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Prophetie: Theologische Qualifikation der Gegenwart

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In den „Urknall“ des babylonischen Exils ging eine Menge unterschiedlichen Überlieferungsmaterials ein: Rechtliche, ethische und kultische Normen, geschichtliche Erinnerungen, politische und religiöse „Ideologien“, weisheitliche und fromme Merksätze, – den entscheidenden Zündsatz lieferte jedoch die Prophetie.

Beim Stichwort Prophetie denkt man zunächst an einzelne Gestalten und deren Wirken, an die Propheten. Prophetie ist keine abstrakte geistesgeschichtliche Größe, kein Inhalt, der sich einfach von seinen „Urhebern“ und deren Geschichte ablösen ließe. Schon darin, dass es die Prophetie nicht als solche, sondern nur in einzelnen unterschiedlichen Vertretern (und Vertreterinnen, wie Hulda) gibt, spricht sich etwas von ihrem Wesen aus: nämlich von ihrer wesentlichen Kontingenz.20 Dennoch müssen wir den strukturellen Kern des Phänomens biblischer Prophetie zunächst in einer abstrakten „Definition“ erfassen, die es ermöglicht, den spezifischen Beitrag der Prophetie zum Inventar apokalyptischer Vernunft zu benennen. Dieses Verfahren ist auch historisch geboten, denn die theologische Innovation der Exilszeit war weit mehr als von einzelnen prophetischen Gestalten von der Fähigkeit bestimmt, aus der Überlieferung prophetischer Botschaften nicht nur bestimmte Inhalte festzuhalten, sondern theologische Prinzipien abzuleiten und neu anzuwenden. Diese Transformation von Prophetie in prophetische Theologie stellt m. E. das Werkzeug für die Ausbildung alttestamentlicher Geschichtstheologie dar. Und was hier in ein theologisches Instrumentarium transformiert wird, ist die ursprünglich im kontingenten, d. h. konkret-einmaligen Propheten-Wort ergehende theologische Qualifikation einer geschichtlichen Situation, nämlich der Gegenwart.

Darin besteht also die These und der „Definitionsversuch“ dieses Abschnittes: Biblische Prophetie ist die in konkreten Worten (mitunter auch begleitenden Zeichen) ergehende vollmächtige, im Namen Gottes verkündete theologische Qualifikation der gegenwärtigen geschichtlichen Situation des Kollektivs (manchmal auch von Individuen), an welche die Botschaft sich richtet. Die Situation ist dabei nicht eine nur geistesgeschichtlich oder innerlich oder moralisch erfassbare, sondern pointiert die der äußeren, politischen Vorgänge: „In der Prophetie kommt Gott zu seinem Volk auf dem Feld der politischen Geschichte ...; spricht er sein Wort in die Aktualität einer bestimmten Situation hinein.“21 In der Prophetie „findet eine ökonomisch-politische Analyse der Gegenwart statt“, aber nicht für sich ausgeführt, sondern eingeschlossen in die „Erfahrung der Diskrepanz zwischen der Weisung JHWHs … und der erfahrenen Realität.“ Deshalb formulieren Propheten nicht „theologische Sätze von zeitloser Dauer“, sondern die „Vermittlung der Worte … Gottes in die konkrete Situation der Gegenwart hinein.“22 Theologische Qualifikation heißt dabei, dass eine Aussage darüber getroffen wird, was diese Situation in den Augen Gottes bedeutet. Der Kern prophetischer Botschaft wird hier also als eine theologische Tatsachenbehauptung aufgefasst, nicht als Zukunftsvorhersage und nicht als ethische Weisung. Der Prophet verkündet, was in den Augen Gottes – meist gegen die Illusionen und Verschleierungen der Adressaten – „Sache ist“. „Die Prophetie konfrontiert die hellsichtige Gegenwartsanalyse mit der Wahrheit Gottes für diese Welt.“23

