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Das »Recht auf Frieden«
ОглавлениеÜber den »Gesinnungsumschwung« der Pazifist*innen 1914 ist viel geschrieben worden. Er ist die Erbsünde, an die nur die zweite Sünde fünfundzwanzig Jahre später heranreichen sollte, als man ihnen vorwarf, durch ihre unbedachten und sinnlosen Reden, durch ihre Weigerung, der Bedrohung durch Hitler ins Auge zu sehen, kurz durch ihren Willen zum Appeasement, den Zweiten Weltkrieg mitverursacht zu haben. Versuchen wir, die Situation besser zu verstehen.
Im Sommer 1914 stellten sich die deutschen, französischen, britischen Sozialist*innen hinter ihre jeweiligen Regierungen und gaben diesen Rückendeckung für den Kriegseintritt ihres Landes. Einige Wochen zuvor hatten sie über die Gelegenheit, einen Generalstreik zu organisieren, diskutiert, um einen europaweiten Krieg zu verhüten. Am 31. Juli 1914 beschleunigte der Mord an Jean Jaurès, Galionsfigur des europäischen Sozialismus, Fahnenträger des Friedens, den Zusammenbruch der internationalistischen und pazifistischen Bewegung. Die deutschen Sozialist*innen stimmten in Reaktion auf die Generalmobilmachung in Russland als Erste für den Krieg, ihre Einschätzung war, dass das Zarenregime bekämpft werden müsse, um den Sozialismus in ihrem eigenen Land besser retten zu können. Als Nächstes folgten die französischen, dann die britischen, die sich auf die Völkerrechtsverletzung nach dem deutschen Einmarsch in Belgien beriefen. Insgesamt blieb nur eine kleine Minderheit der europäischen Sozialist*innen bei ihren Vorkriegspositionen. Die anderen hatten sich entschlossen, ihr Vaterland zu verteidigen. Doch handelte es sich um einen Verrat der Pazifist*innen?
In Wahrheit war der Sozialismus 1914 nur ein Internationalismus des Friedens unter vielen. Frieden und Sozialismus in eins zu setzen wäre reduktionistisch. Außerdem hatten in diesem europaweiten und bald auch weltweiten Krieg fast alle, ob berechtigt oder nicht, das Gefühl, dass ihre Nation angegriffen wurde. Aus Sicht der Friedensvertreter*innen ist es aber gerechtfertigt, gegen einen Angreifer zu den Waffen zu greifen. Frieden und Patriotismus widersprechen sich nicht zwangsläufig. Allerdings ist offensichtlich, dass der Erste Weltkrieg die pazifistische Bewegung ernsthaft auf die Probe stellte und vorübergehend aus dem Tritt brachte. Nichtsdestotrotz verbreitete sich das Friedensideal während des Krieges in bis dahin ungekanntem Ausmaß. Zwar hat der Flächenbrand den übertriebenen Optimismus seiner Anhänger*innen offenbart, doch zugleich hat der Konflikt das Nachdenken über die Mittel zur zukünftigen Verhütung einer solchen Katastrophe noch aktueller und notwendiger gemacht. In Amerika vertrat Präsident Woodrow Wilson ab August 1914, dass sein Land, für das er sich nachdrücklich eine neutrale Position wünschte, gewissermaßen für das Friedensideal bürge: Es falle den Vereinigten Staaten zu, die Werte der internationalen Eintracht und des Völkerrechts zu wahren, bis die europäischen Mächte zur Vernunft kämen. Trotz Kriegseintritt seines Landes im April 1917 veränderte sich der Diskurs des amerikanischen Präsidenten über den Frieden nicht grundsätzlich. Im Gegenteil präzisierte er nach und nach seine Vision für den Frieden, bis er zu dessen Galionsfigur auf globaler Ebene wurde. Auch Papst Benedikt XV. in Rom rief zu dauerhaftem Frieden, Abrüstung und Aufbau einer internationalen Organisation zur Beilegung der Differenzen auf. Im Vereinten Königreich prangerten verschiedene Vereinigungen wie die League of Nations Society, die Bryce Group, die Union of Democratic Control die »europäische Anarchie« (Titel einer Monografie G. Lowes Dickinsons von 1915) an und riefen die Staaten dazu auf, ihr Verhalten zu ändern und internationalen Frieden zu stiften. Eine angesehene amerikanische Vereinigung, die League to Enforce Peace, wurde im Sommer 1915 auf derselben Grundlage ins Leben gerufen. Je länger sich der Krieg hinzog, desto mehr Zustimmung gewann die Idee einer drakonischen Umgestaltung der internationalen Beziehungen. Mehrere Hundert Konzepte für einen dauerhaften Frieden wurden veröffentlicht, während der Konflikt wütete. Das ist das Paradox eines »Großen Krieges für den Frieden«1.
