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Kritische Erinnerung

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Betrachten wir zunächst, wie deuteronomistische Geschichtstheologie die Dialektik prophetischer Unheils- und Heilsankündigungen systematisch reflektiert und anwendet: Aus der vorexilischen Gerichtsprophetie wird durch deren nachexilische Transposition in prophetische Theologie eine Art der Geschichtsschreibung, die in der gesamten Antike einzigartig ist: Israel entwickelt eine Geschichtsschreibung „gegen sich selbst“! Der „Deuteronomismus ... präsentiert die Geschichte vom Auszug aus Ägypten bis zum Exil ... als eine anhaltende Schuldgeschichte, die dementsprechend in der Katastrophe mündet.“19

Durch die Geläufigkeit der biblischen Erzählungen ist uns leider weitgehend das Staunen, die Überraschung über eine solche Art, die eigene Tradition wie ein Gericht über sich selbst darzustellen, abhanden gekommen, über eine Geschichtsschreibung, die auch in der Moderne noch gegen die üblichen Selbst-Rechtfertigungsversuche, Selbsttäuschungen und Geschichtsklitterungen im Dienst kollektiver „Vergangenheitsbewältigung“ abstechen würde.20 Im deuteronomistischen Geschichtswerk stoßen wir erstmals – und alles Spätere begründend – auf die für jüdische Geschichtstheologie so charakteristische „erstaunliche Tatsache, dass hier ein Volk, eine Nation, eine Religion in bemerkenswerter Offenheit die sie betreffenden Unbill ... als Folge eigenen, ‚sündhaften‘ Tuns bekennt und dieses Bekenntnis auch noch in den ihre Identität konstituierenden, als heilig erachteten Schriften niederlegt.“21 „Eine Reihe von biblischen Erzählungen scheinen ... geradezu darauf angelegt, dem Nationalstolz eins auszuwischen.“22

Im historischen Kontext der Erben eines untergegangenen Reiches scheint dies allerdings ein plausibler Weg, sich die verlorene Vergangenheit kritisch anzueignen. Denn mit „dem Untergang des judäischen Königtums und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels hatte die offizielle Jerusalemer Königs- und Tempeltheologie mit ihren massiven Inanspruchnahmen JHWHs zur Stützung staatlicher Macht einen schweren Schlag erlitten.“23 Außerdem hat die staatskritische Geschichtsreflexion in Israel offensichtlich eine schon vor die Propheten zurückreichende Tradition: Schon das Geschichtswerk des „JHWHsten“ – der überhaupt der Entstehung deuteronomischer Theologie zur Zeit der letzen Phase des judäischen Reiches recht benachbart erscheint – hat als „das erste ‚israelitische Nationalepos‘“ „nicht die Legitimation des politischen status quo“ zum Ziel, vielmehr ist „seine ganze Tendenz … staats- und machtkritisch (besonders die Exodus-Erzählung als normative Erinnerungsfigur).“24

Selbstverständlich ist deshalb aber noch lange nicht, dass die Intellektuellen Judas nicht in eine nostalgische Verklärung oder eine gegenwartstaugliche Adaption alter Ideologien verfielen. „Stattdessen rückte – nach längeren Kämpfen – die Verkündigung der Gerichtspropheten, die in vorexilischer Zeit eine von der Mehrheit abgelehnte Oppositionstheologie gewesen war, in den Vordergrund und wurde einschließlich ihrer herrschafts- und sozialkritischen Impulse zu einem breit akzeptierten Bestandteil der israelitischen Religion.“25 Ihre gesamte große und verlorene Vergangenheit – von der Landnahme, der frühen Stammesgesellschaft über das Königtum Sauls, die Reichsgründung Davids und Salomos und die getrennten Königreiche des Nordens und des Südens – erscheint nun als Geschichte von Versuchung, Irrtum und Abfall. „Mit dieser großen Tragödie weicht die biblische Erzählung dramatisch … vom üblichen Muster religiöser Epen ab.“26