Aus dieser Klärung der Sachlage, sozusagen aus der theo-logischen Benennung der gegenwärtigen Situation folgt dann häufig ganz eng verknüpft, was zwangsläufig geschehen wird und wie unbedingt zu reagieren ist. Situationsbenennung und Zukunftsansage sind so eng miteinander verknüpft, weil die Qualifikation eine theologische ist: Wo Gottes eigene Stellung zur Situation in Anschlag gebracht wird, ist über sie gewissermaßen ein letztes Wort gesprochen. Und weil Gott nicht ein unbeteiligter Zuschauer des Geschehens ist, folgt aus diesem letzten Wort auch, was vor der Tür steht, und auch, was zu tun ist – falls überhaupt noch etwa zu tun bleibt. „Was die prophetische Zukunftsschau von jedem politischen Kalkül unterscheidet, ist die unerschütterliche Gewissheit, dass in den kommenden Ereignissen Gott aufs unmittelbarste an Israel handeln wird, also die Tatsache, dass das kommende Geschehen theologisch völlig eindeutig erscheint.“24 Damit erscheint die doppelte Bedeutung des Terminus „apokalyptisch“ im Anspruch prophetischer Botschaft wie im Brennglas vor-gegeben: Ihre Rede weiß sich unmittelbar von Offenbarung her inspiriert und sie sagt der Gegenwart ein letztes Wort und damit ihr „Ende“ – jedenfalls als die bis dahin gegebene und verstandene Gegenwart – voraus. Alles Weitere, was von dieser Definition des Prophetischen her gleich zu entfalten ist – dass es in seiner Verkündigung stets um Gericht oder Heil geht, dass es den Nukleus der spezifisch biblischen Eschatologie und zumindest unausdrücklich und anfanghaft auch eine Geschichtstheologie enthält – folgt aus diesem „apokalyptischen“ Charakter.

Zunächst gilt es allerdings zu präzisieren, dass hier eine ganz besondere, biblische Erscheinung des Prophetischen definiert wird. Prophetie insgesamt ist ja ein weit verbreitetes und differenziertes Phänomen der Religionsgeschichte. Viele Religionen kennen Prophetie, die nicht der hier gegebenen Definition gehorcht, und auch im Israel biblischer Zeit ist zunächst nicht eindeutig, was (wahre) Prophetie ausmacht.

In irgendeinem Sinne Propheten sind alle Zeichendeuter, Orakel und Wahrsager, die durch kultische und magische Techniken, oder auch durch die Begabung mit einem persönlichen Charisma Einblick in den Willen der Gottheit und so in die Gunst oder Ungunst der Stunde erhalten. Mitunter sind diese Weisen religiöser Zukunftsschau dem verbreiteten Bild vom Propheten sogar ähnlicher als Amos, Jesaja oder Jeremia es sind: Denn gegen die Esoterik mancher Orakel-Methoden, die Charismatik und Ekstatik im Auftreten von Schamanen und die Zukunftsbeschreibung mancher Seher wirken die biblischen Eiferer für Gott und gegen den Abfall des Volkes und seiner Herrscher eher wie profane Gesellschaftskritiker und Moralisten. In Religionen, die in ein staatliches System und sein politisches Handeln eingebunden sind, erhält die Tätigkeit der Orakel schon Ähnlichkeit mit meiner Definition theologischer Qualifikation politischer Geschichte. So etwa bei den Römern: „Für ein Volk, das dazu neigt, in den historischen Ereignissen göttliche Epiphanien zu erkennen, waren die militärischen Erfolge und Desaster mit religiösen Bedeutungen befrachtet.“25 Die Wahrsager werden deshalb beauftragt, jeweils Gründe für entstehende Bedrohungen und Wege der Abhilfe anzugeben. Dabei entdecken sie „die Ursachen der militärischen Niederlagen in verschiedenen Fehlern im rituellen Bereich“ und entsprechend sind die Gegenmaßnahmen „Opfer, auch Reinigungsopfer, ungewohnte Zeremonien und Prozessionen und selbst Menschenopfer.“26 Hier deutet sich also so etwas wie punktuelle Geschichtstheologie an, wird jedoch zurückgenommen in den inner-religiösen, kultischen Bereich. D. h. eher dominiert die Magie die Politik, als dass die Theologie selbst politisch würde, geschweige denn politisch in einem der Herrschaft und dem status quo gegenüber kritischen, eigenständigen Sinn!

Prophetie im Dienst am Alltag der Gemeinschaft und nahe bei den kultischen Vollzügen angesiedelt hat es offensichtlich auch in Israel gegeben. Das hebräische Wort für den Propheten, „Nabi“, wird insbesondere in älteren Schichten biblischer Texte für unterschiedliche Gruppen, Schulen und Einzelpersonen benutzt, die mitunter Ekstatiker oder auch Verkündiger im Tempel oder politische Berater (wie Nathan bei David) sind.27 „Nabi“ nennen sich die so genannten Schriftpropheten, also die später als kanonisch anerkannten Propheten, um die es uns hier geht, bezeichnenderweise jedoch nur selten. Amos dementiert sogar ausdrücklich, einer zu sein: „Ich bin kein Prophet und kein Prophetenschüler, sondern ich bin ein Viehzüchter und ich ziehe Maulbeerfeigen.“ (Am 7,14) Offensichtlich lässt sich das Neue und Unerhörte – Amos macht seine Aussage, als ihm der Priester Amazja verbietet, weiter die unerträgliche Botschaft am staatlichen Tempel von Bet-El zu verbreiten! – nicht in den Kategorien eines bestimmten Amtes oder einer schon bekannten religiösen Rolle fassen. Sowohl die Berufungsgeschichten etwa von Jesaja und Jeremia als auch ihre variable, zwischen ganz unterschiedlichen, auch profanen Redegattungen wechselnde Verkündigung sprechen „dafür, dass wir es mit Männern zu tun haben, die viel mehr auf sich selbst gestellt waren, als das von denen gesagt werden kann, die im Organismus eines Heiligtums fest beamtet waren.“28

