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2.4.1 Das 3-Speicher-Modell des Gedächtnisses

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Obwohl Menschen Jahrtausende brauchten, um die in westlichen Ländern übliche Lautschriften zu entwickeln, können die meisten Kinder nach wenigen Monaten Schulbesuch lesen. Auch wenn das arabische Zahlensystem erst vor etwa 1200 Jahren entwickelt wurde, können fast alle Grundschulkinder dividieren und verstehen, dass die Null eine Zahl ist. Wollen wir den Erwerb solcher Kompetenzen verstehen, müssen wir den Lernbegriff erweitern: Es geht nicht nur um Konditionierung, Assoziation und Verhaltensänderung, sondern vor allem um Wissenskonstruktion.

Um den Prozess der Wissenskonstruktion zu veranschaulichen, haben wir ein Modell der menschlichen Informationsverarbeitung entwickelt, das alle im Folgenden genutzten Begrifflichkeiten zur Informationsverarbeitung und dem Lernen in einen Zusammenhang stellt. In dessen Zentrum stehen drei Typen von Gedächtnis.

In der Wissenschaft herrscht Einigkeit darüber, dass das menschliche Gedächtnis am besten durch ein 3-Speicher-Modell beschrieben werden kann. Dieses wurde in den Grundzügen bereits 1968 durch die Psychologen Atkinson und Shiffrin vorgestellt. Demnach gibt es

• ein Ultrakurzzeitgedächtnis (englisch: Sensory Memory)

• ein Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis, das aktuelle Information verarbeitet und zielgerichtetes Verhalten ermöglicht sowie

• ein Langzeitgedächtnis für die längerfristige Abspeicherung von Information.

Jedes Lebewesen braucht ein Ultrakurzzeitgedächtnis, das zunächst einmal alle eingehenden Sinnesreize aufnimmt. Dieses Gedächtnis ist artenspezifisch, da sich unterschiedliche Spezies in ihrem Wahrnehmungsspektrum unterscheiden. Das Spektrum an wahrnehmbaren Tönen ist beispielsweise bei Hunden größer als bei Menschen, während Menschen ein differenzierteres Spektrum an visuellen Reizen haben.

Für alle Spezies gilt: Von den eingehenden Sinnesreizen wird nur ein Bruchteil weiter verarbeitet. Welcher Reiz das Rennen macht, hängt von der Intensität der eingehenden Reize, vom Motivzustand und den Emotionen des Lebewesens ab. Gefahren signalisierende Reize werden prioritär wahrgenommen, und ein hungriges


Abb. 2: An menschlichem Lernen beteiligte Gedächtnisprozesse und geistige Ressourcen (entwickelt von Elsbeth Stern und Lennart Schalk).

Lebewesen wird Hinweise auf Nahrung bevorzugt weiterverarbeiten. In einer klassischen Untersuchung von Georg Sperling (1960) konnte gezeigt werden, dass bei Menschen visuelle Information nach etwa 250 Millisekunden zerfällt, wenn sie nicht zielgerichtet verarbeitet wird.

Wie wird nun von einem Lebewesen ausgewählt, welchen Reizen im Ultrakurzzeitgedächtnis Aufmerksamkeit geschenkt wird und ob sie in das Langzeitgedächtnis gelangen? Die hierfür zuständige Instanz wird Arbeitsgedächtnis genannt. Es ist das wichtigste Konstrukt der wissenschaftlichen Psychologie und so zentral wie etwa das Atom in der Chemie oder die Zelle in der Biologie.

Während davon ausgegangen werden muss, dass alle Lebewesen eine Instanz haben, die zwischen dem Ultrakurzzeit- und dem Langzeitgedächtnis vermittelt, spricht vieles dafür, dass Struktur und Funktion des Arbeitsgedächtnisses ganz wesentlich für die Unterschiede in der geistigen Leistungsfähigkeit zwischen Menschen und anderen Lebewesen verantwortlich sind. Seit längerer Zeit ist bekannt, dass das Frontalhirn an Arbeitsgedächtnisfunktionen maßgeblich beteiligt ist. Menschen, die aufgrund von Unfällen oder Gehirnkrankheiten Schädigungen in diesem Bereich aufweisen, fällt es schwer, längerfristige Ziele zu verfolgen, da sie sich von allen möglichen Reizen ablenken lassen. Anders ausgedrückt: Das gezielte Ausblenden von nicht zielführender Information ist diesen Menschen nicht oder nur sehr schwer möglich. Bildgebende Verfahren wie EEG (Elektroenzephalografie) und fMRI (funktionelle Magnetresonanztomographie), die strukturelle und funktionale Merkmale und Vorgänge im Gehirn erfassen, belegen die Bedeutung des Frontalhirns für das Arbeitsgedächtnis und damit für die Bewältigung von Aufgaben, die die Steuerung von Aufmerksamkeitsfunktionen erfordern.

