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Schriften am Ursprung apokalyptischer Vernunft
ОглавлениеIn einigen groben Zügen sei hier – die These belegend und illustrierend – auf die wichtigsten Schritte der Herausbildung prophetischer Theologie hingewiesen, wie sie sich schriftlich niedergeschlagen hat und sich der heutigen historischen Erforschung der Literatur Israels, der entstehenden Bibel, darstellt.
„Wie es in der Geschichte überhaupt keinen ‚Anfang‘ ohne ‚Vorgeschichte‘ gibt, begann diese Denkbewegung eigentlich schon im 7. Jh. v. Chr.“71: Der charakterisierte Übergang zur prophetischen Theologie hat seine Wurzeln schon in vorexilischer Zeit, nämlich in der geschichtsbezogenen und radikal auf die Wahrheit seiner Offenbarung setzenden Eigenart des JHWH-Glaubens, ohne die schon die Prophetie nicht denkbar gewesen wäre. Literarisch fassbar wird dies in der Verarbeitung der ersten Katastrophe, der Zerstörung des Nordreiches Israel im Jahr 722 v. Chr., die das Königreich Juda erstmals zwang, auf die erfüllte Unheilsprophetie aus den Bruderstämmen zu hören. In dieser Zeit scheint die prophetische Verkündigung aus dem verlorenen Norden in Juda erstmals gesammelt und aufgezeichnet worden zu sein, insbesondere „ein Amos-Buch“ und ein „Grundbestand des Hosea-Buches.“72 „Für die Nordstämme selbst hatte dies … keine positiven Auswirkungen mehr, insofern sich die nach Assyrien deportierten Israeliten im Völkergemisch verloren, ‚weil sie noch keine identitätsbewahrenden Texte mit in die Fremde nehmen konnten‘. ... Die Weiterbearbeitung der Texte durch eine ‚exilische Umkehrbewegung‘ (N. Lohfink) hat dem Südreich dann das Assimilationsschicksal der Nordstämme ersparen helfen.“73
Es war also gewissermaßen die gescheiterte Prophetie eines gescheiterten Königreichs Israel, deren Erinnerung Juda nach seinem Scheitern überleben und das spätere Judentum herauszubilden half. Zunächst, noch vor dem Fall Jerusalems, wurden die Gerichtsansagen des Hosea und des Amos für das noch existierende Südreich fixiert und auch „literarisch aktualisiert (), um den dortigen Lesern ein historisiertes Verständnis zu verunmöglichen“74: Sie sollten sich nicht distanziert zurückgelehnt am Schicksal ihrer lange verfeindeten Nachbarn weiden, sondern begreifen, dass mit den Gerichtsansagen auch sie selbst gemeint waren.
Unter diesem Einfluss der katastrophischen Prophetie aus dem Norden ist dann offenbar schon vor dem Exil auch die Geschichte des Südens neu interpretiert worden. Die ersten größeren Geschichtsdarstellungen und theologischen Redaktionen der älteren Überlieferung, rekonstruierbar in den „JHWHstischen“ Quellensträngen der Bücher Mose, scheinen nämlich ebenfalls aus dieser Situation motiviert. Auch deren Geschichtsdarstellung „entstand unter dem Einfluss der Propheten Amos, Hosea und Jesaja im 7. Jh. als Reflex auf den Untergang des Nordreiches 722“. In ihr wurden erstmals „bis dahin einzeln entstandene Erzählzyklen über die Anfänge Israels (Abraham-Jakob-Zyklus; Josefnovelle; Exodusgeschichte; Landnahmezyklus) zu einem geschichtstheologischen Werk zusammengestellt“.75 Wenn diese neuere Datierung zutrifft76, dann fällt dieses „Jerusalemer Geschichtswerk“ in dasselbe Jahrhundert, in die Zeit der Könige Hiskija und Joschija nämlich, wie die ältesten Schichten des Buches Deuteronomium, jener theologischen Durchdringung der Gesetzesüberlieferungen, welche die strenge Bindung Israels allein an JHWH und an den Tempel als seinem alleinigen Heiligtum durchsetzen wollte. Auch das so genannte Bundesbuch, der Kern der Rechtstexte im Buch Exodus, stammt aus dieser späten Zeit des Königreiches Juda und greift nun als Tora „die theologisch zentralen Inhalte von Recht, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit … auf, die in der prophetischen Verkündigung bei Hosea, Amos, Micha und Jesaja im Vordergrund standen.“77 D. h.: Geschichtsreflexion und Redaktion der Tora entstehen in der späten Königszeit, unter dem Eindruck der assyrischen Überwältigung und der Unheilsprophetie als erster bewusster Versuch, im kleinen, bedrohten Juda alles auf die Karte einer „Kontrastgesellschaft Gottes“ zu setzen, auf ein Gemeinwesen, das sich im Jesaja-Spruch „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht“ (Jes 7,9) festmacht.