Solche möglicherweise „beamteten“ Propheten erscheinen – wie immer wieder auch die leitenden Priester und vor allem die Politiker – sogar als Gegner dieser „unerhörten“ – und deshalb bei ihren Zeitgenossen tatsächlich überwiegend erfolglos gebliebenen – Offenbarer. Ein solcher gegnerischer, zu seiner Zeit aber eher „legaler“ Prophet ist etwa Hananja, der mit seinen Heilsorakeln der Gerichtsansage Jeremias widerspricht (Jer 28). Was beide trennt, ist aber im Kern nicht die sozialreligiöse Rolle, sondern ihr inhaltliches Verständnis von Prophetie. „Die Propheten, die vor mir und vor dir je gelebt haben“, lässt der Bericht Jeremia dem Hananja bei ihrem öffentlichen Zusammenstoß im Tempel entgegnen, „weissagten Krieg, Unheil und Pest gegen viele Länder und mächtige Reiche. Der Prophet aber, der Heil weissagt – an der Erfüllung des prophetischen Wortes erkennt man den Propheten, den der Herr wirklich gesandt hat.“ (Jer 28, 8 f.) Die Beschwörung „apokalyptischer Reiter“ ist hier ein Kriterium echter Prophetie. Misstrauen dagegen gilt jenen, die den Hoffnungen der Zuhörer schmeicheln! „Was hier Jeremia von seinem Gegenspieler unterscheidet, ist letzten Endes ein anderes Verständnis des Geschichtshandelns Jahwes“, eines, das von Gott, wenn er sich im Propheten offenbart, nämlich nicht das Erwartete erwartet, sondern das Unerhörte, das unerträgliche Widerwort, das „u. U. der gesamten Glaubenstradition Israels entgegensteht.“29

Vielleicht spricht sich in dieser Darstellung des Prophetenstreits schon das Wissen der späteren Redakteure der Prophetenbücher aus: Denn tatsächlich bestätigte die Erfüllung der Weissagungen ja die Schwarzseher, und dass Amos und Jeremia „Schriftpropheten“ wurden, nicht aber Hananja, mag auch daran liegen, dass eben Amos’ Nordreich Israel 722 von den Assyrern zerstört wurde und Jeremia den Untergang Judas angesichts der babylonischen Eroberer 586 noch bitter miterleben musste. Und doch wird es keine optische Täuschung durch die Rezeptionsgeschichte sein, dass die meinem Definitionsversuch entsprechenden Propheten der Königszeit, also vor dem Exil, sämtlich und fast ausschließlich Unheil und Gericht ankündigten, während erst im Exil und danach Trost- und Heilsworte hinzukommen, gesprochen durch neue Propheten, aber auch durch theologische Schriftsteller, die sich an den vorexilischen Propheten orientierten, ihre düstere Botschaft festhielten, aber auch paradox aktualisierten.30 Es scheint, als habe die „theologische Qualifikation der gegenwärtigen Situation“ einen notorischen Hang zum Widerspruch – erst gegen den Optimismus und Beharrungswillen der eigenen Königreiche, dann gegen den Pessimismus und die Lethargie der Besiegten. Offensichtlich muss diese inhaltliche Komponente in die Definition „theologischer Qualifikation“ hineingenommen werden.

Für die theologische Qualifikation der gegenwärtigen Situation steht bei den älteren Propheten der Königszeit bis zum Exil im Grunde ein einziges Wort: Gericht. Dies ist der Name, den Gott der gegenwärtigen Stunde gibt, und die damit zugleich gegebene Zukunftserwartung kann nur lauten: Unheil als Vollzug dieses Gerichts, als Strafe oder, weniger äußerlich interpretiert, als Konsequenz aus dem Tun der Menschen, die sich das Gericht zuziehen.31 Allerdings ist „der in der Gerichtsprophetie vorherrschende Gedanke, dass eine Gottheit sich aufgrund von Schuld und Schuldgeschichte gegen ihren eigenen Verehrerkreis wendet, () nicht einzigartig“32, sondern auch aus dem neuassyrischen Reich bekannt. „Gleichwohl bleibt die Schärfe der Vorstellung des göttlichen Gerichts gegen das eigene Volk im antiken Israel ohne wirkliche Parallele im Alten Orient.“33 Denn es handelt sich wirklich um ein theologisches letztes Wort über die Gegenwart, um ein göttliches Urteil. Die Mahn- und Scheltreden dieser frühen Propheten haben begründenden, illustrativen Charakter, sie bieten aber nicht mehr die Möglichkeit einer Entscheidung in letzter Minute, einer Abwehr des drohenden Unheils durch Buße.