Die Nachkriegszeit markierte den Beginn des Massenpazifismus. Diese neue Größenordnung wurde oft aus der tiefen Ablehnung der Gewalt erklärt, rührt aber ebenso sehr aus einer tiefgreifenderen Entwicklung her, die mit den Konzepten der Staatsbürgerschaft und der Menschenrechte zusammenhängt. Präsident Wilson beschwor von den Vereinigten Staaten aus unermüdlich die neue Macht der Weltöffentlichkeit – heute würde man von »internationaler Zivilgesellschaft« sprechen –, die nach seiner Überzeugung zukünftig mit ihrem ganzen Gewicht die Handlungen der Staaten beeinflussen würde. Die Bürgerinnen und Bürger hatten von nun an bei den internationalen Fragen ein Wörtchen mitzureden. Gefordert wurde dieses »Recht auf Frieden« auf Grundlage der Anstrengungen, zu denen die Bevölkerung während vier Jahren bereit gewesen war: Es war unvorstellbar, dass das Opfer von Millionen von Menschen, nachdem der Konflikt einmal zu Ende war, lediglich auf Gebietsveränderungen und finanzielle Kompensation hinausliefe. So kam nach 1918 eine unerhörte Sehnsucht nach Frieden auf, die von Millionen von Menschen und Tausenden von nationalen wie internationalen Vereinigungen getragen war. Zahlreiche dieser Vereinigungen bestanden aus früheren Kämpfern, die die Schlacht am eigenen Leib erfahren hatten und genau aus diesem Grunde lautstarker denn je ihre Stimme gegen den Krieg erhoben.
Die internationalen Verhältnisse der Zwischenkriegszeit boten jedoch ein trauriges Bild. Die Beendigung des Krieges nahm viel Zeit in Anspruch, während der durch den Konflikt hervorgerufene Hass und die Gewalt in verschiedenen Formen fortbestanden. Der mangelnde Erfolg des Idealismus Wilsons und des Völkerbundes, die fragile Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, die ideologischen Spannungen zwischen Demokratien und autoritären Regimen: so viele Anzeichen einer desolaten Nachkriegszeit, die nur selten vom Aufblitzen des Pazifismus durchbrochen wurden wie bei der Unterzeichnung des Briand-Kellog-Paktes 1928, der den Krieg »gesetzwidrig« machen sollte. Das ist der Grund, weshalb im Nachhinein die »Illusion des Friedens«, die sich nach dem Ersten Weltkrieg über die gesamte Welt ausbreitete, so viel kommentiert wurde. Ein verpfuschter Frieden? Wir müssen aufhören, die Entscheidungsträger von 1919 und die Friedensvertreter*innen für alle Probleme der Zeit verantwortlich zu machen, denn es waren vor allem die durch den Krieg hervorgerufenen Streitfragen, die die Nachkriegszeit unterminierten. Der Massenpazifismus erschien infolgedessen als tief empfundene Abwehrreaktion gegen die Gewalt des Krieges und der Nachkriegszeit, gespeist zunächst aus der Absurdität eines Konflikts, dessen Sinn sich dem Verstand entzog, und dann aus kleinkarierten und dem neuen Geist widersprechenden nationalen Politiken. Die Periode spiegelt letztendlich die labile Position von Staaten, die das Wort »Frieden« lediglich im Munde führten, deren Handeln damit aber nicht in Einklang stand. Nichts zeigt diese Dissonanz deutlicher als die Konferenz zur Abrüstung und Rüstungsbeschränkung, die 1932 in Genf stattfand.
