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Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im Erzählen

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Ich beginne diesen Rückzug zu den Anfängen des Offenbarungszeugnisses mit einer nur scheinbar formalen Feststellung: Es bestimmt apokalyptische Vernunft von diesem ihrem Ursprung her, dass ihr Offenbarungszeugnis schriftlich fixiert wird und die Arbeit an seiner Durchdringung sich in einem lange hinziehenden Redaktionsprozess der Zusammenstellung, Erweiterung und anreichernden Kommentierung von Texten vollzieht. Damit soll nicht dem Schlagwort von der „Buchreligion“ zugesprochen sein: Heilige Bücher haben viele Religionen auch ohne apokalyptische Vernunft. Aber die Mythen und Weisheiten etwa der Veden und Upanishaden entstehen nicht durch eine in die Textgeschichte eingehende Korrespondenz geschichtlicher Ereignisse und deren „Verarbeitung“ durch „Überarbeitung“, durch Aktualisierung und fortschreitende Interpretation der alten Zeugnisse der Offenbarung. Genau so wächst jedoch die Bibel: In der Erinnerung an Vergangenheit spiegelt sich jeweils die Gegenwart der Sich-Erinnernden – und spätere Generationen überarbeiten diese Erinnerung wiederum von den Fragen und Einsichten ihrer neuen Gegenwart her. Deshalb sind die biblischen Zeugnisse nicht „historisch“: Sie führen nicht eindimensional zu bestimmbarem Gewesenen, sondern stets mehrschichtig in die Zeit jener, die ihre Geschichte sich immer neu vergegenwärtigen. Erzählte Geschichte und die Geschichte der Erzählenden korrespondieren miteinander.

Diese Korrespondenz ermöglicht die „Datierung“, die Situierung der Textgeschichte in der Geschichte des Kontextes ihrer Entstehung. Die Korrespondenz lässt den Text nun in der Perspektive seiner historischen Erforschung geradezu zwei Geschichten parallel erzählen: Zum einen die alten „Gründungslegenden“, von denen er erzählt (Vätergeschichte und Exodus, Sinaioffenbarung und Landnahme, Königszeit und Exil), zum anderen die Geschichte seiner Textgegenwart, in der und auf die hin er erzählt (die Krisen der judäischen Monarchie, die „Stunde null“ exilierter Intellektueller in Babylon, die Neuformierung jüdischer Gesellschaft und Gemeinde im Perserreich, die Selbstvergewisserung des Judentums im Hellenismus).3

„Das Gebot, mit Buchstaben urkundlich zu handeln ... bestimmt das Volk, das dieses Gebot empfängt und annimmt, zu einer Geschichtlichkeit ohne Präzedenz im Rahmen der Menschheitskulturen.“4 Die Art des biblischen Erzählens von Geschichte auf die Gegenwart hin schließt stets auch die dritte Zeitdimension ein: die Zukunft. Geschichte wird in prekärer Gegenwart erinnert, um die von Gott verheißene Zukunft zu erfragen. Dadurch werden die Verheißungen, wird die Theologie geschichtlich geerdet, zugleich aber werden Geschichte und Gegenwart – konkret: Politik, Ökonomie, Religion, Alltag – auf Ausstehendes, Erhofftes hin aufgebrochen. Man kann dies geradezu Israels „einzige ‚Erfindung‘“ nennen: „die Temporalisierung von Mythen in seiner eschatologisch orientierten Gottespassion.“5 In der Arbeit an seinem Offenbarungszeugnis „beginnt ein Volk, die Wirklichkeit zu stimmen, so als sei sie unvollständig ... Es ersinnt ... eine empirische Eschatologie, die sich befragt, eine Verheißung. Es bricht mit der mythischen Eschatologie“6, indem es die Verheißung im Fortgang ihr widersprechender Ereignisse zu verifizieren versucht. „Die in den biblischen Traditionen sich abzeichnende Weise der Weltwahrnehmung hat eine anamnetische Basis.“7 Dabei wird stets auf offenbarende Erinnerungen zurückgegriffen, in dem man sie neu erzählt und auf ihre Haltbarkeit für die Gegenwart hin befragt. Erinnerung ist nicht statisch-„historisch“, aber auch keine ideologische Selbstversicherung. Die Vergangenheit ist Anker und kritisches Potential zugleich: In unsicherer Gegenwart fragt man nach ihr zurück, ihre „Norm“ stellt aber auch die Selbstverständlichkeiten der Gegenwart in Frage.