Dass Propheten und Intellektuelle beißende Kritik an ihrer Gesellschaft, gerade auch an der Oberschicht und den Herrschenden üben, dass sie ihre Zeit als eine des Verfalls und drohenden Untergangs ansehen, ist in der Antike kein israelitisches Spezifikum: In Ägypten gibt es solche Klagereden, die im Stil der biblischen Sprache mitunter sehr ähnlich sind, auch die Griechen kennen solche Generalabrechnungen.34 Einzigartig in der Botschaft eines Amos, Hosea, Micha, Jesaja und Jeremia (soweit ihre ursprünglichen Sprüche sich von den späteren Bearbeitungen noch unterscheiden lassen) ist die Überordnung der unbedingten Gerichts- und Unheilsansage über die begründenden Mahn- und Scheltreden und auch über die ethischen Weisungen, die sie enthalten. Ihre theologische Situationsbestimmung ist apodiktisch! Diese Propheten sind keine Volkserzieher, keine religiösen Pädagogen oder Reformer: Sie sind unbedingte, „apokalyptische“ Offenbarer. „Prophetie ... verkündigt das Ende des Gottesvolkes im Gericht. ... Mit ‚Kritik‘ oder ‚Bußruf‘ hat diese einschneidende Botschaft nichts zu tun ... Das Proprium der alttestamentlichen Prophetie ist die Ansage der unmittelbar bevorstehenden Gerichtswende.“35

Erst nach der Katastrophe Jerusalems und dann im Verlauf des Exils werden – etwa bei Ezechiel, dann bei Deuterojesaja – neue Töne der Heilsverheißungen angeschlagen, welche die Vollstreckung des Gerichts voraussetzen, die Unheils-Sicht der Vorgänger integrieren, aber nun aus der „Stunde null“ heraus Gott einen wiederum ganz unerwarteten, ganz neuen Anfang mit Israel machen sehen, gar einen „neuen Bund“ (Jer 31, 31 f.). Die Verkündigung Ezechiels ist hier besonders bemerkenswert, weil hier ein historisch greifbarer Prophet die Unheilsbotschaft seiner frühen Verkündigung „umpolt“36 zur Vision der Auferweckung Israels, – nicht, weil er seine Meinung geändert hätte, sondern weil die theologische Qualifikation der Stunde umschlägt und dieser Umschlag nachvollzogen werden muss: „Das Ende kommt“ (Ez 7,2) – „Der Tag ist da“ (7,10) – „Ich öffne eure Gräber“ (37,12).

Durch die prophetische Begleitung dieses Umschwungs erhält die Verkündigung hier eine geschichtliche Streckung: Zwar sagt sie immer noch je aktuell und kontingent, was heute gilt. Sie entwickelt keine deduzierbare Theorie von Gottes Handeln in der Geschichte. Im Gegenteil: Prophetische Gerichts- und prophetische Heilsansage sind im Sinne unserer Definition strukturgleich; sie verkünden mit apodiktischer Gewissheit die Naherwartung eines bevorstehenden Umschlags, der sich aus der theologischen Qualifikation der Gegenwart als Stunde des Anbruchs dieser Veränderung ergibt.37 Aber die „zweite“ Prophetie im Exil und danach blickt in der Erwartung des neuen Heils zurück auf die Schuld des Volkes, auf das Strafgericht, auf die Stunde der äußersten Demütigung (der Entweihung des Tempels und des Namens Gottes durch die Hand der heidnischen Siegervölker). Aus diesem Tiefpunkt ergeht nun die Ankündigung der neuen Initiative Gottes (mit dem Ziel, seine Geschichtsmacht und die Wahrheit seiner ursprünglichen Verheißungen zu verifizieren!). Auch diese Heilserwartung enthält eine Kritik, nun gegen die gerichtet, die wiederum, nur umgekehrt, nichts Unerwartetes mehr erwarten und sich in Schmerz, Schuldgefühl, Ohnmacht und Anpassung eingenistet haben.

