Читать книгу Apokalyptische Vernunft - Gregor Taxacher - Страница 13

Welche Bibel analysieren?

Оглавление

Die Bibel bietet sich uns heute als ein Buch dar. Und sie ist, trotz ihres Charakters als komplexer Schriftensammlung und trotz der bleibenden Uneinigkeit ihrer Anhänger über ihren genauen Umfang, am Ende ihrer Entstehungsgeschichte auch so gemeint gewesen. Es muss also legitim sein, aus dem Aufbau dieses Buches als Heiliger Schrift insgesamt etwas über die Struktur apokalyptischer Vernunft zu entnehmen. Dabei müssen wir allerdings heute von drei unterschiedlichen Anordnungen des Gesamtmaterials ausgehen: vom jüdischen und vom christlichen Kanon sowie von der Entstehungsabfolge in moderner historischer Perspektive.

Das jüdische Offenbarungszeugnis gliedert sein Material als „Tanach“33 in drei große Komplexe: die Tora (Weisung oder „Gesetz“ der fünf „Bücher Mose“), die Propheten (wozu vor den eigentlichen Prophetenbüchern auch die Geschichtsbücher gehören!) und die „Schriften“ (Weisheitsbücher, Dichtung, aber auch späte Prophetie und Geschichtsschreibung). Dieser Aufbau bedeutet eine Gewichtung des Zeugnisses nach seiner Nähe zum Offenbarungsanstoß selbst. Dabei ist Nähe hier hauptsächlich sachlich zu verstehen, hat aber auch eine zeitliche Komponente, insofern Mose als erster, ältester Prophet gilt und manche Schriften (wie Daniel und die Chronik-Bücher) ihrer späten Entstehung wegen nicht mehr zu den älteren Propheten- oder Geschichtsbüchern gestellt wurden.34 Die Gewichtung wertet die Tora als „Fundament“ des Offenbarungszeugnisses, die „Propheten gelten als Kommentare zur Tora“, beiden gegenüber spielen die „‚Schriften‘ keine vergleichbar fundamentale Rolle“35. Dieser „wertende“ Aufbau der jüdischen Bibel stellt sie als kanonisches Zeugnis sozusagen zwischen die „Ur-Geschichte“ der Offenbarung selbst und deren gelebte Rezeption in Gottesdienst und Lebenspraxis der Gemeinde: Für diese Praxis ist die Tora, die Israel geschichtlich konstituierte, ergangen, an ihr findet die Gegenwart ihre Orientierung. Da diese Orientierung in einer dem Willen Gottes nicht entsprechenden, nicht vollendeten Welt jedoch stets problematisch und bedroht ist, geben die Kommentare aus Prophetie und Weisheit hier aktualisierende Hilfe, sie reflektieren, was es heißt, die Tora in unheiler Zeit – nach der Offenbarung, vor einer erhofften Vollendung – zu leben. In solcher „Gegenwart dazwischen“ durch die Tora in der Welt zu Recht zu kommen (im tiefsten ethischen Sinn dieser Formulierung), macht die apokalyptische Vernünftigkeit nach dem jüdischen Bibelkanon aus.