Diese Weise kritischer Erinnerung reißt Israel aus den üblichen, Identität positiv stiftenden Erinnerungsweisen der Antike heraus. Denn das Israel nach seinem großen Scheitern findet seine Selbstbestimmung nur noch durch eine Art „negativer Dialektik“ seiner Vergangenheitsschau hindurch.“ Es geht um eine kontrafaktische und kontrapräsentische Erinnerung, die bewirkt, dass man in dieser Welt lebt, ohne sich ganz in ihr zu Hause zu fühlen, keine beheimatende, sondern eine ‚entheimatende‘ Erinnerung.“27 Das „Deuteronomium“ stellt „den explizitesten Fall einer solchen Gedächtnisstiftung“28 dar: Sie ist das eigentliche Alleinstellungsmerkmal von Israels Geschichtsschreibung: Ihre Geschichte schrieben auch die Völker seiner Umgebung, etwa in den sumerischen und ägyptischen Königslisten und -berichten, sogar weit früher als Israel. Und ein aufgeklärtes, gegenüber dem Mythos gewissermaßen schon weltlich-historisches Geschichtsbewusstsein entwickelten die Griechen schließlich weit konsequenter als Israel. Aber sowohl die altorientalische als auch die frühe abendländische Geschichtsschreibung dient von ihrem Ursprung her der Identitätsfindung in der Verherrlichung des Eigenen und politisch in der Legitimation der bestehenden Herrschaft. In Israel erhält die Entdeckung der Geschichte als eines linearen Verlaufs über weite Strecken und als ein weltlich-menschliches Geschehen ihre eigentliche Radikalität durch ihre Selbstkritik. „Ständig wiederholte göttliche Bestrafung, verhängt ganz explizit für die ständig wiederauftretende nationale Apostasie – eine solche Deutung der politischen Ereignisse und des Laufs der Geschichte hat in anderen Kulturen der alten Welt nicht ihresgleichen.“29

Kann man in der Antike – und wohl noch über sie hinaus – weitgehend von einer Geburt der Geschichtsschreibung aus dem Geist der Propaganda sprechen, so bei Israel von der Geburt seiner Geschichtsschreibung aus dem prophetischen Geist der Kritik. „Diese Weichenstellung ist theologiegeschichtlich wie auch theologisch von außerordentlicher Bedeutung, da sie die Allianz der biblischen Tradition mit je und je geschichtlicher Wahrheit, und nicht mit Ideologie, initiiert hat.“30 Dabei ist diese Wahrheit nicht theoretisch, als im Nachhinein zugegebene ungeschminkte Erkenntnis dessen zu verstehen, was geschah, sondern als eine produktive, auf neue Praxis ausgerichtete Erkenntnis, denn die Schuldgeschichtsschreibung der Deuteronomisten soll ja eine Wende, eine Neukonstitution eines gewandelten Israels ermöglichen. „Das Religiöse tritt heraus aus der Funktion der nachträglichen Bestätigung bestehender Verhältnisse und soll stattdessen die Veränderung gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Verhältnisse inaugurieren.“31

Das Besondere israelitischer Geschichtsschreibung liegt eher in der Opposition einer Opfer- bzw. Gescheiterten-Geschichte gegenüber einer Siegergeschichte, als in dem gängigen Gegensatz von Historie und Mythos. Der findet sich bei den Griechen durchaus progressiver. Vorfahren der modernen Historie mit ihrer kritischen Distanzierung, Quellenprüfung und der Frage nach dem, was tatsächlich geschah, sind nicht die Deuteronomisten, sondern Herodot und Thukydides. Dass Israel uns innerhalb der Antike als das Volk der Entdeckung von Geschichte erscheint, wirkt auch deshalb paradox, weil es „groß-geschichtlich“ gesehen, aus der Vogelperspektive der Universalgeschichte, Objekt der Geschichtsmächtigkeit seiner viel weniger geschichtlich denkenden Nachbarn war, weil es selbst nur wenig effektiv „Geschichte machen“ konnte. Offensichtlich liegt in der Reflexion dieses seines mit dem Anspruch der JHWH-Erwählungs-Religion so wenig vereinbaren Schicksals, in der zum Denken zwingenden Diskrepanz zwischen Glaubens-Erwartungen und dem Gang der Dinge ein Schlüssel für Israels Geschichtsbewusstsein. Denn: „Der Historiker auf Seiten der Sieger ist leicht geneigt, kurzfristig erzielte Erfolge durch eine langfristige ex-post-Teleologie auf Dauer auszulegen“ – als hätte alles gar nicht anders kommen können! „Anders die Besiegten. ... Sie geraten ... in eine größere Beweisnot, um zu erklären, warum etwas anders und nicht so gekommen ist wie gedacht. Dadurch mag eine Suche nach mittel- oder längerfristigen Gründen in Gang gesetzt werden. ... Mag die Geschichte – kurzfristig – von Siegern gemacht werden, die historischen Erkenntnisgewinne stammen – langfristig – von den Besiegten.“32