Die seit Mitte der 1920er Jahre vorbereitete Konferenz wurde als Höhepunkt eines Jahrzehnts der staatlichen Friedensbemühungen präsentiert. Auf die moralische Abrüstung, die die Friedenserziehung der neuen Generationen zum Ziel hatte, sollte nun die materielle Abrüstung folgen. Die Konferenz weckte erstaunliche Erwartungen in der Öffentlichkeit, Tausende Briefe und Petitionen strömten nach Genf. Vergebene Mühe: Eröffnet in einer Atmosphäre, die durch den kürzlichen Einmarsch Japans in die Mandschurei bereits verdüstert war, versandete die Konferenz in den ersten Wochen in endlosen technischen Diskussionen zwischen Experten, deren Hauptaufgabe nicht darin bestand, die Abrüstung zu fördern, sondern darin, die Aufrüstung der jeweils von ihnen vertretenen Nationen zu rechtfertigen. Die »Machtübernahme« Hitlers im Januar 1933 und der folgende Rückzug Deutschlands von der Konferenz und aus dem Völkerbund schwächten die Friedensbemühungen weiter. Die Verhandlungen schleppten sich in geradezu allgemeiner Gleichgültigkeit über Monate hin. Der geringe Glaube der Staaten, dass die Abrüstung umgesetzt würde, ließ keinen Zweifel mehr aufkommen: Der »absolut letzte Krieg« würde nicht der letzte bleiben, die 1914 bis 1918 Geopferten waren sehr wohl umsonst gestorben. Der bereits seit Ende des Ersten Weltkrieges in der Entstehung befindliche »Pazifismus neuen Stils« (Norman Ingram), der in den 1930er Jahren an Fahrt aufnahm, reagierte auf diese düstere Erkenntnis: Er lehnte den Ansatz der legalistischen und moderaten Pazifist*innen ab, die seit dem 19. Jahrhundert die Herstellung des Friedens durch graduelle Entwicklung der rechtlichen Normen postuliert hatten. Die Zurückweisung der Mäßigung erklärt auch, dass ein Teil der Friedensaktivist*innen Ende der 1930er Jahre angesichts der Bedrohung durch Hitler die Flucht nach vorne antrat.
In dieser Zeit des Massenpazifismus war die Vielfalt an Motiven so groß wie die Vielfalt an Mobilisierungsformen: ehemalige Soldaten, kommunistische Aktivist*innen oder Umstands-Pazifist*innen, die sich aus ideologischen Gründen, Angst oder schlicht politischem Kalkül gegen einen etwaigen Konflikt mit Hitler-Deutschland aussprachen und gar dem schändlichen Münchner Abkommen von 1938 applaudierten. Die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen fand nachhaltig Eingang insbesondere in die angelsächsischen Länder, als Mahatma Gandhis Gewaltfreiheitslehre zunehmend Anhänger*innen im Westen fand: War Registers’ International machte es sich zur Aufgabe, Gandhis Worte über seine diversen nationalen Ableger zu verbreiten. Vereinigungen wie die Peace Pledge Union im Vereinten Königreich forderten von ihren zukünftigen Mitgliedern, der Unterstützung des Krieges und der Beteiligung daran auf alle Zeiten zu entsagen: Ende der 1930er Jahre hatten mehr als 130 000 Briten und Britinnen einen Eid auf diese Form von absolutem und gewaltfreiem Pazifismus abgelegt.
Die Ratlosigkeit bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war umso größer, als durch das pazifistische Ideal über zwanzig Jahre lang Massen mobilisiert worden waren. Wie immer drängte der Krieg den Friedensdiskurs vollständig an den Rand, gerade in den direkt beteiligten Ländern. Andernorts, in den Vereinigten Staaten zum Beispiel, wandte sich der Aktivismus entschieden isolationistischen Positionen zu: Zum Preis nationaler Abschottung, so die Einschätzung, ließ sich der Frieden wahren – bis das Land mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour am 7. Dezember 1941 selbst zum Angriffsziel wurde. In Europa verursachte der Krieg eine schwere Gewissenskrise, in der die grundsätzliche Beziehung der pazifistischen Lehre zur Gewalt und zum Handeln hinterfragt wurde. Wäre es im Namen des Weltfriedens nicht besser, dem Nationalsozialismus möglichst bald Einhalt zu gebieten, bevor er die Welt im Blut ertränkte? Zwei Intellektuelle von Weltruf, Bertrand Russell und Albert Einstein, die in den 1930er Jahren einen starken ethischen Pazifismus vertreten und der Verweigerung aus Gewissensgründen positiv gegenübergestanden hatten, unterstützten den Kampf der Alliierten. Manche entschieden sich vorübergehend für Schweigen und Isolation; andere fürs Handeln, ohne jedoch ihre Prinzipien zu verleugnen, indem sie gewaltfreien Widerstand gegen die nationalsozialistische Unterdrückung in Form von Solidaritäts- und Unterstützungsnetzwerken für Jüdinnen und Juden und andere Verfolgte organisierten. Wieder andere stellten sich weiterhin kompromisslos gegen den Krieg.