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Biblische Vernunft

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Wenn der Titel dieses Buches nicht einfach von Apokalyptik, sondern von „apokalyptischer Vernunft“ spricht, dann spricht er von etwas Denkbarem, dass sich herleitet und bezieht auf „etwas“, das mehr und anders ist als Denken. Das Denken aus dieser Herkunft – so ist die These des Buches schon in der Zusammenstellung von Titel und Untertitel gemeint – macht das biblische Geschichtsdenken aus. Damit ist eine doppelte Präzisierung dessen gegeben, was meine Analyse erfassen kann und will:

1. Das biblische Geschichtsdenken beruft sich auf göttliche Offenbarung. Aber diese Offenbarung als solche können wir niemals erfassen, nur ihren Niederschlag, ihr Zeugnis. Apokalyptische Vernunft ist eben das, was wir analytisch erfassen können: nicht der biblische Glaube als solcher, sondern stets schon dessen Abschattung in Glaubens-, Denk- und Handlungsweisen, die geschichtsmächtig werden und ihr geschichtliches Schicksal haben. Streng genommen ist ja auch der biblische Glaube nicht selbst Offenbarung in ihrer theo-logischen Aktualität, sondern deren Bezeugung im Niederschlag des Denkens aus diesem geschichtlich gelebten Glauben heraus. Von diesem Zeugnis nimmt die Analyse ihren Ausgang, befasst sich dann aber mit dem hier auffindbaren „Begriff“ von Offenbarung, der eine eigene Weise menschlicher Vernunft hervortreibt, auch eine spezifische Weise, mit Geschichtlichkeit und Geschichte umzugehen. Diese hermeneutische Zurückhaltung, die beim geschichtlich-strukturell Erfassbaren bleibt, erlaubt es gerade, hinter den biblischen Offenbarungsglauben zurückzufragen nach der Vernunft, die ihn schon fundiert und umgibt bzw. umgekehrt: die er aufnimmt und erfüllt.

So konzentriert sich die Analyse zunächst auf jene Vernunft, die apokalyptisch denkt, deren Rationalität also stets auf das Ganze und das Ende von Geschichte bezogen ist, auf eine Vernunft, die bestimmte Kategorien des Geschichtsdenkens aus sich heraus setzt, eine Vernunft, die sich von anderen, unapokalyptischen, vielleicht gänzlich ungeschichtlichen, wird unterscheiden lassen. Die apokalyptische Vernunft ist zugleich die Vernunft, die „Denkform“, welche die biblische Offenbarung in die Welt gebracht hat. Sie ist – schon, weil Offenbarung selbst ja keine Denkform, kein Einheitsband für Begriffe und Kategorien ist – eine wirkungsgeschichtliche Größe. Apokalyptische Vernunft ist also auf der Ebene angesiedelt, auf der biblische Offenbarung Gegenstand einer geschichtsbezogenen Analyse werden kann: auf der Ebene einer „Idee“ von Geschichte, die selbst sofort Geschichte wird, ja vom ersten Moment an ist. Das macht die heutige Relevanz dieses Rückgangs zur apokalyptischen Vernunft der Bibel aus: Noch wir Heutigen stehen in der Wirkungsgeschichte dieser Vernunft. Unsere Geschichte, die bis in die Möglichkeit der modernen, säkularen Apokalyptik geführt hat, ist von dieser biblischen Herkunft mitgeprägt.

2. Inhaltlich wird diese Darstellung deshalb nicht – wie etwa eine Theologie des Alten und des Neuen Testaments – alle biblischen Aussagen zur Geschichte sammeln und systematisieren. Dies ist auch nicht das Buch eines Fachmanns biblischer Exegese. Ich will nicht alles erfassen und interpretieren, was die Bibel zur Geschichte sagt, sondern wie sie von Geschichte denkt. In und hinter ihren Einzelaussagen suche ich nach der darin sich ausdrückenden Vernunft, der Denkform, hegelianisch ausgedrückt: dem Begriff von Geschichte in der Bibel.

