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Wann ist ein Krieg ein gerechter Krieg?

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Man muss bei diesen »Friedenstraditionen« (Nigel Young), die im 19. Jahrhundert auftauchten, bedenken, dass sie weder einen gemeinsamen Ursprung noch dieselben Ansichten über die sozialen und politischen Probleme hatten, von den Mitteln zu deren Lösung ganz zu schweigen. Um die Jahrhundertmitte existierten bereits mehrere »Pazifismen« nebeneinander. Victor Hugo zögerte nicht, sie in bunter Mischung zu seiner berühmten Rede von 1849 vor dem Pariser Kongress der Freunde des Weltfriedens einzuladen: Neben der Gründung der Vereinigten Staaten von Europa erklärte er seinen Glauben an den ungehinderten Fortschritt der Menschheit zu Freiheit und Brüderlichkeit, pries den christlichen Frieden und applaudierte der wirtschaftlichen Unabhängigkeit. Dabei offenbart sich bei Hugo eine tiefe Überzeugung von der Überlegenheit der christlichen Zivilisation, die den Auftrag habe, ihr Licht in die ganze Welt zu tragen, was die nachhaltige Gleichgültigkeit der Friedensapostel dieser Zeit gegenüber der Gewalt illustriert, die in den Kolonialterritorien im Namen der »zivilisatorischen Mission« verübt wurde. Nur eine Handvoll Aktivist*innen wie die Pazifistin und Feministin Eugénie Niboyet (1796–1883) verurteilten die Kolonialherrschaft im Namen des Kampfes gegen alle Ungleichheiten.

Die ursprüngliche Vielfalt des pazifistischen Denkens anzuerkennen ist entscheidend, wenn man seine Entwicklung im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte verstehen will. Obwohl Friedens- und Pazifismushistoriker*innen seit Langem versuchen, Typologien (vom absolutesten und fanatischsten Pazifismus bis zum liberalen Internationalismus) zu etablieren, ist es immer noch üblich, die Bewegung als einheitlich zu betrachten – besonders wenn es darum geht, sie zu diskreditieren. Der Begriff »Pazifist« selbst tauchte erst Anfang des 20. Jahrhunderts auf und wurde von denen, die er beschreiben sollte, oft zurückgewiesen, da das Adjektiv schnell zu einem Stigma wurde – die Pazifist*innen wurden im Allgemeinen als naive Träumer*innen oder gefährliche Idealist*innen dargestellt. Im Interesse größerer Klarheit sollte das Attribut »pazifistisch« den Aktivist*innen der radikalsten Strömung der Bewegung vorbehalten bleiben und für die Anhänger*innen aller anderen Positionen der Ausdruck »Friedensvertreter*innen« verwendet werden (im Englischen spricht man von peace advocates oder seltener von pacificists, im Französischen von promoteurs de la paix), wobei sich die Trennlinie anhand der Einstellung zu Krieg und Gewalt bestimmt.

Für den kompromisslosen Pazifismus spielt der Kontext keine Rolle, er verurteilt den Krieg in allen seinen Formen: Dieser zweifellos anerkennenswerte moralische Purismus verdammt seine Verfechter*innen zur Marginalität oder sogar zum Sektentum. Die Friedensvertreter*innen, die mit Abstand am weitesten verbreitete Variante des Pazifismus, missbilligen ihrerseits im Allgemeinen jeden Einsatz von Gewalt, erkennen aber an, dass Krieg manchmal notwendig ist – dass er manchmal »gerecht« ist, um hier die christliche Terminologie aufzugreifen, und zwar wenn es um einen Überfall, um legitime Verteidigung, um den Kampf gegen ein ungerechtes Regime usw. geht. Ihre Position zum Krieg hängt also von den Umständen ab. Das ist ihre Achillesferse: Wie kann man sicher wissen, dass ein Krieg gerecht ist? Kann man eine Bevölkerung nicht auch über die wirklichen Gründe eines Krieges täuschen? Diese uneindeutige Haltung ist der Tribut, der an den Realismus zu zahlen ist, insofern die Legitimität des Friedensdiskurses ihnen zufolge einen gewissen Pragmatismus verlangt.

Die große Herausforderung für die Friedensvertreter*innen besteht in der Tat darin, davon zu überzeugen, dass ihre Mission nicht einfach Selbstbetrug ist, sondern im Gegenteil Hand und Fuß hat. Wenn man den Krieg nicht ein für alle Mal aus der Welt schaffen kann, ist es doch möglich, mit rationalem Handeln, mit gemeinsamen Regeln und Praktiken den Frieden zu unterstützen. Nun gab es Ende des 19. Jahrhunderts konkrete Anzeichen dafür, dass man sich bereits auf dem Weg zum Frieden befand. Tatsächlich kamen sich die Völker täglich näher: Kommunikation, Transport, Bildung machten überall Fortschritte; regelmäßig wurden neue internationale Gruppen und Vereinigungen gegründet. Die Friedensvereine florierten in Frankreich, in Italien, in Österreich und sogar im militaristischen Deutschland, wo es zur Jahrhundertwende fast zweihundert davon gab. Das Völkerrecht trug dieser Revolution Rechnung. Juristen ergründeten die Mittel zur friedlichen Beilegung justiziabler Differenzen zwischen Staaten dank Werkzeugen wie Schiedsgerichten und Schlichtung. Ein französischer Verein, »La Paix par le droit« (Frieden durch Recht), wurde 1887 genau zu dem Zweck gegründet, solche Praktiken zu fördern. Es fanden internationale Treffen statt, um sie in institutionalisierte Form zu bringen, wie das 1899 und 1907 in Den Haag der Fall war. Mit seinem Testament stiftete Alfred Nobel einen Preis, der genau zur Unterstützung dieser Initiativen vorgesehen war, und der erste Friedensnobelpreis ging 1901 an Henry Dunant, den Gründer des Roten Kreuzes, sowie an Frédéric Passy, den unermüdlichen Friedensaktivisten und Gründer unter anderem der Interparlamentarischen Union. Zur gleichen Zeit vertraten Essayist*innen wie Norman Angell die Auffassung, dass in einer wirtschaftlich verflochtenen Welt der Krieg selbst bei einem Sieg eine Kostenfalle sei: Welche Regierung würde mit klarem Kopf einen derart riskanten Weg für ihr Volk einschlagen? Mehr brauchte er nicht, um in seinem Bestseller von 1911, The Great Illusion, das zukünftige Obsoletwerden des Krieges vorherzusagen. Die Zukunft gehörte entschieden dem Frieden. Und dennoch brach im August 1914 der Krieg aus, und französische, deutsche, britische Verfechter*innen des Friedens schlossen die Ränge mit ihren nationalen Armeen.

Eine Geschichte des Krieges

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