Mit „Deuterojesaja ... schlägt die Heilsprophetie noch im babylonischen Exil ihre vollen Töne an, da sie die Rückkehr ins Gelobte Land ... verheißt. Eine neue Zeit bricht damit an, eine Heilszeit, die nie mehr enden soll.“38 Es scheint mit der Glaubwürdigkeit der alten, durch den Gang der Ereignisse bestätigten Unheilspropheten, aber sachlich auch mit der inneren Logik dieses sozusagen kontrafaktischen Umschlags von Gericht in Heilshoffnung zu tun zu haben, dass die exilische und nach-exilische Prophetie sich nun bevorzugt anonym in der Fortschreibung der alten Propheten äußert: So, wenn die selbständige Verkündigung des „Deuterojesaja“ als zweites Buch Jesajas überliefert wird und die übrigen frühen Propheten Buchredaktionen erfahren, die ihnen nun auch, zumindest im Ausblick, den Umschlag von Unheils- zu Heilsverkündigung in den Mund legen. Nicht, als hätten sie damals etwas anderes gesagt, wohl aber, als hätten sie damals schon vorausgeahnt, was erst nach dem eingetretenen Gericht keine „billige Gnade“ mehr ist und deshalb nun ausgesprochen werden muss, – dass Gericht nämlich nur Gottes vor-letztes Wort ist, bevor er sich auch gegen das Versagen des Volkes als der erweist, der er immer schon ist. Erst jetzt wird offenbar: „Der in der Gerichtsbotschaft zu seinem Volk kommende Gott will im Untergang die Zukunft und das Leben seines Volkes heraufführen.“39 Durch diesen Übergang von den Propheten zu den Prophetenbüchern kündigt sich allerdings schon die Transformation von Prophetie zu prophetischer Theologie an, die im nächsten Abschnitt zu analysieren sein wird.

Unheils- und Heilsprophetie haben als kontingentes theologisches Wort über ihre Gegenwart schon in sich einen spezifisch „eschatologischen“ Charakter, denn sie kreisen stets um „das Stichwort vom Ende Israels“40. Das meint allerdings in zweifacher Hinsicht keine Eschatologie im späteren dogmatischen und christlichen Sinn: Zum einen bedeutet Prophetie keine Lehre von den letzten Dingen, keine Theorie über das Ende der Welt oder der Zeit insgesamt, zum anderen vollzieht sich die in der Prophetie angesagte Veränderung nicht im Jenseits von Hölle oder Himmel, nicht in einer göttlichen Transzendenz, sondern „in dieser Welt“41. Aber gerade in dieser Immanenz eignet der Prophetie jener eschatologische Charakter, der an der Wurzel aller späteren ausgeführten Eschatologien innerhalb der apokalyptischen Vernunft liegt: Gerade weil die Propheten und mit ihnen ihre Adressaten nicht über ihre Welt und nicht über ihre je aktuelle Offenbarung hinaus blicken können, diese jedoch apodiktisch göttlich gewiss ist, spricht ihre Verkündigung letzte Worte von letzten Dingen.

In der Ansage des Gerichts ist das Gericht das Ende, welches nicht durch einen Blick darüber hinaus relativiert werden kann. Deshalb ist entscheidend wichtig, Gerichts- und Heilsverkündigung in ihrer geschichtlichen Kontingenz zu erfassen: Es gibt keine über die theologische Qualifikation der Stunde hinaus reichende, diese noch überbietende oder wieder verharmlosende Meta-Botschaft. Die biblische Prophetie widerspricht in ihrem Ursprung als Unheilsprophetie der Tendenz von Religion, in Mystik und Kult, in der Zuwendung zur Transzendenz, die Katastrophen der Gegenwart zu verdrängen. Die apokalyptische Vernunft der frühen Propheten ist eschatologisch, gerade indem sie Gott streng auf die erlebte, „äußere“ Geschichte und Gegenwart bezieht, und deshalb nicht anders kann, als den katastrophalen Widerspruch zwischen Gottes Willen und Gebot und der Wirklichkeit seines Volkes sowie die daraus entstehenden Folgen „absolut“ zu nennen.

Beim exilischen Umschlag der Unheils- in die Heilsverkündigung wird diese Kontingenz, diese unüberschreitbare Absolutheit dessen, was Gott heute und jetzt bedeutet, beibehalten. Durch den Rückblick auf die Unheilsankündigung und die Ereignisse ihrer Erfüllung, durch die prophetische Beschäftigung mit dieser zurückgelegten geschichtlichen Strecke, kommt nun allerdings eine neue Einsicht hinzu: Offensichtlich liegt ein theologischer Sinn in diesem Vorgang, der nicht im Voraus theoretisch überschaubar war, der mit dem neuen, erwarteten Heil ganz in seiner Kontingenz bleibt, der aber doch als ein Wille des einen Gottes reflektiert sein will. Diese Reflexion verbindet nun die alte, durch die Katastrophe Lügen gestrafte Erwählungstradition Israels – also die ursprünglichen Verheißungen der Offenbarung Gottes, zum Land, zum Königtum, zum Tempel, zum Leben unter seinem Segen – mit der Erfahrung der unerwarteten Diskontinuität in ihrer Erfüllung. Die Propheten beginnen, diese Erfahrung als eine Verifikation Gottes vor den Menschen zu begreifen. Sie „gehen aus von dem Nein Jahwes über ihr zeitgenössisches Israel, von seinem Verhältnis zu Jahwe, das von langer Hand heillos zerrüttet war. Aber sie waren gewiss geworden, dass Jahwe jenseits des Gerichts, durch neue Taten, ein Heil begründen werde.“42

