Читать книгу Apokalyptische Vernunft - Gregor Taxacher - Страница 12
Die Bibel analysieren
ОглавлениеNach der hermeneutischen Perspektive muss die hier geübte Methode der Interpretation des biblischen Textes näher bestimmt werden.28
Da es meiner Analyse um die welt-geschichtliche Gestalt apokalyptischer Vernunft und deren welt-geschichtliche Wirkung sowie ihre Bedeutung für die Gegenwart geht, kann es nicht um die Analyse einzelner vielleicht besonders alter Erstzeugnisse gehen, nicht um die Isolierung eines Frühzustandes apokalyptischer Vernunft, der später überdeckt und überschritten und so in seiner Eigengestalt und -wirkung „überholt“ und „aufgehoben“ wurde (im Mehrfachsinn, den diese Worte nicht nur bei Hegel haben). Es muss um die Gestalt des Zeugnisses von Offenbarung gehen, die für die apokalyptische Vernunft maßgeblich wurde, in der sie sich fand und in der sie weiter wirkte. Es geht also um den „kanonischen“ Text des Offenbarungszeugnisses. Konkret: Es geht um die Bibel als Ganze, die wirksames Offenbarungszeugnis eben erst dadurch wurde, dass sie als „das“ Buch, als Kanon, als Norm der Offenbarungsauslegung Geschichte machte. Deshalb hat meine Analyse der Ursprungsstruktur apokalyptischer Vernunft eine starke Affinität zu jener hermeneutischen Richtung der Bibelauslegung, die sich am kanonischen Endtext orientiert und den Sinn des Ganzen aus dessen innerer Struktur, aus den Wechselbeziehungen innerhalb des Textes, zu erheben sucht, in synchroner Exegese des Materials.
Anderseits geht es hier um die Analyse apokalyptischer Vernunft und nicht einfach der „biblischen Lehre“. Ich betrachte diese Vernunft als geschichtliches und wirkungsgeschichtliches Phänomen, in ihren Wirkungen und ihrem Geschick. Eine solche Betrachtung darf den Ursprung ihres Gegenstandes selbst nicht unhistorisch, wie einen erratischen, vom Himmel gefallenen Block behandeln. Abgesehen davon, dass ihr dies den Verdacht einbrächte, nun doch die transhistorische Wahrheit der Offenbarung in der Empirie des Zeugnisses festmachen zu wollen – der Irrtum jedes „Fundamentalismus“ –, müsste der Umschlag von unhistorischer Entgegennahme eines Endergebnisses zu dessen weiterer geschichtlicher Analyse willkürlich erscheinen. Ein Phänomen, dessen Bedeutung für die Geschichte bis heute es zu reflektieren gilt, selbst von historischer Herleitung auszunehmen, hieße eine künstliche Naivität zu pflegen. Deshalb hat die Analyse apokalyptischer Vernunft auch eine „natürliche“ Affinität zur historisch kritischen Methode: Sie will schon den Ursprung des Offenbarungsdenkens in seinem welthistorischen Kontext erfassen, und sie erwartet, dass sich die Struktur apokalyptischer Vernunft auch anhand ihres Werdens erschließt, also in diachronischer Sichtung des Materials.
Diese beiden methodischen Tendenzen meines Unternehmens – sein Ausgang von der kanonischen Wirkgestalt biblischen Offenbarungszeugnisses und sein historisch fragender Umgang mit ihm – steuert es allerdings in eine doppelte Problematik hinein, die derzeit in der biblischen Exegese wissenschaftlich und hermeneutisch nicht gelöst ist: Zum einen fehlt es an einer methodisch sauberen und systematisch stimmigen Verbindung synchroner und diachronischer Exegese, zum anderen an einer ebensolchen Verbindung empirischer Einzelbefunde zu bibel-theologischen systematischen Befunden.
Das erste Problem lautet: Was bedeutet die Kenntnis von Vorstufen des Endtextes, von älteren Fassungen, Quellen und deren Bearbeitung, was bedeutet die Erforschung der Traditions- und Redaktionsgeschichte biblischer Bücher schließlich für die Auslegung des Endtextes? Einerseits kann die Interpretation der kanonischen Endgestalt nicht künstlich ausblenden, was sie über die Geschichte ihres Textes weiß. Sie würde sonst nur wie eine Vermeidungsstrategie wirken, welche die historisch-kritischen Fragen verdrängt, statt sie zu integrieren. Andererseits bleibt bislang unklar, wie solche Integration wirklich mehr sein könnte als ein Nebeneinander-Stellen historischer Rückblicke und anschließender Interpretation mit den Augen des letzten „Redaktors“29. Die historische Kritik ist aus der Suche nach den unverfälschten, ursprünglichen, womöglich den berichteten Ereignissen nahen Quellen entwickelt worden. Sie wollte die sich dem Leser heute bietende Textoberfläche durchstoßen. Von da aus war es ein langer Weg bis zu der hermeneutischen Erkenntnis, dass es reine Ur-Texte nicht gibt und eine nach historischen Fakten grabende Textarchäologie dem Willen, der sich im Wachstum der Texte ausspricht, und damit ihrem „Sinn“, nicht gerecht wird. Wenn wir heute den Endtext nicht mehr als Steinbruch unserer Rückfragen übergehen, sondern als solchen und als Ausgangspunkt seiner kanonischen Wirkungsgeschichte verstehen wollen, können wir doch das erworbene historische Wissen nicht einfach wieder „los werden“. Es müsste also darum gehen, die historische Kritik sozusagen „vorwärts“ zu betreiben, den uns zugänglichen Werde-Prozess der Schrift Schritt für Schritt in seinem Aufbau zu verfolgen, um schließlich beim Ganzen anzukommen und es in seiner Vielschichtigkeit besser zu begreifen. Nur beinhaltet diese Vielschichtigkeit eben auch historisch gewordene Brüche und Widersprüche, Vergessen und Retuschen. Deshalb fehlt der derzeitigen Bibelauslegung trotz vieler Ansätze in dieser Richtung ein wirklich schlüssig durchgeführtes Konzept der Integration historischer Kritik in die theologische Auslegung.30