Mit einer solchen Analyse ist eine bestimmte hermeneutische Haltung verbunden, die ich, wenn auch nicht ausführlich begründen, so doch deutlich offen legen möchte. Die Auslegung biblischen Geschichtsdenkens muss eine Strukturanalyse sein: Sie versucht an die intensivste Mitte dieses Denkens heranzukommen – nicht, indem sie es auf abstrakte Prinzipien reduziert, sondern indem sie das Denken bei seinen stärksten Seiten fasst, die immer nur konkret, in bestimmten Äußerungen angetroffen werden, in denen dieses Denken sich verwirklicht. Die intensivste Mitte ist meist nicht dort gegeben, wo ein Denken seine eigene Erkenntnislehre darzubieten versucht, wo es über sich selbst spricht, sondern wo es seinen „status confessionis“ auslegt: das, worum es ihm unbedingt geht. Nicht allgemeine, formale Prinzipien kommen dem Eschaton, den „Letzten Dingen“ eines Denkens, am nächsten, sondern gestalthafte, entscheidende Knotenpunkte symbolisieren es. Der „intensivste Punkt“ ist genauso wenig mit den Axiomen wie einfach mit den Ergebnissen eines Denkens gleichzusetzen. Wenn Schelling in seiner „Einleitung in die Philosophie der Offenbarung“ rät, man müsse einen Philosophen „in seinem Grundgedanken“ und nicht in späteren Folgerungen zu verstehen suchen – denn: „Der wahre Gedanke eines Philosophen ist eben sein Grundgedanke, der, von dem er ausgeht“26 –, dann darf dieser Grundgedanke m. E. nicht mit den Grund-Sätzen, den Präambel-Thesen eines Werkes einfach gleichgesetzt werden. Eher geht es um die Gedanken „am Grund“ der Gedanken. Die müssen weder am Anfang noch am Ende stehen, noch die auffällig „tiefsinnigsten“ sein. Das, was ein Denken bewegt, spiegelt sich vor allem in komplexen, manchmal zunächst peripher wirkenden Stellungnahmen, Wendungen, Unverwechselbarkeiten. Darin kann aufgehen, woran es eigentlich hängt, was es wirklich wissen, sehen, erkennen will.

„Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt“, heißt es in einer späten Notiz Ludwig Wittgensteins: „Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.“27 Wittgenstein macht hier eine sprach-logische, erkenntnistheoretische Aussage, keine über ein (etwa sein) individuelles Denken. Der Witz dieses Satzes, der das übliche Verhältnis von Grundmauer und Gebäude umkehrt, kehrt auch die gewohnte Abstraktions- und Deduktionslogik um, nach der die jeweils allgemeinsten Grundsätze alle weiteren Folgerungen tragen und so ein System (Haus) ermöglichen. Die Umkehrung ist aber auch keine rein symmetrische: Wittgensteins Satz deckt sich nicht mit einer empiristischen Induktionslogik, nach der die Grundsätze sich einfach aus der Addition von Einzelerkenntnissen ergeben. Solche Summen-Sätze ergeben aus sich niemals einen „Boden meiner Überzeugungen“. Ich möchte die in Wittgensteins Satz ausgedrückte Theorie versuchsweise eine „strukturale Intensitätslogik“ nennen: In dieser stützen sich eigentlich alle Einzelsätze gegenseitig, durch das logische Verhältnis, in dem sie zueinander stehen. Das Ganze ist eher ein Geflecht oder – in Wittgensteins Bild bleibend – ein architektonisches Gefüge, in dem die Elemente miteinander statische Sicherheit erzeugen. Allerdings sind in einem solchen Gefüge nicht alle Elemente gleichgeordnet, denn sie sind für das Ganze von unterschiedlicher Bedeutung, sie sitzen an mehr oder weniger entscheidenden Stellen, sie erzeugen unterschiedliche Gerade von Festigkeit und Form des Ganzen. Sie haben unterschiedliche „Intensität“. Die „Punkte“ höchster Intensität sind jene, in denen sich – obwohl es sich auch hier um einzelne Elemente handelt – der Zusammenhang des Ganzen nochmals konkret abbildet, verfestigt, „symbolisiert“: Diese Elemente sind deshalb wie Grundsteine, sie bilden ein Fundament, einen Boden des Ganzen. Weil man jedoch, um dies in ihnen zu erkennen, das Ganze in seinen Elementen kennen, durchschreiten muss – weil ihre Intensität wiederum in ihrer Korrespondenz zum Ganzen besteht – deshalb werden sie gewissermaßen vom Ganzen getragen und nicht umgekehrt.

Ich meine, dass diese strukturale Auffassung von Denken und Erkenntnis besonders geeignet ist, geschichtlich gewachsene, über-individuelle Denkformen – Ausformungen menschlicher Vernunft – zu erkunden. Denn wirkungsgeschichtliche, kommunikative und traditionale Prozesse im Denken einer Kultur oder Religion – eingeschlossen die kultur- und religionsgeschichtlichen Brüche, Veränderungen und gegenseitigen Beeinflussungen über „Gebäudegrenzen“ hinweg – folgen weder einer Logik deduktiven Folgerns noch der eines induktiven Zusammenrechnens. Erkenntnis-„Fortschritte“ in solchen Zusammenhängen geschehen nicht linear, und dass wir überhaupt einen Zusammenhang erkennen, liegt nicht an Schlussfolgerungsketten, sondern an Strukturanalogien; also daran, dass wir nicht nur einzelne Elemente wiedererkennen, sondern auch deren Zueinander und ihre Funktion für das Ganze (den Grad ihrer Intensität!) in geschichtlichen Momentaufnahmen und dadurch in ihrer Entwicklung verfolgen können.

