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Das »Vaterland« als erweiterte Familie

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Wenn wir die Bedeutung der Revolutions- und Napoleonischen Kriege (1792–1815) für den Zusammenhang von Krieg, Militär und Gesellschaft verstehen wollen, müssen wir sie ungeachtet aller regionalen Differenzen als mit patriotisch-nationaler Rhetorik legitimierte »Volkskriege« von globalem Ausmaß konzeptionalisieren, die mit Massenheeren auf der Basis von Freiwilligeneinheiten, Milizen oder Konskribierten geführt wurden, weshalb der amerikanische Historiker David Bell die Napoleonischen Kriege als die ersten »totalen Kriege« bezeichnet hat, die sich durch eine »Fusion von Politik und Krieg« auszeichneten, welche zu einer »verhängnisvollen Intensivierung der Kampfstärke« führte. Primär vier Gründe rechtfertigen für ihn die Charakterisierung als »totale Kriege«: der erheblich größere Umfang der Armeen, die bis dahin völlig unbekannte Dimensionen erreichten; die dramatische Zunahme der Schlachtenhäufigkeit und -intensität während der Kriegszüge; die veränderten Beziehungen zwischen Militär und Zivilgesellschaft; und eine neue Kultur des Krieges, die sich einer emotional aufgeladenen, patriotisch-nationalen Rhetorik bediente und die Vernichtung des Feindes zum Kampfziel erklärte. Diese veränderten Bedingungen und diese neue Kultur der Kriegführung trieben eine »unaufhaltsame Spirale der Eskalation« voran, die mit dem »Kollaps der einen oder anderen Seite aufgrund schierer Erschöpfung und Ausbluten endete.«1

Auch wenn die Übertragung des Begriffs »totaler Krieg«, der in der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg aufkam und in der Geschichtswissenschaft bis heute umstritten ist, auf die damalige Zeit problematisch ist, so kann Bells Ansatz nicht nur helfen, die Dynamik der Periode und ihre Spannungen und Widersprüche, sondern auch die Entwicklung des Phänomens der Heimatfront besser zu verstehen. Zentral dafür sind die Auswirkungen der neuen Massenkriegführung in diesen frühen Nationalkriegen auf das hier besonders interessierende Verhältnis von Militär und Gesellschaft. Die Zahl der in den Revolutions-, vor allem aber in den Napoleonischen Kriegen eingesetzten Soldaten übertraf alle vorherigen Konflikte in Europa. Frankreich hatte die Levée en masse bereits im August 1793 eingeführt und im September 1798 die allgemeine Wehrpflicht mit Exemtion und Stellvertretung. In der Folge dienten mehr als 2 Millionen Franzosen oder 7 Prozent der männlichen Bevölkerung zwischen 1792 und 1813 in der französischen Armee. Hinzu kamen ca. 1 Million Wehrpflichtige aus den annektierten Regionen und den Staaten, die mit Napoleon eine Militärallianz hatten eingehen müssen, wie dem im Juli 1806 von Napoleon geschaffenen deutschen Rheinbund. Die Grande Armée erreichte damit unbekannte Ausmaße. So konnte Napoleon 1812 mit ca. 650 000 Mann in Russland einmarschieren, davon stammte die Hälfte aus den Staaten seiner Alliierten. Um den massiven Truppen der Grande Armée gewachsen zu sein, mussten die gegnerischen Staaten ebenfalls Massenarmeen mobilisieren. Deshalb führte zum Beispiel Österreich 1809 eine Landwehr und Preußen 1813 die allgemeine Wehrpflicht ohne Exemtion und Stellvertretung ein. Die preußische Armee erreichte in der Folge 1813 eine Größe von 250 000 Mann, von denen 46 Prozent Landwehrmänner und 8 Prozent Freiwillige waren. Mehr als 10 Prozent der männlichen Bevölkerung waren 1813 eingezogen; im Vergleich zu nur 2 Prozent im Jahr 1806. Nach dem Waffenstillstand im August 1813 war die Grande Armée trotz der massiven Verluste im Russlandfeldzug wieder ca. 440 000 Mann stark, und die Koalitionsarmee zählte ca. 510 000 Mann. Allein in der Schlacht bei Leipzig standen sich im Oktober 1813 mindestens 470 000 Soldaten aus zwölf Ländern Europas gegenüber.