Diese Beschreibung wird für Israels Geschichtsreflexion später stilbildend. Denn das Umschlaggeschehen, in dem erst den Selbstsicheren das Gericht und später den Besiegten das Heil angesagt wird, legt im Rückblick ein „Prinzip“ der Geschichte zwischen Gott und Menschen offen, auf das die israelitischen Autoren immer wie-der zurückgreifen werden, wenn sie das Schicksal ihres Volkes theologisch rekonstruieren. Deshalb ist für „alle Geschichtssummarien des hebräischen Kanons … derselbe Grundansatz charakteristisch: in dem die göttlichen Geschichtstaten in ihrer Einmaligkeit und Kontingenz bekannt werden, bereut Israel seinen Ungehorsam in der Gegenwart oder sucht in den vergangenen Eingriffen Gottes den Beweggrund für erneute göttliche Heilssetzungen in der Zukunft.“43 Die Propheten „waren () die ersten in Israel, die dies immer wieder und auf breiter Grundlage ausgesprochen haben, dass das Heil im Schatten des Gerichts kommt. Diese prophetische Weissagung, die in engster Anlehnung an alte Erwählungstraditionen, aber zugleich in einer kühnen Neuinterpretation von einem Neuansatz des göttlichen Heilshandelns spricht, – sie, aber nur sie – sollte man eschatologisch nennen.“44 Schließlich bedeutet dieser Vor-Gang von der Unheils- zur Heilsprophetie und damit der erste Ansatz zu einer prophetischen Theologie – über den prophetischen „Spruch“ hinaus – auch den Übergang vom Geschichtsbezug des Glaubens Israels zu einer zumindest einschlussweisen Geschichtstheologie. Denn einerseits geschieht hier der Übergang vom punktuellen Geschichtsmoment zur „Strecke“, andererseits und gleichzeitig der von glaubender Erinnerung zu dialektischer Reflexion.

Auf Geschichte, politische, äußere Weltgeschichte bezogen waren schon die angedeuteten Erwählungstraditionen des alten Israel: Dieses Volk fand seinen religiösen Halt nicht in Schöpfungsmythen und Feiern der ewigen Wiederkehr naturaler Zyklen oder in dem, was kosmisch immer gleich bleibt und auch nicht in überzeitlichen Ideen göttlicher Wahrheit, sondern in seinem Auszug aus Ägypten und den Landverheißungen Gottes gegenüber den Vätern Abraham, Isaak und Jakob, in den Segensverheißungen der am Sinai gegebenen Gesetze oder in den Bestandsgarantien der davidischen Dynastie. „That Abraham leave his country – is an act of singling out, not an application of a universal ideal … The very exodus which constitutes Israel is not an acceptance of timeless verities, but a response to a unique historic challenge. Whatever the facts of early Jewish history, they lived on in Jewish memory as disclosing a God of the here and now.“45 Diesen Gott des Hier und Jetzt aktualisieren die Propheten. Die Prophetenbücher beschreiben in der Erinnerung an das damalige und das wieder neue Jetzt Gottes schon eine Strecke, eine Geschichte.

Allerdings war dieser auffällige Geschichtsbezug der israelitischen Religion weniger einzigartig, als die alttestamentliche Forschung eine Zeit lang annehmen wollte: Weltgeschichtlich aktiv waren auch andere altorientalische Götter und auch diese gaben Königtümern ihren besonderen Segen, Pharaonen ihre eigene Sohn-Gottes-Theologie, Reichen den Befehl zur kriegerischen Befriedung der Nachbarschaft. Israel war nicht das einzige Volk, das historische Ereignisse und Erinnerungen theologisch überhöhte. Umgekehrt denkt auch Israel nicht abstrakt historisch in einem modernen Sinn: Es kennt schon rein sprachlich nicht eine lineare Weltzeit, sondern nur unterschiedene, durch die sie kennzeichnenden Ereignisfolgen konstituierte Zeiten; es gelangt nicht in bewusster Begrifflichkeit von einem mythischen zu einem heilsgeschichtlichen Kategoriensystem, – als habe es solche sauber abgrenzbaren Denkformen in der Antike überhaupt gegeben!46 Geschichte wird in Israel schrittweise bewusst durch ihre Vergegenwärtigung in Festen und im Kult – welche die lineare Einheitlichkeit und das distanzierende Nacheinander der Zeit gerade durchbrechen – und durch das allmähliche Zusammenwachsen einzelner Erzählkränze zu Erinnerungsstrecken, zu komplexeren Bildern vergangenen, das Heute konstituierenden Geschehens. Der Nachdruck, mit dem dies wohl schon vor dem Exil geschah, und die frühe Verlagerung wenn nicht des Glaubensalltags insgesamt, so doch der Glaubensreflexion vom Kosmischen auf das Geschichtliche, ist aber doch etwas Besonderes im alten Orient. Dies muss schon vor dem Exil, etwa in der Traditionsschicht des so genannten „JHWHsten“ grundgelegt worden sein: Sonst lässt sich m. E. schwer erklären, woran die Prophetie überhaupt appellierte, woher die Autoren etwa des vorexilischen Kerns des Buches Deuteronomium47 ihr Selbstbewusstsein als Reformer und ihre Anhänger schon vor der Ausbildung eines theoretischen Monotheismus ihre Unduldsamkeit gegenüber jeder religiösen „Verallgemeinerung“ nahmen. „Was immer sonst der Gott Israels in der jüdischen Tradition sein mag, der Gott der Geschichte ist Er bestimmt.“48