Die wirkungsgeschichtlich bedeutendste Tat dieser vorexilischen Geschichtstheologie besteht im Einbezug der Urgeschichte, der Erzählungen von der Schöpfung, von den ersten Menschengeschlechtern und dann erst von den Vätern Israels in die prophetische Theologie der Dialektik von Heil und Unheil. Beim „JHWHsten“ „hat die Urgeschichte ein Gefälle des sich steigernden Abfalls von Jahwe, der wiederum je neue Gegenmaßnahmen Gottes erfordert, damit die Geschichte auf ihr Ziel hin weiterläuft.“78 Dadurch wird die prophetische Krisenerklärung über das Israel der Gegenwart zum hermeneutischen Schlüssel der Universalgeschichte: Vom Verlust des Garten Edens angefangen über die Verfluchung des Brudermörders Kain und die große Flut muss der eine Gott der ganzen Menschheit „alles in sich austragen: die erschreckende Erkenntnis der Pervertierung seiner Schöpfung durch den Menschen und den unbegreiflichen Willen zur Bewahrung eben dieser Menschen“.79
Fast schon die spätere exilische Heilswenden-Prophetie vorwegnehmend, wird hier die geschichtstheologische Bindung des Schicksals der Offenbarung Gottes an die Wechselhaftigkeit menschlichen Wirkens und die Verknüpfung der Schicksalsschläge Israels mit der sie umgreifenden Weltgeschichte gedacht. Der „JHWHst“ schreibt die „Geschichte Gottes mit den Menschen trotz der Menschen“80 und er nimmt die Unheilstendenz im menschlichen Gestalten von Geschichte (wie der Autor es in den zeitgenössischen Großreichen beobachtet) als Hintergrundfolie für den Willen Gottes, im Bund zunächst mit Abraham und dann mit seinen Nachkommen immer wieder einen neuen Anfang zu wagen. „Das Jerusalemer Geschichtswerk hat in einer Stunde der geschichtlichen Erschütterung Israels die Geschichte selbst und die Geschichtserinnerung zu einem tragenden Fundament der Religion Israels gemacht.“81
Die Katastrophe auch des Südreiches ab 597 v. Chr. setzt dann – vor allem unter den Deportierten in Babylon – den breiten Prozess der Fortschreibung und Redaktion prophetischer Überlieferung frei, der aber auch die geschichtlichen Erinnerungen und die Tora, die normativen Überlieferungen zu Kult und Sozialleben, mit einbezieht. „Das Ausmaß der Katastrophe erzwingt den Rückgriff auf die Vorgeschichte.“82 Die exilische und frühe nachexilische Zeit bildet gerade deshalb die sensible Phase für die Entstehung der apokalyptischen Vernunft, ihre „Achsenzeit“83, weil ihre Theologie sich nicht auf ein prophetisches Sondergut, auf eine prophetische Richtung in Israels Glaubensgeschichte beschränkt, sondern der durch die Prophetie gegebene Anstoß nun Schritt für Schritt auf die gesamte Themenfülle des theologischen wie politischen Denkens angewandt wird: Königsannalen und Tempelordnung, Herkunfts-„Mythen“ und Sozialgesetzgebung werden im Licht der Prophetie und des von ihr zu Recht angesagten Geschichtsbruches bearbeitet.
Dieses Bemühen wird greifbar in einem prophetischen Kapitel wie Ez 20, es setzt sich fort in dem großen nachexilischen Geschichtswerk – dem sog. „Deuteronomistischen Geschichtswerk“, das die Stoffe von der Genesis an bis zum Ende der Königszeit verarbeitet84 –, in der sog. „Priesterschrift“ und in den späteren Redaktionsarbeiten, welche diese Ansätze miteinander verschmelzen und die heutigen biblischen Bücher abgrenzen.85 Dabei gehen die Geschichtsschreiber anders vor als die am Kult interessierten Nachfolger der Priesterschaft. Die entstehenden Werke setzen deshalb unterschiedliche Akzente, aber alle sind ohne die prophetische Unterbrechung so nicht denkbar. Natürlich gibt es Unterschiede und auch echte Widersprüche etwa zwischen der radikalen Kultkritik einiger Propheten und den Autoren der „Priesterschrift“, dennoch sind auch deren selbstkritische Geschichtstheologie, ihre Hoffnung auf ein Israel ohne König und Macht, ihr universeller Monotheismus aus prophetischen Wurzeln geschöpft. Die Bibel Israels entsteht aus durchaus miteinander streitenden Strömungen, Schulen, Theologien. Apokalyptische Vernunft entsteht nicht als ein bestimmtes System, nicht als in sich geschlossene Lehre, sondern als die in dieser Umbruchzeit geschmiedete Offenbarungs- und Geschichtslogik, welche die unterschiedlichen Quellenwerke so miteinander verbindet, dass sie schließlich einen Kanon von Schriften bilden können.