Schließlich liegt für die Analyse einer geschichtlichen Vernunft ein entscheidender Vorteil dieses strukturalen Bildes von Vernunftzusammenhängen darin, dass es erlaubt, Vernunftphänomene (Erscheinungen des Denkens) nicht von „außervernünftigen“ Faktoren ihrer Geschichte zu isolieren. Wenn ich geschichtliche Vernunftzusammenhänge nicht nach einer linearen Logik von Abstraktion und Konkretion auffasse (egal, welcher von beiden Seiten ich den Primat einräume), sondern nach einer strukturalen Logik von Intensitätsgraden im Verhältnis der Peripherie zur Mitte, dann muss ich „Sein“ und „Bewusstsein“ in der Geschichte einer Vernunft nicht gegeneinander ausspielen. In einer Logik der Abstraktion erreiche ich das „Eigentliche“ einer Vernunft erst, wo ökonomische, politische, soziale oder gar natürliche Faktoren, die auf sie einwirken oder auf die sie einwirkt, herausgefiltert sind. In dem dieser Logik bleibend verbundenen Gegenpart einer Konkretionslehre gelten dagegen diese „reinen Vernunftzusammenhänge“ als schlechte Abstraktionen, als Destillat, dem nicht mehr anzumerken ist, worum es in dieser Vernunftgeschichte „wirklich“ geht: nämlich um die politische, soziale, ökonomische Wirklichkeit, in der sie wirkt.

In einer strukturalen Beschreibung von Vernunftphänomenen ist nicht vorausentschieden, ob die höhere Intensität auf Seiten der „Eigentlichkeit“ oder der „Wirklichkeit“ der Vernunft liegt. Strukturale Zusammenhänge gehorchen nicht der Hierarchisierung von Basis und Überbau (auch das steckt indirekt im Bild Wittgensteins!). Das, worum es einer Vernunft „eigentlich“ geht, kann sehr wohl in politischen und ökonomischen Vorgängen stecken, so dass gerade in ihnen die Intensität dieser Vernunft zu sich selbst kommt. Zugleich kann der „wirkliche“ Zusammenhang einer Weise des Denkens und Glaubens zu „seinen“ politischen und ökonomischen Verhältnissen gerade in Elementen des Nicht-Zusammenhängens bestehen, darin, wie sie „trotz“ ihrer oder „quer zu ihnen“ sich so gebärdet und entwickelt, wie sie es tut.

Erst in der Anwendung, in der Analyse der geschichtlich gewachsenen apokalyptischen Vernunft, wird sich bewähren lassen, wovon ich hier vorab einen formalen Begriff zu geben versuche. Dieser Bewährung vorgreifend möchte ich hier aber schon die These wagen, dass die strukturale Sicht von Vernunft-Verhältnissen gerade der Geschichte apokalyptischer Vernunft entspricht, ihr gerecht wird: Zeichnet sich doch die apokalyptische Wirklichkeitsauffassung dadurch aus, dass sie höchste, geradezu materialistische Konkretion ihrer Prinzipien mit entschiedener Überbietung jeder möglichen Konkretion verbindet. In der Apokalyptik als „Offenbarungsvernunft“ wird Gott in die Konkretion bestimmter Worte, Handlungen und Inkarnationen gezwungen und zugleich wird durch die Suche nach Offenbarung als „Boden meiner Überzeugungen“ allen anderen, „bodenständigeren“ Erkenntnisweisen der Boden entzogen. Dies gilt auch für Apokalyptik als der Geschichte von ihrem Ende her auffassenden Vernunft: Hier werden alle übernatürlichen, religiösen Glaubensinhalte radikal konkretisiert auf ihre Verwirklichung in politischer Geschichte hin, und doch wird das „Eigentliche“ dieser Geschichte erst in deren Katastrophe, Abbruch und ihrer Überwindung offenbar. Die intensivste Mitte apokalyptischer Vernunft und damit ihre geschichtlichen Bewegungsgesetze wird also nur eine Analyse aufdecken, die nicht schon durch ihren methodischen Ansatz diese „spannende“ Struktur auf eine ihrer Seiten hin auflöst.

Apokalyptische Vernunft

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