Diese neue, durch Massenheere geprägte Kriegführung hatte weitreichende Auswirkungen auf die gesamte Bevölkerung. Eine ganz erhebliche Zahl von Familien verlor zumindest für die Zeit der Kriege den Haupternährer; vor allem Frauen aus den Unterschichten mussten nun allein für den Unterhalt der Familie sorgen. Veteranen kamen als Invaliden heim und mussten von Angehörigen gepflegt werden, da die staatliche Fürsorge überall völlig unzureichend war. Hunderttausende von Witwen und Waisen blieben nach den Kriegen zurück. Die Zahl der Kriegsopfer erreichte aufgrund des Einsatzes von Massenheeren ein bis dahin unbekanntes Ausmaß. Die von dem britischen Historiker David Gates geschätzte Gesamtzahl von 5 Millionen Kriegstoten zwischen 1792 und 18152 entsprach, gemessen an der Einwohnerzahl, den Dimensionen des Ersten Weltkrieges. Eindringliche Beispiele für die Auswirkungen sind der Russlandfeldzug Napoleons 1812 und die Kämpfe in Mitteleuropa 1813. Von dem Riesenheer der Grande Armée, das im Juni 1812 in Russland einmarschierte, kehrten im Winter 1812 / 13 bestenfalls 25 000 Mann zurück. Die meisten Soldaten starben nicht in den Schlachten, sondern an Hunger und Kälte sowie Krankheiten und Seuchen, vor allem Fleckfieber und Ruhr. Diese tödlichen Seuchen infizierten auch die Zivilbevölkerung der Regionen, durch die die Armeen zogen. Im Frühjahr und Herbst 1813 war Sachsen ein Hauptkampfgebiet der Kriege. Hier fielen mindestens 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung dem Fleckfieber zum Opfer, das zunächst die Russland-Heimkehrer mitbrachten und später die verwundeten und kranken Soldaten der Schlachten in der Region verbreiteten. Allein in den wenigen Wochen zwischen Ende August und Anfang Oktober 1813 zogen 90 000 verwundete und kranke Soldaten durch Leipzig, das ca. 40 000 Einwohner hatte. Nach der Völkerschlacht wurden erneut mindestens 38 000 Kranke und Verwundete in der Stadt untergebracht. Auf so große Zahlen war die medizinische Versorgung der Militärverwaltungen aller kriegsbeteiligten Staaten völlig unzureichend vorbereitet, weshalb die lokalen Administrationen die Bevölkerung in den umkämpften Gebieten zur Mithilfe beim Aufräumen der Schlachtfelder, dem Bergen der Verwundeten und Toten, der Kriegskrankenpflege und der Kriegsfürsorge heranzogen.

Europa erlebte zwischen 1792 und 1815 mehr Truppenbewegungen, Gefechte und Okkupationen als im gesamten 18. Jahrhundert zusammen, das wahrlich reich an Kriegen gewesen war. Die Zivilbevölkerung hatte neben den bereits genannten Aufgaben zudem die Kriegsopfer zu beklagen und die Kriegshinterbliebenen zu versorgen. Auch musste sie die Kosten der anhaltenden Kriege mit erhöhten Steuern, Abgaben, Kontributionen und Tributzahlungen tragen, den durchziehenden Truppen und Besatzungsarmeen Quartier geben und sie versorgen und die Kriegsfolgen in den zerstörten Dörfern, Städten und verwüsteten Landschaften beseitigen. Hinsichtlich der anhaltenden Requisitionen von Nahrungsmitteln, Vieh und Fuhrwerken machte es dabei wenig Unterschied, ob feindliche oder verbündete Truppen unterhalten werden mussten: Je länger die Kriege anhielten, desto mehr basierte die Versorgung aller Armeen auf dem Kontinent auf Requisitionen. Verstärkt wurden die wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten durch die im November 1806 von Napoleon nach dem Sieg über Preußen und Sachsen erklärte Kontinentalsperre, die die landwirtschaftliche und industrielle Produktion sowie den Handel behinderte, vor allem in den Regionen, die nicht zum Machtbereich Napoleons gehörten, wie Österreich, Preußen und Russland. Hunderttausende litten in erheblicher Weise unter den Napoleonischen Kriegen, je länger diese anhielten.

Kriegführung in diesen Dimensionen konnte, wenn sie erfolgreich sein sollte, nicht allein auf Gewalt und Zwang basieren. Sie war nur möglich, wenn sie zumindest von Teilen der Bevölkerung aktiv unterstützt wurde, weshalb nicht nur das Napoleonische Empire, sondern auch dessen Gegner mit einer intensiven Propaganda – Reden und Predigten, Liedern und Gedichten, Feiern, Ritualen und Symbolen sowie Bildmaterial aller Art – an die patriotisch-nationalen Gefühle appellierten. Sie versuchten, zum Kampf und zur Kriegsunterstützung zu mobilisieren sowie zu milden Gaben für die Kriegsopfer aufzufordern. Vor allem die Regierungen der wechselnden antinapoleonischen Koalitionen benötigten, je länger die Kriege anhielten, immer mehr die Unterstützung der Zivilbevölkerung, einschließlich der Frauen, für die Sammlung von Geld- und Sachspenden, die Ausrüstung und Einkleidung der Soldaten, die medizinische Versorgung der Kranken und Verwundeten sowie die Fürsorge für Invalide, Witwen und Waisen. Der Befreiungskampf gegen Napoleon wurde in der politischen Rhetorik der Zeit vor allem in Preußen, Spanien und Russland zu einer nationalen »Notstandssituation«, einem »heiligen Krieg« erklärt, der es erforderte, dass alle – Frauen wie Männer, Jung und Alt – in der einen oder anderen Weise »Opfer« brachten. Das zu befreiende »Vaterland« wurde in der Kriegspropaganda dafür als »wehrhafte Volksfamilie« imaginiert, in der alle gemäß ihren Möglichkeiten den »Befreiungskampf« gegen Napoleon zu unterstützen hatten.