Offenbarung, an die man sich erinnert, ist immer auch Offenbarung, die fehlt. „Die anamnetische Basis weltwahrnehmender Vernunft stuft alles Entschwundene nicht zum existentiell Bedeutungslosen herab. Wissen bleibt für sie eine Form des Vermissens.“8 Gott ist gefragt nicht als der Begründer von allem, was ist, sondern als der Gründer von etwas, was sein soll, aber nicht ist. Ist es nicht mehr oder noch nicht? Wo bleibt Gott? „Nicht das Problem, ob Gott existiert, sondern die Frage nach seiner dynamischen Wirksamkeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hat die jüdischen () Theologen umgetrieben.“9

Kulturgeschichtlich gesehen beginnt diese Arbeit kaum später als die Entwicklung des für sie wohl notwendigen geschmeidigen Mediums der Alphabet-Schrift. Es ist schon eine faszinierende Beobachtung, dass das Laut-Alphabet im Land der Bibel und „kurz“ vor ihrer Zeit entwickelt wurde: in Syrien und Palästina im 16. und 15. Jahrhundert v. Chr.! Die ägyptische Vorherrschaft hat diese Erfindung durch die Dominanz ihrer Hieroglyphenschrift zunächst noch überdeckt. „Erst als das Weltreich in der späten Ramessidenzeit zusammenbrach, kam die schlummernde Idee zum Durchbruch und wurde in den phönikischen Küstenstädten verwirklicht. Das muss etwa im 12. oder 11. Jahrhundert v. Chr. gewesen sein.“10 Und dies ist dieselbe Zeit, in die der historisch kaum greifbare Exodus der Moses-Leute aus Ägypten und die allmähliche Formierung prä-israelitischer Stämme im „gelobten Land“ Kanaan sich vollzieht, die Wurzel jener Erinnerungen, die einige Jahrhunderte später den Grundstock biblischen „Urmaterials“ bilden werden.

Indem die historische Forschung die einfache Übereinstimmung biblischer Berichte und der in ihnen berichteten Geschichte auflöste, hat sie die komplexe Korrespondenz erzählter Geschichte und Erzählergeschichte erst transparent gemacht. Nicht eine abstrakte Linearität, wie man sie noch vor einigen Jahrzehnten in den Vordergrund rückte, oder eine antimythische Rationalität der Geschichtsschreibung, sondern diese Verknüpfung berichteter Geschichte mit der Geschichte der Berichtenden begründet das Urteil, im Alten Testament werde „ein neuer Begriff von Geschichte gesetzt“11: Indem eine jeweils neu herausfordernde Gegenwart eine stufenweise immer weiter ausgreifende Befragung der Vergangenheit nach der in ihr aufgegangenen, dann problematisch gewordenen, dann doch nicht aufgelösten Verheißungen in Gang setzt, wird für Israel Geschichte zum Ort von Offenbarung und damit für uns „Israel der Zeuge des lebendigen Gottes in der Geschichte seiner Taten.“12 Indem historische Philologie die Entstehung der Schriften „als jahrhundertelanges, komplexes Ringen um die je aktuelle Bedeutung der zentralen Traditionen Israels zu begreifen sucht, wird diese Entstehungsgeschichte als faszinierende Geschichte der Gott-Suche Israels sichtbar. Zugleich wird deutlich, dass die biblische Gotteswahrheit einerseits immer nur in Annäherung erreichbar ist und dass sie sich andererseits unter veränderten geschichtlichen Bedingungen je neu bewähren und bewahrheiten muss.“13 Dabei ist Gott gerade in der Gegenwart der jeweiligen Erzähler meist ein verborgener Gott, ein sich ausschweigender Offenbarer, und die betriebene Befragung der Geschichte gleicht einem Appell an seine Antwort und einer Spurensuche in Trümmerlandschaft. Geschichte wird Israel Ort von Offenbarung nicht in deren triumphalen Gewissheit, sondern aus der Konsterniertheit über das Fehlen von Offenbarung, aus „Staunen und Entsetzen“ über die klaffende Wunde zwischen Gott und einer Geschichte, in der gläubiger Reflexion „der Weg der Erwählten gezeichnet von Leiden, von Schmerzen des Gerichts und von der ständigen Bedrohung der Verwerfung“14 erscheint. Die Arbeit mit und an den Erinnerungen setzt ein in der Wahrnehmung des „Fehlens“, des „Verlusts“ Gottes und seiner „Spur“ in der Geschichte: „‚Das-was-da(bei)-ist‘ … ist zu jeder Zeit da(bei). Dieses ‚da(bei) ‘ ist unvordenklich und bleibt in absentia, mit wechselnden Intensitäten, im Lauf der Geschichte präsent. Es wird nicht zurückgerufen, es wird buchstabiert, es wird als Ereignis entziffert, der ... geheime Sinn des Ereignisses wird risikoreich gestimmt.“15