Die rezeptions- und damit gegenwartszentrierte Hermeneutik, welche der Anlage des „Tanach“ zugrunde liegt, ist jedoch hineingespannt in die Geschichtsorientierung apokalyptischer Vernunft. Diese ist also sicher keine an Israels Bibel nachträglich herangetragene oder dem Judentum eigentlich fremde Interpretation. Dass Geschichtsereignisse das Paradigma dieses Offenbarungsverständnisses bilden, zeigt sich schon in der Einbettung der Tora als Weisung und Gesetz in eine große Geschichtserzählung von den Anfängen (B’reschit, Genesis) der Schöpfung über die Patriarchenerzählungen, den Exodus des Volkes aus Ägypten, die Offenbarung am Sinai bis zum Erreichen des verheißenen Landes. Israels theologische Konstitution durch die Bundesschlüsse und Offenbarungsworte und seine (modern gesprochen) Volkwerdung durch „profanes“ Geschichtshandeln sind völlig miteinander verwoben: „Geschichte auch und Religion wurden eins.“36 Zweitens zeigt sich Geschichte als Ort und Exempel von Offenbarung im prophetischen Kommentar der Tora: „dass die Bücher Josua bis 2 Könige zu den ‚Propheten‘ gezählt werden“37, obwohl sie auf uns eher wie Geschichtsdarstellungen wirken, rührt von der biblischen Optik auf Offenbarung und Prophetie (in diesen Büchern vertreten durch Protagonisten wie Nathan, Elia und Elischa, Micha und Hulda) als „Weichen stellenden ‚Motoren‘ der Geschichte“38 her. Die eigentlichen Prophetenbücher selbst verschieben diese Perspektive vom Offenbarungsgrund in der Vergangenheit hin zur Erwartung „apokalyptischer“ Vollendung in der Zukunft: „Die Prophetie legt die Tora des Mose in eschatologischem Zeitdruck aus im Blick auf den ‚Tag JHWHs‘“39, jenem Vollendungshandeln Gottes, in dem – laut dem Abschluss des Prophetenkorpus bei Joel und Maleachi – die Ausgießung des Geistes ganz Israel zu einem prophetischen Volk macht, wodurch Gott seine Offenbarung öffentlich, für alle verifiziert! So sehr also die jüdische Offenbarungshermeneutik um die jeweils heutige Lebendigkeit des damals gelegten Fundaments Tora kreist, so sehr prägt sie zugleich der eschatologische Wahrheitsbegriff apokalyptischer Vernunft, nach dem die Verknüpfung von Offenbarung und Geschichte einen Wechsel des Glaubens auf Zukunft hin darstellt. „Das Volk sah seinen Weg vom Beginn zur Gegenwart her und vom Beginn zur Zukunft hin.“40 Es sah ihn dabei niemals in einer religiös-abgesonderten Weise isoliert, sondern stets in seinem „profangeschichtlichen“ Kontext einer vor aller Augen gar nicht von Gott geprägten und deshalb immer auch feindlichen Welt. Deshalb kann es in seiner Verknüpfung von Glauben und Geschichte nur auf Zukunft setzen. „Geschichte ist für dieses Volk immer Weltgeschichte. Durch seinen Auszug aus Ägypten ist es zum Volke der Geschichte ... geworden. Was war, spricht darum ihm von dem, was kommen wird. Es ist ein Volk der Geschichte und darum ein messianisches Volk. Es ist das eine, weil es das andere ist, weil es keine Geschichte anerkennt, die nicht Weltgeschichte ist. Es atmet in der Luft dieser Geschichte. Das Einst der Vergangenheit wird ihm zum Einst der Zukunft.“41 Deshalb muss es die Verifikation seines Glaubens einerseits zukünftig und diese eschatologische Offenbarung andererseits weltgeschichtlich manifest erhoffen, nicht nur innerlich, „spirituell“. Insofern ist diese Hoffnung – „vor“ allen genaueren Szenarien – „apokalyptisch“. Und in diesem Sinne nennt L. Baeck den „großen Gedanken der Zukunft“ einen solchen, der „im Judentum geschaffen worden ist.“42

Das Offenbarungszeugnis des Christentums erweitert diesen Kanon um die Bezeugung des Christusereignisses und der Entstehung des Glaubens an Jesus. Es fügt damit der ursprünglichen Heiligen Schrift nicht nur einen zweiten kürzeren Teil, das „Neue Testament“, an, sondern stellt auch auf diesen hin gelesen den Aufbau der hebräischen Bibel um. Aus dem „Tanach“ wird so das „Alte“ oder „Erste Testament“.43 Dieser erweiterten und neu angeordneten Bibel ist durch die Ausbreitung des Christentums die weltgeschichtlich größte Rezeption zuteil geworden. Die Akzentverschiebung, die dadurch innerhalb der apokalyptischen Vernunft auftritt,44 ist einerseits anhand der kompositorischen Veränderung der hebräischen Bibel, andererseits in deren christlicher Ergänzung oder Fortschreibung als einem Auslegungsvorgang des beibehaltenen Erbes zu analysieren.