Kern der Arbeitsgedächtnisfunktionen ist es, eingehende Information in das bestehende Wissen zu integrieren. Daraus wiederum werden Handlungen initiiert, welche die Bewältigung der gerade anstehenden Anforderungen ermöglichen. Um handlungsfähig zu bleiben, muss jedes Individuum aus der großen Flut an eingehenden Reizen eine Auswahl treffen. Die begrenzte Kapazität des Arbeitsgedächtnisses ist deshalb höchst funktional, stellt aber für das Lernen eine besondere Herausforderung dar.

Der Zugang vom Ultrakurzzeitgedächtnis zum Arbeitsgedächntnis kanninzidentell (also unbeabsichtigt bzw. zufällig) oder aber intentional (absichtlich) gesteuert sein. Bei intentional gesteuerten Prozessen verfolgt das Individuum ein Ziel. Es wird deshalb bevorzugt Information auswählen, die das Erreichen des Ziels unterstützt. Hat sich eine Person entschieden, den Inhalt eines Textes zu verstehen, wird sie nicht auf die Farbe der Buchstaben achten. Die intentional gesteuerte Begrenzung des Arbeitsgedächtnisses ermöglicht somit ganz wesentlich die Konzentrationsfähigkeit.

Allerdings hätte kein Lebewesen eine Überlebenschance, wenn das Arbeitsgedächtnis völlig »dicht« machen könnte. Für Hinweise auf drohende Gefahren sowie auf besondere Belohnungen muss ein Weg offenbleiben. Unerwartete und besonders intensive Informationen werden über den inzidentellen Weg weitergeleitet. So wird man sich als konzentrierte Leserin oder als konzentrierter Leser vielleicht nicht daran erinnern, ob die Schrift eines Textes blau oder schwarz war. Sind die Buchstaben hingegen in leuchtendem Pink, wird dies auch demjenigen Lesenden auffallen, der sich ganz auf den Inhalt konzentrieren kann. Neben dem intentionalen wird es also immer auch den inzidentellen Weg geben, über den Informationen in das Arbeitsgedächtnis gelangen.

Dass Lernen ein Langzeitgedächtnis voraussetzt, geht schon aus der im Kapitel 2.2 ( Kap. 2.2) eingeführten Definition hervor: Erfahrung muss gespeichert werden, ansonsten wäre eine nachhaltige Verhaltensänderung gar nicht möglich. Das gilt für die Ameise wie auch für den Menschen. Die Gehirne aller Lebewesen müssen flexibel genug für den Aufbau neuer Reiz-Reaktions-Verbindungen im Langzeitgedächtnis sein. Gleichzeitig ist das Gehirn eines Lebewesens bei seiner Geburt kein völlig unbeschriebenes Blatt, sondern enthält bereits Information, welche die Anpassung an die zukünftige Umwelt erleichtert. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von festverdrahteten Strukturen im Informationsverarbeitungssystem, die weder durch Erfahrung erworben noch durch diese modifiziert werden können. Optische Täuschungen wie z. B. die Müller-Lyer Täuschung (siehe dazu unten die Abbildung 3) ( Abb. 3) sind Beispiele dafür. Selbst wenn wir beide Strecken mit dem Lineal messen und feststellen, dass sie gleich lang sind, sehen wir sie als unterschiedlich lang. Dieses zunächst scheinbar problematische Phänomen hat aber eine wichtige Funktion, da es uns beim Tiefensehen unterstützt, wie Abbildung 4 ( Abb. 4) zeigt. Obwohl im zweidimensionalen Bild Wand B kürzer ist als Wand A, wissen wir, dass in der dreidimensionalen Realität Wand A und B gleich lang sind und der dargestellte Raum einem Quader entspricht.