Also endet die Arbeit nicht mit dem Exil. Im Gegenteil geht die Forschung heute davon aus, „dass die alttestamentlichen Bücher in ihrer vorliegenden Gestalt deutlich von der Theologie des perserzeitlichen und hellenistischen Judentums geprägt sind“86. Die Neukonstitution eines jüdischen Gemeinwesens im Lande stellt neue Herausforderungen. Die Weiterarbeit an den Texten und das Zusammenfügen von Überlieferungssträngen, jetzt auch schon von großen schriftlichen Werken, schreitet noch Jahrhunderte voran und mündet in die „Kanonisierung“, die Sakrosankt-Erklärung und damit den Abschluss der Schriften. Kanonisierung meint dabei nicht erst die letzte, oft historisch nicht genau greifbare Entscheidung über die Zugehörigkeit bestimmter Einzelbücher zur Heiligen Schrift, denn oft besteht diese „Entscheidung“ einfach in der Aufzeichnung, der uns zugänglichen listenhaften Bestätigung einer schon in der Praxis erfolgten Anerkennung. Kanonisierung schließt zuvor schon „den Prozess ein, durch den die Sammlung entstand, und der sie bis zu ihrem letzten Stadium der literarischen und textlichen Stabilität führte“87.
Dieser Prozess erscheint in vielem vom ursprünglichen prophetischen Impuls weit entfernt zu sein; man hat ihn in der Forschung häufig als beginnende Verkrustung, als Traditionalismus und Gesetzlichkeit abgewertet. Man kann ihn historisch realistischer jedoch als Weiterführung jenes Übergangs von der Prophetie zur prophetischen Theologie betrachten, der seinen Verlust an Offenbarungs-Aktualismus bezahlt, um die prophetische Denkstruktur so zu stabilisieren, dass sie als Glaubensweise, ja religiöse Lebensweise und schließlich die Vernunft geschichtlich imprägnierende Wirklichkeitsauffassung weiter besteht. „Das Material wurde so geformt, dass es bei weitergehender Verwendung durch seine späteren Hörer weiterhin Bedeutung behielt. Es wurden Richtlinien vorgegeben, die das Material mit seiner zukünftigen Aktualisierung vereinbar hielten.“88
Dass die in diesem Stadium entstehenden Textschichten und Werke, angefangen von der Neufassung des Gesetzes- und Überlieferungsmaterials in der sog. „Priesterschrift“ bis hin etwa zur Neu-Paraphrase der Geschichtserzählungen in den Büchern der „Chronik“, inhaltlich und stilistisch nicht mehr so nah am kontingenten prophetischen Impuls stehen wie die Texte kurz vor und nach dem Exil, liegt in der Natur dieses Prozesses und nicht in einer Art Dekadenz. Nun „werden die Propheten dasjenige, wofür man sie dann jahrhundertelang in der Auslegungsgeschichte der Bibel hielt: Ausleger des mosaischen Gesetzes und Anwender dieses Gesetzes auf die Geschichte.“89 Das mag ein unhistorisches Klischee sein, aber es ermöglicht die Hörbarkeit der Propheten gerade ohne historisierende Distanzierung. Dass Prophetie „kontingent“ ist, bedeutet eben, dass sie nicht beliebig verlängerbar oder wiederholbar ist.
Die Alternative kann also gar nicht darin bestehen, die Prophetie „rein“ zu erhalten oder sie überlieferungsgeschichtlich „einzufrieren“ und fälschend zu „übermalen“. Sie besteht vielmehr darin, den Anfangsimpuls entweder nur museal zu zitieren bzw. – weil dies über Jahrhunderte kaum gelingen kann – ihn wieder zu vergessen, oder aber als Ferment in die eigene denkerische wie praktische Religiosität einwirken zu lassen. Und dann muss er zwangsläufig auch in die Sphären des Gesetzes, des Kultes und der Weisheit aufgenommen werden, die als „Vademecum“ dienen, aus dem heraus der scheinbar ruhig gestellte, scheinbar institutionalisierte Offenbarungsimpuls wieder Funken schlagen kann – und auch geschlagen hat, sobald wieder eine geschichtliche Situation nach ihrer theologischen Qualifikation schrie und Menschen da waren, den Ruf zu hören.
Wer sich in diesen Prozess vertieft, dem ist auch ohne falsche Mystifizierung am Ende nach ein wenig Pathos zumute, denn ein solches Hervorgehen eines Gemeinwesens und seiner Religion aus dem eigenen Untergang ist weltgeschichtlich wohl doch einmalig. „Während sich die meisten anderen Nationen im alten Vorderen Orient damit begnügt hätten, das Urteil der Geschichte zu akzeptieren, kollektiv mit den Schultern zu zucken und ihre Verehrung auf den Gott des Siegers zu übertragen, gingen die späteren Redaktoren der deuteronomistischen Geschichtsdarstellung zurück ans Reißbrett.“90 „Es gehört zu den Wundern in der Menschheitsgeschichte, dass Israel den Untergang seiner beiden Staaten überlebte. Die politische Katastrophe führte nicht zur Aufgabe seiner selbst und seines Gottes. Vielmehr setzte sie in der Exilszeit eine tiefe religiöse Reflexion in Gang, in der Israel seinen Untergang als Beweis der alleinigen Macht seines Gottes als des einzigen Herrn der Geschichte verstehen lernte. … Aus der Katastrophe des Exils wurde das Judentum geboren … Gerade weil die Kleinstaaten Israel und Juda untergingen, machten sie Geschichte, die bis heute währt.“91