Читать книгу Professionelles Handlungswissen für Lehrerinnen und Lehrer - Группа авторов - Страница 27
2.6 »Hirnforschung« und »Lernfenster«: Kaum relevant für schulisches Lehren und Lernen!
ОглавлениеZum Schluss dieses Kapitels gehen wir noch auf zwei weit verbreitete Mythen ein, die das schulische Lernen betreffen – und die Lehrpersonen oft unnötig unter Druck setzen: die Rolle der Hirnforschung und die Auffassung von sogenannten altersspezifischen »Lernfenstern«.
Wer Lernen erforscht, weiß, dass das Gehirn des Menschen das wichtigste Körperteil ist. Ein körperlich behinderter Mensch ist in seiner motorischen Lernfähigkeit eingeschränkt, aber keineswegs zwangsläufig beim Erwerb geistiger Inhalte, sofern ihm Hilfsmittel bei der Beschaffung und Nutzung von Lernmaterial zur Verfügung stehen. Sind hingegen Hirnfunktionen beeinträchtigt, bestehen – wenn überhaupt – nur noch eingeschränkte Möglichkeiten, die von der Umgebung angebotenen Lerngelegenheiten zu nutzen.
Aber obwohl unsere Lernfähigkeit von der Funktionsweise des Gehirns abhängt, ist es nicht das neurobiologische Wissen über das Gehirn, welches zum professionellen Handlungswissen der Lehrpersonen gehört. In welchem Ausmaß die Amygdala, der Hippocampus oder die Großhirnrinde an den Lernprozessen beteiligt sind, ist für die Gestaltung schulischer Lerngelegenheiten völlig irrelevant (ganz davon abgesehen, dass die Erkenntnisse der Neurobiologie in diesem Bereich noch sehr rudimentär sind). Die in diesem Kapitel eingeführten wissenschaftlichen Konstrukte wie Arbeitsgedächtnis,prozedurales Wissen oder konzeptuelles Wissen haben natürlich ihre Korrelate im Gehirn – auch wenn wir sie nur rudimentär kennen. Aber ihre wissenschaftliche Rechtfertigung erhält die Unterscheidung zwischen prozeduralem, konzeptuellem und deklarativem Wissen eben nicht durch ihre hirnphysiologischen Grundlagen, sondern durch die Tatsache, dass sie durch unterschiedliche Lernwege erworben werden. Nicht die physiologischen Grundlagen machen einen Begriff oder eine Erklärung aus der Lernforschung »wissenschaftlich«, sondern seine kausale Wirksamkeit in Vorhersagen. An anderer Stelle (Stern, 2005; Stern, Schumacher & Grabner, 2005; Stern, Schumacher & Grabner, 2015) wird erörtert, dass es zwar erstrebenswert ist, die neurophysiologischen Grundlagen des Lernens besser zu verstehen, dass diese jedoch den kognitionspsychologischen Zugang nicht ersetzen können.
Und noch ein abschließendes Wort zur Bedeutung des Alters der Lernenden. Das menschliche Gehirn unterliegt von der Geburt (und schon früher) bis zum Tod ständigen Veränderungen. Insbesondere in der Kindheit und im Jugendalter führen Entwicklungs- und Reifungsprozesse zu Veränderungen im Frontalhirn, die die Arbeitsgedächtnisfunktionen und damit das Lernen beeinflussen. Wenn Kinder oder Jugendliche Schwierigkeiten beim Lernen haben, kann dies auf fehlendes Vorwissen oder auf noch nicht ausgereifte Frontalhirnfunktionen zurückgeführt werden oder aber mit fehlendem Wissen erklärt werden (Erinnerung: Kinder sind universelle Novizen).
Beide Erklärungen schließen sich nicht aus. Auch im Erwachsenenalter können unbefriedigende Lernergebnisse (z. B. wenn es um das Erinnern von Namen bekannter Personen geht) mit einer altersbedingten Beeinträchtigung von Gehirnfunktionen (inklusive Krankheiten wie Alzheimer) oder mit fehlendem bzw. interferierendem Wissen erklärt werden. Letztere Erklärung greift vor allem bei dem allseits bekannten Namensphänomen: Dass wir uns mit zunehmendem Alter die Namen neu hinzukommender Personen immer schlechter merken können, kann daran liegen, dass wir sie mit bereits bekannten Personen verwechseln. Bestehendes Wissen kann sich auch negativ auf das Lernen auswirken.
Mit diesem kurzen Exkurs soll noch einmal die Erklärungskraft von Wissen für zukünftiges Lernen verdeutlicht werden, selbst wenn andere Erklärungen hinzukommen können. Es gibt beim Lernen keine »besonders günstigen Zeitfenster«, vielmehr ist für die wirksame Planung von Lerngelegenheiten und für die effiziente Rückmeldung an die Lernenden jeden Alters entscheidend, dass sich Lehrerinnen und Lehrer ein möglichst adäquates Bild vom (Vor-)Wissen der Schülerinnen und Schüler machen können.