In der Deuteronomistik leistet Geschichtsschreibung eine Aitiologie der Stunde Null, eine Herleitung der Katastrophe aus der eigenen Schuld.33 „Die dtr Historiker versuchen ..., das Geheimnis … göttlichen Zornes, der sie umgibt, zu ergründen.“34 Die Tora – der göttliche Maßstab für alles Geschehen, um den es dieser Geschichtsschreibung für ihre Gegenwart geht – wird so auch geschichtlich gedacht in ihrer Funktion als Warnung, als konditionaler Segen oder Fluch.35 Anders gesagt: Das Gesetz wird als Herausforderung einer Entscheidung zur Begründung menschlicher Freiheit begriffen, seinen Weg so oder so zu gehen und die Folgen zu tragen. Die „Flüche aus dem Deuteronomium“ bilden für die deuteronomistische Geschichtstheologie den konditionalen Rahmen, an dem menschliches politisches Tun gemessen werden kann36: „Das Schema von Verheißung und Erfüllung“ bildet den „grundlegenden Rahmen“ dieser Geschichtstheologie37, der sich dialektisch-dialogisch ergibt, indem die menschliche Antwort in das göttliche Weltregiment eingeht: Gott erfüllt, was Menschen sich zuziehen; es existiert „eine ganz enge Korrespondenz zwischen Schuld und Bestrafung ..., die sich auf den Geschichtsverlauf unmittelbar auswirkt.“38

Dies ist genau jene Anschauung von Freiheit, die den Gedanken ernster menschlicher Geschichte im Angesicht Gottes begründet. Diesem theozentrischen Freiheitsverständnis bleibt die Deuteronomistik auch da verpflichtet, wo sie ihre Geschichtserzählung in bestimmte – bis heute bekannte – Schemata bringt: So etwa in das Schema des zunehmenden Verfalls, das die Königsbücher durchdringt, oder in das Schema vom Zyklus „Abfall – Bedrohung – Umkehr – Rettung – Abfall ...“, wie es das Buch der Richter39 zusammen hält. Dies bleiben ordnende, Durchblick verschaffende Interpretationsschemata, durchlässig für Ausnahmen und Umwege. Weniger schematisch wirkt die Gliederung der Geschichte durch immer neue Bundesschlüsse: am Sinai, nach Einzug ins gelobte Land in Sichem, bei der Reform des Königs Joschia, schließlich bei der Neugründung nach dem Exil durch Esra und Nehemia40: Es gibt keine Sicherheit für das erwählte Volk, kein ein für alle Mal, sondern nur die immer erneuerte Anknüpfung, den wiederholten Aufbruch. Ebenso ist die Schwarz-Weiß-Malerei in der Beurteilung der Herrscher und ihrer Zeiten ein Mittel, zu verdeutlichen, dass es in den Relativitäten des Politischen doch um die einfache Entscheidung zwischen Gut und Böse geht, dass der Sachzwang der Historie nicht die Einfachheit der Freiheit zwischen Gott und Menschen aufhebt.

Apokalyptische Vernunft

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