Vorbild für dieses neue Ideal einer Geschlechterordnung der Nationalkriege war das gegnerische Frankreich mit seiner levée en masse, die gefordert hatte, dass junge militärfähige Männer Soldaten werden und die älteren Männer den Krieg vor allem materiell unterstützen sollten. Frauen hatten hingegen als Verlobte, Mütter und Ehefrauen die Kampfbereitschaft der jungen Männer zu stärken, für die Ausstattung und Einkleidung der Soldaten zu sorgen und die Kranken und Verwundeten zu pflegen. Dieses revolutionäre Ideal »republikanischer Mütterlichkeit« wurde in den gegnerischen Staaten zur »patriotischen Mütterlichkeit« umgedeutet, mit der die öffentliche weibliche Kriegsunterstützung legitimiert wurde.

Diese Rhetorik machten sich auch die 600 patriotischen Frauenvereine zunutze, die von Frauen aus der Mittel- und Oberschicht während der Antinapoleonischen Kriege von 1813–1815 im deutschsprachigen Raum gegründet wurden und zwischen 10 und 300 Mitgliedern hatten, je nach Größe der Stadt. Sie begründeten ihre Tätigkeit damit, dass Frauen in der Ausnahmesituation eines nationalen Befreiungskrieges den Männern helfend zur Seite stehen müssten. Die Frauenvereine sammelten zunächst Spenden für die Einkleidung und Ausrüstung der Freiwilligen und Landwehrmänner und wurden bald auch in der Kriegskrankenpflege und Kriegsopferfürsorge tätig. Die Leistungen der Frauen zur Kriegsunterstützung wurden nach dem Krieg in der öffentlichen Erinnerung allerdings schnell verdrängt, in der die militärischen Helden im Zentrum standen. Von den Frauen wurde vielmehr erwartet, dass sie in die ihnen zugewiesene »Privatsphäre« von Heim und Familie zurückkehrten, um dort die Wunden des Krieges zu heilen. Dementsprechend führten nur 10 Prozent der Vereine ihre Arbeit als Wohltätigkeitsvereine nach dem Krieg fort.

Ähnlich aktive patriotische Frauenvereine existierten als Teil der antinapoleonischen Bewegung in Europa, soweit bekannt ist, nur in Großbritannien. Drei Gründe dürften dazu beigetragen haben, dass dieses Phänomen im deutschsprachigen Raum besonders ausgeprägt war: Zum Ersten war vor allem in den Kriegen von 1813 bis 1815 Mitteleuropa ein Hauptkampfschauplatz, das heißt in dieser dicht besiedelten Region waren bis dahin unbekannte Zahlen von kranken und verwundeten Soldaten und anderen Kriegsopfern zu versorgen. Für die Bewältigung dieser Aufgabe, auf welche die Armeen und Staaten nur völlig unzulänglich vorbereitet waren, war humanitäre Bürgerhilfe vonnöten. Hierfür konnte, zweitens, an die entwickelte Tradition bürgerlicher patriotischer Vereine angeknüpft werden, die bereits seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in vielen deutschen Städten bestanden. Drittens wurde die Gründung von patriotischen Frauenvereinen ganz energisch von den Frauen der adeligen Elite vorangetrieben und gewann damit offizielle Anerkennung in höchsten Hof- und Militärkreisen, was das unübliche Engagement von Frauen außerhalb der ihnen zugewiesenen »privaten Sphäre« erheblich befördert haben dürfte. Zwar haben Frauen auch in anderen Ländern Spenden für die Ausrüstung und Einkleidung der »Befreiungskrieger« gesammelt, Strümpfe und Wäsche für sie gestrickt und genäht oder in der Kriegskrankenpflege und Kriegsopferfürsorge gewirkt. Vor allem von Frauen aus wohlhabenden Familien wurde christliche Mildtätigkeit in Kriegszeiten schon in der Frühen Neuzeit durchaus erwartet. Es war auch üblich, dass Frauen aus den Unterschichten, die bis zum frühen 19. Jahrhundert als Marketenderinnen, Wäscherinnen und Soldatenbräute zum Gefolge der Armeen gehörten, sich um die verwundeten und kranken Soldaten kümmerten. Diese Pflege wurde aber entweder individuell gewährt oder im Rahmen von Institutionen wie des Militärs oder der Kirchen geleistet, nicht aber in der neuen privaten Organisationsform des bürgerlichen Vereins.

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