologisch vereinheitlicht werden zu müssen: Es gibt unterschiedliche Gotteserfahrungen in unterschiedlichen Stunden, aber es gibt eine Logik von Heilsangebot, menschlichem Widerspruch, göttlicher Konsequenz im Gericht und göttlicher Inkonsequenz in seiner erneut ausgestreckten Hand.70

Apokalyptische Vernunft

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