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Karen Hagemann Die Heimatfront
ОглавлениеDer Begriff »Heimatfront« entstand während des Ersten Weltkrieges als Propagandabegriff. An dieser »patriotischen Front« wirkten vor allem die Frauen, während die Männer an der Kriegsfront kämpften. Diese Unterscheidung nach Geschlechtern hat mit der Realität wenig zu tun.
Der Begriff der Heimatfront (homefront oder le home front) ist eine Neuschöpfung der Propaganda des Ersten Weltkrieges und wurde in Abgrenzung zur Kriegsfront benutzt. Nur durch deren Zusammenwirken, so die zeitgenössische Rhetorik, könne der Sieg im »Großen Krieg« errungen werden. Parallel zur Mobilisierung der wehrfähigen Männer für die Kriegsfront musste die Zivilbevölkerung an der Heimatfront für die breite Unterstützung des industrialisierten Massenkrieges mobilisiert werden, die vielfältige Formen annehmen sollte. Vorranging ging es um den Ersatz der eingezogenen Männer in den kriegswichtigen Industrien, dem Transportwesen, der Landwirtschaft und der Kriegsadministration. Doch auch der sorgfältige Umgang mit rationierten Konsumgütern und Brennmaterial in den Privathaushalten war ebenso wichtig wie die Kriegsfürsorge für Soldatenfrauen, Kriegerwitwen, Waisen und Invaliden sowie die Kriegskrankenpflege für kranke und verwundete Soldaten. Zudem wurde von der Heimatfront erwartet, dass sie opferbereit und patriotisch die Kriegsmoral der an der Kriegsfront kämpfenden Männer stützte.
Damit wurde die »Heimat« in der Kriegspropaganda des Ersten Weltkrieges nicht nur zu einer zentralen Kriegsressource, sie wurde zugleich zu einem wichtigen Zielobjekt der Kriegführung. Das bedeutet in der Folge nichts anderes, als dass sie nun systematischer in diese einbezogen wurde. Dies zeigte sich nicht primär in dem Einsatz einer Politik der wechselseitigen Wirtschaftsblockaden, der eine längere Tradition hatte, sondern vor allem in der Bereitschaft zur Tötung von Zivilist*innen, sei es durch die Bombardierungen von Dörfern und Städten, sei es durch Massenvertreibungen, Todesmärsche sowie systematische Erschießungen oder Genozide.
Die Kriegspropaganda imaginierte die Heimatfront überwiegend als weiblich. Sie setzte die Zivilbevölkerung mit Frauen, Kindern und Alten gleich, womit sie ignorierte, dass nur ein Teil der Männer an der Kriegsfront kämpfte. Je nach Mobilisierungsgrad blieb überall ein bedeutender Prozentsatz von Männern aus den verschiedensten Gründen zurück. Sie waren zu jung, zu alt oder aus gesundheitlichen Gründen nicht kriegstauglich. Sie galten als unersetzlich in der Kriegswirtschaft und Kriegsadministration oder leisteten andere kriegswichtige Dienste. In dem Bild von Heimatfront und Kriegsfront, das auf einer imaginierten Geschlechterordnung mit klaren Grenzen zwischen den Zuständigkeitsbereichen von Männern und Frauen beruhte, hatten diese vielen Männer keinen Platz. Sie stellten vielmehr diese imaginierte Geschlechterordnung des Krieges infrage, in der die kämpfenden Männer an der Kriegsfront Familie, »Heimat« und Nation schützten.
Übersehen wurde schon in der Kriegspropaganda des Ersten Weltkrieges zudem, dass zwar das quantitative Ausmaß dieses Konflikts und sein Industrialisierungsgrad alle vorherigen Kriege in den Schatten stellten und in der Folge zum einen die Mobilisierung von Wirtschaft und Gesellschaft für den Krieg bis dahin unbekannte Ausmaße erreichte und zum anderen die Zahl der zivilen Opfer erheblich war. Doch dies bedeutete nicht, dass nicht schon in vorherigen Kriegen Gesellschaft und Wirtschaft durch den Staat und das Militär mobilisiert worden wären und die Zivilbevölkerung Opfer von Kriegshandlungen geworden wäre.
Die historische Forschung zur Geschichte von Militär und Krieg, vor allem die Frauen- und Geschlechtergeschichte, hat in den letzten beiden Jahrzehnten in einer wachsenden Zahl von Studien gezeigt, in welchem Ausmaß und welchen Formen die Zivilbevölkerung seit der Frühen Neuzeit von Kriegen betroffen und in Kriege einbezogen war. Der britische Historiker Peter Wilson hat zum Beispiel darauf hingewiesen, dass während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) die Zahl der Kriegsopfer in Relation zur Bevölkerung die des Ersten Weltkrieges übertraf und es zudem bereits so etwas wie eine Heimatfront gab. Die Bevölkerung musste die Kriegsfinanzierung mit Steuern und Abgaben unterstützen, die durchziehenden Heere ausrüsten und ernähren und zudem für deren Sieg beten. Dies traf auch auf die meisten folgenden Kriege der Frühen Neuzeit zu. Was änderte sich also im 19. und 20. Jahrhundert?
Dieser Frage soll im Folgenden mit einer Geschlechterperspektive nachgegangen werden. Dabei wird »Geschlecht« als Forschungsgegenstand und -methode verstanden und als historisch spezifische und relationale Analysekategorie benutzt. Im Zentrum stehen die Revolutions- und Napoleonischen Kriege, die Nationalkriege des 19. Jahrhunderts und der Erste und Zweite Weltkrieg in Europa. Die Geschlechterperspektive bietet sich bei einer zeitlich und regional vergleichenden Analyse der Geschichte der Heimatfront dieser Konflikte an, da sich die diskursiv konstruierten Grenzen von »Heimat« und »Front« und die gelebten Geschlechterverhältnisse in Kriegszeiten bei genauer Analyse als ein wichtiges Kennzeichen nicht nur für den Wandel der Kriegführung allgemein erweisen, sondern insbesondere auch für den Grad der Mobilisierung der zivilen Gesellschaft für und ihre Betroffenheit durch den Krieg. Zwischen Diskursen und Praktiken bestand dabei häufig ein ambivalentes Spannungsverhältnis. Aufgrund der Forschungslage stehen Frauen allerdings im Zentrum der Analyse. Obwohl Männer einen erheblichen Teil der Zivilbevölkerung in Kriegsgesellschaften ausmachten und ihnen zum Beispiel in der Kriegswirtschaft eine zentrale Funktion zukam, ist ihre Situation erst sehr wenig erforscht.