Das „Alte Testament“ in den Händen der Christen gliedert sich nun in vier Teile: Auf die Tora der Bücher Mose folgen gesondert die Bücher der Geschichte, bei denen an die alte Komposition von Josua bis Könige nun die späteren frühjüdischen Geschichtswerke von der Chronik bis zu den Makkabäer-Erzählungen angehängt sind. Dieser Geschichtskorpus ist von den Prophetenbüchern noch durch die Zwischenstellung der Psalmen und Weisheits-Schriften getrennt. Die Prophetie bildet also anders als im „Tanach“ nun den Abschluss des ersten Teils des christlichen Kanons.45 Auch in diesem Aufbau des Kanons steckt eine „Wertung“ des Offenbarungszeugnisses: „Am Anfang steht, wie im Tanach, die Tora, d. h. die Erzählung über die ‚Ur-Offenbarung‘ Gottes vor Israel am Sinai“46 und so „blieb für die christliche Leseweise die in der hebräischen Bibel gegebene, das Ganze dominierende Prae-Position der Tora unverändert gültig.“47 Auf sie folgen aber nun „die drei Blöcke ‚Geschichte Israels im Lande‘ – ‚Lebensweisheit‘ – ‚Prophetie‘“, wobei die Propheten nicht nur entgegen der Anordnung im Tanach „ans Ende gestellt“ werden, sondern auch die dort den Schriften zugeordneten späten Propheten (wie Daniel) nun „zeitgeschichtlich entsprechend eingeordnet sind“48. Offensichtlich ist die Ordnung des Ersten Testaments stärker an der geschichtlichen Progression innerhalb des Kanons und an seiner Öffnung auf Zukunft, an einer theologischen Dynamisierung interessiert. So „entsteht insgesamt eine vierteilige, geschichtstheologische Struktur“49„nach dem geschichtstheologischen Schema von Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft“50: Die Tora steht für eine offenbarende Vor-Vergangenheit, gewissermaßen für Gottes Zeit, danach drängt die Schilderung der Geschichte Israels über die kommentierende Spiritualität der Weisheit hinaus zur eschatologischen Erwartung der Prophetie. Während das jüdische Kanonverständnis gegenwärtige Lebensbewältigung und endzeitliche Hoffnungen stets rückbindet an das Fundament der Offenbarungs-Sinngebung in der Tora, durchläuft der christliche Rezipient eine lineare Steigerung durch geschichtliche und religiöse Bestätigungen der Offenbarungswahrheit hindurch auf deren eschatologische Verifikation hin.

Darüber hinaus verweisen die letzten Worte des gesamten ersten Kanonteils beim Propheten Maleachi nun nicht mehr auf eine ausstehende messianische Zukunft, sondern auf deren schon erfolgtes Anbrechen im Erscheinen Jesu Christi.51Die neue Eckstellung der Prophetenbücher motiviert deren Wiederaufnahme im Neuen Testament, das seine Botschaft auf Schritt und Tritt im Rückgriff auf prophetische Hoffnungen rechtfertigt. Das Neue Testament wahrt die Einheit der biblischen Tradition dadurch, dass die „geschichtliche Grundorientierung in den hebräisch geschriebenen heiligen Schriften Israels bestimmend bleibt auch … für Jesus von Nazareth und alle neutestamentlichen Theologen.“52 Dabei kann man den Aufbau der christlichen kanonischen Schriften nochmals parallel zum Aufbau des Alten Testaments verstehen53: Die Evangelien entsprechen hier der Offenbarungs-Grundlegung der Tora, die Apostelgeschichte zeigt die Geschichte der Gemeinde, die Apostelbriefe beleuchten spirituell-weisheitlich ihre Gegenwart. Aber auch der neue Kanonteil endet in einem eschatologisch-prophetischen Buch, der Apokalypse des Johannes. Die christologische Erfüllungsgewissheit hat also keineswegs die Zukunftsorientierung abgebremst. Sie hat jedoch die geschichtstheologische Struktur apokalyptischer Vernunft verstärkt. Der Christ liest nun einen Kanon, der von der Schöpfung bis zur Endzeit des neuen Jerusalems reicht. „Die beiden ‚Eckbücher‘ Genesis und Offenbarung bilden einen universalgeschichtlichen Rahmen“54: „Offenbarung beginnt mit der Erschaffung von ‚Himmel und Erde‘ … und endet mit der Erschaffung eines ‚neuen Himmels und einer neuen Erde‘. … Sie kündet von Gottes Gegenwart und Handeln in der Geschichte, um die Erfüllung des göttlichen Planes gegen den Ansturm des Bösen sicherzustellen. Auf diesem Hintergrund betrachtet, durchdringt der apokalyptische Glaube die gesamte Heilige Schrift.“55 Der Aufbau des christlichen Kanons mit seinem eschatologischen Hoffnungsruf „Maranatha – Komm, Herr Jesus“ (Offb 22,20) als Schlusswort legt also eher eine Radikalisierung des geschichtlich-apokalyptischen Zuges apokalyptischer Vernunft nahe als dessen dem späteren Christentum oft vorgehaltene Erlahmung. Erst die Betrachtung der Wirkungsgeschichte dieses Kanons wird das Schicksal der apokalyptischen Vernunft in Befolgung oder Vergessen ihres Offenbarungszeugnisses klären können.56