Indem so die Deutung der Gegenwart an der Deutung der Vergangenheit sich erarbeitet, selbst wieder Vergangenheit wird und neu überprüft auf die Stimmigkeit der Korrespondenz, wächst prophetische und theologische Ereignisdeutung allmählich zusammen zu einem offenen Gewebe geschichtstheologischer „Systematik“. In ihr erhalten „alle biblischen Seinsaussagen einen Zeitvermerk.“16 Die Verknüpfung der Erinnerungsbögen untereinander im Horizont der ebenfalls zunehmend miteinander verknüpften Gegenwarten des Erinnerns setzt das Bewusstsein der eigenen Identität, geknüpft an die Identität Gottes, voraus und verstärkt es. So entsteht ein „Bewusstsein der eigenen Geschichte als einer besonderen Bewahrung und Beauftragung im Rahmen der gesamten Menschheitsgeschichte“, und daraus, quasi sekundär entwickelt sich „schließlich die Frage der absoluten Chronologie“17 und so auch Linearität des Geschichtsbildes.

Nicht für seine Geburt aus dem hier zunächst formal beschriebenen Prozess, wohl aber für die bewusste Formulierung dieses Zusammenhanges von Offenbarungsglauben und Geschichtstheologie lässt sich offensichtlich ein „Datum“ angeben: Es ist dies das babylonische Exil der Judäer 597 und 587 v. Chr.: Ausgerechnet in der theologischen Verarbeitung dieses Traumas vom Untergang des eigenen Staates, von der Niederlage des Gemeinwesens Jahwes gegenüber der Weltmacht Nebukadnezars gelingt die Formulierung der „Totalperspektiven“ Israels Geschichte und Israels Gott.

Beides hängt eng miteinander zusammen, sachlich wie literarisch. „Erstmals in der Geschichte Israels wird im Exil ein klarer Monotheismus formuliert.“18 Diese „folgenreichste theologische Innovation der Exilszeit“ ist das Werk namentlich unbekannter Autoren, welche die Forschung als „die Deuterojesaja-Gruppe und die Deuteronomisten“19 kennt, prophetische und prophetischer Überlieferung nahe stehende Theologen, welche die Verknüpfung der Einzigkeit und Identität ihres Gottes mit der Sinnhaftigkeit und Erzählbarkeit der Geschichte ihres Volkes – in und trotz all ihrer Brüche – auf den Punkt brachten. Die Entstehung des Altes Testamentes, wiewohl mit wesentlichen „Textbausteinen“ früher begonnen und mit wesentlichen Ergänzungen und Zusammenfügungen später vollendet, verdankt sich doch im Kern diesem theologischen Ereignis. Keine Phase der Geschichte Israels hat dem biblischen Zeugnis so sehr ihren Stempel aufgedrückt wie die Zeit in und nach der Verschleppung an die „Ströme Babylons, wo wir saßen und weinten, wenn wir an Zion dachten.“ (Ps 137,1)

Das gesamte ältere Überlieferungsmaterial wurde durch dieses Nadelöhr hindurch neu eingefädelt, und dieser Vorgang wirkte strukturbildend für spätere theologische Innovationen und die Reflexion neuer, sogar neuer offenbarender Ereignisse – bis hinein in das Neue Testament. Die folgende Analyse wird deshalb das babylonische Exil umkreisen wie den „Urknall“ apokalyptischer Vernunft, von dem her sie ihre inneren Gesetze eingeschrieben erhielt. Sie wird einsetzen mit der Frage nach der Herkunft der kritischen Masse für diese Explosion, und sie wird die spätere Ausbreitung der freigesetzten Energie unter dem Gesichtspunkt der sich durchhaltenden und weiter ausprägenden Strukturgesetze verfolgen.

Apokalyptische Vernunft

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