Kein ägyptischer Jenseitsglaube und keine babylonische Astrologie, keine mystische Innerlichkeit und erst recht keine griechische Spekulation standen Israel bei der Bewältigung seiner kommenden Katastrophen zu Gebote. Diese Unfähigkeit, anders als auf dem Boden des Geschichtlichen zu Recht zu kommen, auch wenn es um Gott geht, muss früher angelegt sein, als es durch die assyrischen und babylonischen Krisen manifest wird. Von seinem Beginn im Dunkel dieser Frühzeit an „steht das Judentum auf zwei Beinen, dem geschichtlichen und dem religiösen; und die Bewegung des einen zieht unweigerlich die Bewegung des anderen nach sich.“49 Uns ist der frühe Umgang Israels mit seiner Geschichte nur noch in den Bearbeitungen zugänglich, welche die Handschrift der prophetischen und nachprophetischen Zeit geprägt haben. Aber das Material, dass sie bearbeiteten – die Bundesweisungen Jahwes, die Vätergeschichten, die Königsannalen, die Sagen der Richterzeit und die frühe Jahweprophetie und -charismatik – durchdringt schon eine penetrante Einseitigkeit des Insistierens „immer auf dem Einmaligen“50, eine offenbarungstheologische Engführung, ohne die im entscheidenden Moment die Weichen nicht so eindeutig auf Geschichtstheologie hin gestellt gewesen wären. „Ohne die leitende geschichtliche Idee, ohne die Schau, welche jeden Tag der Geschichte als Teil eines Ganzen sieht, hätte dieses Volk nicht den Weg seines Geistes, ja nicht den Weg seines Lebens haben können. Ohne solche Ausschau wäre es seiner selbst nicht bewusst geworden.“51

Indem die Propheten die Überlegenheit Gottes in der Unerwartetheit geschichtlicher Ereignisse festmachen, die Einzigartigkeit Jahwes im Einmaligen dessen, was bevor steht, gehen sie über einen abstrakten Geschichtsbezug des Glaubens, seine Herleitung aus der kollektiven Erinnerung, hinaus. Plötzlich wird Offenbarung so aktuell, dass man Gott nicht im Rücken, sondern gewissermaßen voraus hat, dass nicht Vergangenheit, sondern Zukunft – aber jetzt hereinbrechende Zukunft – darüber entscheidet, was von der Religion noch gilt. „Dies war es ja, was die Propheten auf den Plan rief, dass Jahwe für sein Volk eine ganz neue Stunde anbrechen ließ.“ „Dieses Korrespondenzverhältnis der Propheten zur Weltgeschichte ist geradezu der Schlüssel zu ihrem rechten Verständnis; denn das von den Propheten wahrgenommene neue Geschichtshandeln Gottes trat für sie ja völlig gleichrangig neben die alten kanonischen Geschichtssetzungen.“52 Im Namen der theologischen Qualifikation der gegenwärtigen Stunde sind die Propheten deshalb auch Ketzer gegen die Sicherheit alt hergebrachten Geschichtsglaubens, Dekonstrukteure der Berufung auf die Anwesenheit Gottes im Tempel, im König, im Land als Immunität gegenüber der Gerichtsandrohung.

Indem die Propheten schon vor dem Exil Geschichte Gottes gegen den Glauben des Volkes ins Feld führen, vollziehen sie jedenfalls implizit einen geschichtstheologischen Schritt. „Die Propheten sind () die ersten, die die Geschichte bewerten. Die historischen Ereignisse haben fortan einen Wert in sich, insofern sie vom Willen Gottes bestimmt sind. Die historischen Fakten werden so zu ‚Situationen‘ des Menschen vor Gott und erlangen als solche einen religiösen Wert, der ihnen bislang durch nichts zuteil werden konnte. Daher kann man mit Recht sagen, dass die Hebräer als erste die Bedeutung der Geschichte als Epiphanie Gottes entdeckten“53.