Abb. 3: Müller-Lyer-Täuschung. Ist die untere Linie wirklich nicht länger als die obere?


Abb. 4: Kein schiefer Raum: Dank der Müller-Lyer-Täuschung können wir in zwei Dimensionen dargestellte dreidimensionale Räume korrekt verarbeiten.

Neben festverdrahteten Strukturen gibt es auch vorverdrahtete Strukturen, die flexibler sind und durch Erfahrung geformt werden. Im Tierreich spricht man auch von Instinkten oder von Prägungslernen, wie es beispielsweise von dem Verhaltensforscher Konrad Lorenz nachgewiesen wurde. Frisch geschlüpfte Graugänse folgen dem ersten bewegten Objekt, das sie sehen – typischerweise die sich aus dem Nest erhebende Mutter. Unter artifiziellen Bedingungen, also wenn die Gänse künstlich ausgebrütet wurden, folgten sie beispielsweise den Stiefeln von Konrad Lorenz. Es war also gerade nicht ein festverdrahtetes Vorstellungsbild einer erwachsenen Gans, welches die Kleinen in der Natur dazu bringt, ihrer Mutter zu folgen, sondern eine flexiblere, aber bereits vorgeprägte Struktur, nämlich einer Bewegung zu folgen – von welchem Objekt auch immer.

Dass Tiere mit Instinkten geboren sind, wird seit langem akzeptiert. Seit einigen Jahrzehnten wissen wir aber auch, dass Menschen nicht völlig unvorbereitet auf die Welt kommen, sondern mit Grundlagen ausgestattet sind, dem sogenannten »Kernwissen«. Dieses erleichtert eine Anpassung an die zu erwartende soziale und physische Umgebung. Aus den Blickbewegungen von Säuglingen lässt sich ableiten, dass sie der Sprache, Veränderungen von kleinen Mengen und Bewegungen von Objekten besondere Aufmerksamkeit schenken (Pauen, 2012).

Auf der Grundlage dieses Kernwissens lernen Kinder beispielsweise ohne professionelle Instruktion in ihrem natürlichen Umfeld das Verstehen und Produzieren von sprachlichen Inhalten sowie das Zählen von diskreten Mengen. Zudem haben sie eine Vorstellung davon, wie sich in der physikalischen Welt feste Gegenstände zueinander verhalten. So reagieren bereits wenige Monate alte Kinder mit weit aufgerissenen Augen auf physikalisch unmögliche Szenarien, in denen beispielsweise ein fester Gegenstand ohne Halt in der Luft zu hängen scheint. Dies erklärt z. B., warum Babys von Mobiles fasziniert sind. Wie genau das angeborene Kernwissen für das weitere Lernen genutzt wird, wird noch kontrovers diskutiert (mehr dazu bei Pauen, 2012), aber es ist unbestritten, dass Menschen auf der Grundlage des Kernwissens vieles von dem, was zur Bewältigung des Alltags benötigt wird, ohne große Anstrengung und ohne gezielte Unterstützung erwerben können.

Die Tatsache, dass Säuglinge und Kleinkinder beiläufig so vieles lernen können, worauf sie im Laufe der Evolution vorbereitet wurden, kann zu Fehleinschätzungen der allgemeinen Lernfähigkeit im Kindesalter und einem unrealistischen Anspruch an Frühförderung führen. Manchmal geistern Vorstellungen durch die Medien, wonach unsere Umwelt die unbegrenzte Lernfähigkeit von Kindern gezielt zerstöre, weil es zu wenig oder die falsche Anregung gebe. Spätestens mit Schuleintritt sei dann die Lernmotivation zerstört.

Solche falschen Vorstellungen entstehen, wenn nicht zwischen biologisch vorbereiteten Kompetenzen und dem Erwerb von Kulturtechniken unterschieden wird. Letztere haben sich erst vor wenigen Jahrtausenden, Jahrhunderten oder Jahrzehnten entwickelt, also lange nach dem Zeitpunkt, an dem sich das menschliche Genom weitgehend stabilisiert hat. Der Erwerb von Kulturtechniken setzt ein effizient funktionierendes Arbeitsgedächtnis voraus, welches sich jedoch erst im Laufe der Kindheit entwickelt und seine vollständige Funktionsfähigkeit erst in der Adoleszenz erreicht. Auch das lässt sich durch Befunde aus der Hirnforschung belegen.

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