Heute wäre es allerdings ein Anachronismus, die Analyse apokalyptischer Vernunft einfach der synchronen Textfolge des jüdischen oder christlichen Kanons entlangzuführen, ohne die historische Rekonstruktion der Entstehung dieses Zeugnisses zu beachten, die keineswegs geradlinig vom Buch Genesis zur geheimen Offenbarung des Johannes verläuft. Zwar bleibt die kanonische Textfolge für eine theologische Hermeneutik der Bibel maßgeblich, aber wenn schon eine biblische Theologie vom Wissen um den diachronen Wachstumsprozess der Heiligen Schriften nicht unbeeinflusst bleiben kann57, so wird eine kritische Analyse der Konstitutionsphase apokalyptischer Vernunft das kanonische Ergebnis nur im Durchgang seiner Vorgeschichte (soweit sie noch aufspürbar ist) wieder einholen können. Es muss ja „mit der kanonischen Struktur vereinbar sein, das alttestamentliche Glaubenszeugnis ... im Kontext der Geschichte Israels zu beschreiben“58, weil nur auf diesem Wege der kanonische Prozess als ein sachlich sinnvoller auch nachvollziehbar wird, worauf wir heute – mit unserem unabschüttelbaren historischen Bewusstsein – angewiesen sind. Es geht also darum, „das Wachstum der alttestamentlichen Traditionen selbst als theologisches Glaubenszeugnis zu erfassen“, um zugleich „die ursprüngliche Verankerung eines Glaubenszeugnisses innerhalb der Geschichte Israels zu ermitteln“ und die „Entwicklungslinie seines Gebrauchs und seiner Verwendung innerhalb von Israels Geschichte zu verfolgen“59. So kann man sowohl die ursprüngliche Tradition als auch deren Redaktion, sowohl „Quelle“ als auch „Kanon“ jeweils an ihrer historischen Stelle im Rahmen eines Werdeprozesses apokalyptischer Vernunft würdigen. Natürlich kann ich die Entstehung der Schriften mit all ihren Unsicherheiten so wenig erschöpfend behandeln, wie ich die thematische Breite des kanonischen Stoffes insgesamt darlegen will. Vielmehr suche ich die entscheidenden Scharnierstellen auf, an denen sich das Geschichtsverhältnis und Offenbarungsverständnis apokalyptischer Vernunft vorangetrieben hat. Meine Analyse ist deshalb beim Alten Testament zwangsläufig stärker an den Propheten und Geschichtsreflexionen interessiert als an Gesetz und Weisheit. Und sie ist beim Neuen Testament auf die eschatologische Botschaft Jesu und die Osterverkündigung von Jesus konzentriert und nicht auf Gemeindeordnung und Ethik. Man könnte auch sagen: Sie erfasst an der israelitischen und frühchristlichen Religionsgeschichte eher deren Aspekte einer „heißen“ veränderungs-orientierten als die einer „kalten“ statischen Gesellschaft.60 Sie leugnet dabei nicht, dass es diese zweite Seite des Phänomens auch gibt; – kein Volk und keine Religion überlebt ohne eine sogar stark ausgeprägte Statik ihrer Binnenstruktur und die kanonischen Endtexte wie auch ihre synagogale oder kirchliche Auslegung werden deshalb eher diese in den Vordergrund rücken. Nachzuweisen ist jedoch, dass es die innovativen Schübe der sich ausbildenden apokalyptischen Vernunft waren, die zugleich die wichtigsten Anstöße zur Textwerdung und „Redaktion“ des Offenbarungszeugnisses gaben. Ich behaupte also, dass die diachrone und selektive Wahrnehmung meiner Analyse sehr wohl jene Um-Brüche erfasst, durch die die Bibel wurde, was sie ist, – und durch die apokalyptische Vernunft jene „Weltanschauung“ ausbildete, die sie von anderen, sie umgebenden und mit ihr entstehenden Weisen, die Welt vernünftig anzuschauen, deutlich unterscheidet.

Apokalyptische Vernunft

Подняться наверх