Die Überlieferung hält diese religionsgeschichtliche Neuheit der Prophetie auch durch die Verklammerung der Kontingenz der Botschaft mit der Gestalt und Geschichte der Boten fest: Auch wenn wir keine Biographien und keine exakten historischen Berichte über die Propheten besitzen, so werden ihre Sprüche doch nicht als ewige Wahrheiten, sondern in ihrer Bindung an die Situation von Sprecher, Wort und Hörenden überliefert, weit mehr, als dies sonst bei antiken Religionsstiftern oder Heiligen der Fall ist. „Der Ort, an dem Gott sein Persongeheimnis offenbart, ist die Geschichte“54, auch die Geschichte konkreter menschlicher Personen, ohne die seine Offenbarung nicht zur Sprache käme. „Die historisch-politische Exaktheit, mit der die Propheten gewisse Offenbarungsempfänge zeitgeschichtlich fixieren und damit ihren Charakter als reale geschichtliche Ereignisse betonen, ist ein religionsgeschichtliches Unikum.“55

Die sich hier ausdrückende Bewusstheit des Zusammenhanges von Offenbarung und Geschichte bleibt m. E. bestehen, auch wenn gerade an den Personen-Überlieferungen die spätere Bearbeitung konkretisierend und ausmalend beteiligt war, auch wenn gerade hier Legendenbildung ansetzte und das Bewusstsein vom Charakter des Historischen kein modernes war. Kanonisch wurden die Bücher, nicht die Gestalten, von denen sie ihre Namen erhielten. Dennoch wissen wir von Jesaja und Jeremia weit mehr Konkretes als von Buddha und Zarathustra, die – grob gesprochen (und für letzteren noch umstritten) – Zeitgenossen waren.56 Vor allem aber: Was Buddha, auch was Zarathustra zu sagen hatte, hing in seiner Wahrheit nicht an der Situation, in der und in die hinein es gesagt wurde. Was Jesaja und Jeremia sagten, hing so sehr an dem seinem konkreten Geschichtsbezug, dass deren eigene Schüler und Redakteure diese Worte überliefern und an ihnen festhalten mussten, obwohl sie im Exil und danach mit ihren Heilsworten auf der Ebene zeitloser Wahrheit gerade das Gegenteil sagten, – ein Vorgang, der nur für eine apokalyptische Vernunft vernünftig ist. Dass Gott in der neuen Situation sozusagen das Gegenteil von dem verkünden lässt, was er zuvor verkündete, muss einem außerbiblischen Gott-Denken anthropomorph, naiv, widersprüchlich erscheinen, Gottes Ewigkeit und Transzendenz nicht angemessen. Wo immer man sich später im Christentum an einer anderen – metaphysischen oder rationalistischen – Vernunft orientiert hat, ist der Bibel genau dies zum Vorwurf gemacht worden, meist verbunden mit der falschen Behauptung, diese Naivität der geschichtlichen Identifikation Gottes finde sich nur im Alten, nicht aber im Neuen Testament.

Aber trotz dieser Absetz-Versuche blieben die biblischen Religionen doch auch stets im „Bann“ ihres Ursprungs. „Im alten Israel maß man der Geschichte zum ersten Mal eine entscheidende Bedeutung bei; dadurch entstand eine neue Weltanschauung, deren entscheidende Prämissen später vom Christentum und dann auch vom Islam übernommen wurden.“57 Durch den exilischen Übergang zur Heilsprophetie und durch die damit einhergehende theologische Reflexion der nun zurückgelegten Strecke theologischer Qualifikation von Situationen beginnt die implizite Geschichtstheologie der Propheten ausdrücklich zu werden. Sie muss sich verstärkt über sich selbst aussprechen. Diesen Übergang von Prophetie zu prophetischer Theologie wird der nächste Abschnitt zu analysieren haben. Er bildet die Grundlage für die nachexilisch möglich gewordene Schriftwerdung des Alten Testaments. Sein Absprungsort bleibt die nun gefallene Entscheidung für den Gegenstand apokalyptischer Vernunft, für die Suche nach dem Eschatologischen – der Verifikation Gottes und seiner Verheißungen – in der Weltgeschichte: „Befreiung, ‚Erlösung‘, vollzieht sich in der Öffentlichkeit von Geschichte, nicht in Tempeln und Kulten. Durch dieses Geschehen sind alle Verhältnisse von ‚Religion‘ qualitativ verändert.“58

Apokalyptische Vernunft

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