Das zweite Problem hängt mit dem Charakter historischer Kritik als einer empirischen Literaturwissenschaft zusammen: Das historische Bewusstsein insgesamt ist zwar heute nicht mehr rückgängig zu machen, seine einzelnen Wissensbestände jedoch bleiben stets revidierbar und im Fluss. Historische Philologie arbeitet mit auf Befunde gestützter Hypothesenbildung sowie deren anschließender Überprüfung. So lange nicht irgendwo im Wüstensand ein Quellentext gefunden wird, bleiben die Rekonstruktionen bestreitbare Modelle, und seit gut zwei Jahrzehnten erlebt die alttestamentliche Exegese, dass auch über Jahrzehnte lieb gewordene Modelle ihre Überzeugungskraft wieder einbüßen können. Diese dauernde Unabgeschlossenheit widerlegt nicht die Notwendigkeit der historischen Fragestellung: Sie entspringt ja keinem willkürlichem Versuch, den man auch wieder lassen könnte, um endlich seine Ruhe zu haben, sondern sie wird unumgänglich, wo der Text schon in sich selbst, erst Recht aber in Konfrontation mit außertextlichem historischem Material die Spuren seines Gewordenseins herzeigt, wo der Text also fraglich erscheint, sobald wir ihn auf der Suche nach seiner eindeutigen Aussageabsicht konsultieren. Für die bibel-theologische Strukturanalyse des Ganzen, für die Frage nach der Botschaft der Schrift insgesamt, bedeutet diese Unabgeschlossenheit und Detailabhängigkeit historischer Kritik jedoch die Schwierigkeit, systematische Aussagen auf unsichere Einzelbefunde aufbauen zu müssen. Und auch hier hat sich noch keine konsensfähige Methode herausgebildet, wie ohne Ignoranz gegenüber der Einzelforschung eine Phänomenologie biblischen Denkens geschrieben werden kann, die mehr ist als vages Verallgemeinern.
Meine Analyse apokalyptischer Vernunft kann selbst keine exegetische Fachwissenschaft treiben. Sie kann die angedeuteten Probleme deshalb auch nicht lösen, sondern muss sich mit ihnen arrangieren, ohne sie einfach zu ignorieren, aber auch ohne sich in ihnen zu verlieren. Deshalb wird sie auf den Diskussionsstand biblischer Forschung hören, ohne sich in Detailkontroversen immer eindeutig entscheiden zu können, aber auch ohne die Möglichkeit, sich stets auf eine gesicherte Mittelposition zurückzuziehen. Ihr „Arrangement“ wird darin bestehen, den Forschungsstand entgegenzunehmen, ihm einigermaßen gesicherte Grundpositionen zu entnehmen, diese dann aber eigenständig zu bewerten, indem sie historische Erkenntnisse und synchrone Textzusammenhänge möglichst breit aufeinander bezieht. Denn ihr eigentliches Ziel besteht ja darin, im Zeugnis eine fundamentale Grundstruktur aufzusuchen, die sich sowohl durch die Geschichte der Textwerdung hindurch aufbaut (diachron) als auch sich durch die vielfältigen Textteile hindurchzieht (synchron), die also den Text „zeitlich“ wie „räumlich“ prägt und bewegt. Die Analyse wird also trotz unübersichtlicher Forschungslage zusammenfassende Durchblicke wagen, sie wird historische und textimmanente Beschreibungen sachlich zu interpretieren, d. h. auf die in unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen Texten jeweils unterschiedlich ausgedrückte gemeinsame Sache des Zeugnisses beziehen. Das biblische Material spricht durch seine weit auseinanderliegenden Entstehungsperioden, aber auch durch seine unterschiedlichen Textsorten recht verschiedene Sprachen. Die Konfrontation der Untersuchung mit der historisch kritischen Exegese wird diese Unterschiede nicht nivellieren. Sie wird sie aber auch nicht davon abhalten, in eigenem Nachvollzug der Befunde zu bestimmen, was im Kern auf diesen verschiedenen Seiten des Zeugnisses umkreist und ausgesagt wird.
Gefordert ist also zugleich, „dass die ganze Dimension kritischer Exegese beibehalten wird und dass die exegetische Aufgabe nicht auf bloße Beschreibung beschränkt ist.“31 „Auf der bloß textlichen Ebene zu bleiben heißt, sich den Schlüssel nehmen zu lassen, der gegensätzliche Stimmen in ein sachliches Ganzes vereinigt. Deshalb versucht biblische Theologie, die verschiedenen Stimmen im Verhältnis zur göttlichen Realität zu hören, auf die sie in unterschiedlicher Weise verweisen.“32 Für die Analyse apokalyptischer Vernunft heißt dies: die intensivste Mitte eines Zeugnisses herauszustellen, auch wenn dieses Zeugnis diese nicht in einer quasidogmatischen Systematik darbietet. Dazu muss gar nicht künstlich harmonisiert werden. Denn die gesuchte intensivste Mitte ist nicht eine lehrhafte Übereinstimmung, eine theologische Grundformel als kleinster gemeinsamer Nenner, sondern ist die Konsequenz der bewegenden Offenbarung, die dem Zeugnis seine „Drift“ gerade auch in seinen Brüchen, Veränderungen und Innovationen gibt.