Читать книгу Professionelles Handlungswissen für Lehrerinnen und Lehrer - Группа авторов - Страница 26
2.5.3 Intelligenz und Motivation: Zwei unterschiedliche Konstrukte, die nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen
ОглавлениеWeite Verbreitung – gern mit Genugtuung gepaart – finden auch Ergebnisse, welche zeigen, dass motivationale Variablen Leistungsunterschiede besser erklären können als Intelligenz. Insbesondere die Psychologin Angela Duckworth wurde bekannt für ihre Arbeiten zur Bedeutung von Leidenschaft und Ausdauer. Ohne diese und vergleichbare Ergebnisse in Frage stellen zu wollen, muss der Geltungsbereich der Befunde klarer kommuniziert werden. An den in Philadelphia durchgeführten Studien nahmen überdurchschnittlich intelligente Schülerinnen und Schüler teil, d. h., die eingeschränkte Varianz reduzierte die Korrelation zwischen Intelligenz auf die Schulleistung. Hinzu kommt, dass als Schulleistung mathematische Kompetenzen in der Sekundarstufe wie Bruch- und Prozentrechnung erfasst wurden. Diese Inhalte sind für die untersuchte Gruppe nicht übermäßig anspruchsvoll, weshalb auch leicht überdurchschnittlich intelligente Schülerinnen und Schüler, die besonders fleißig üben, mit weniger fleißigen, aber intelligenteren Schülerinnen und Schülern gleichziehen können. Daraus darf jedoch nicht abgeleitet werden, dass durch Fleiß und Durchhaltevermögen jede geistige Hürde unabhängig von der Intelligenz genommen werden kann. Sobald es um sehr anspruchsvolle Inhaltsbereiche mit komplex interagierenden abstrakten Konzepten geht, machen sich Intelligenzunterschiede gerade auch im oberen Bereich bemerkbar.
In einer extrem selektiven Längsschnittstudie mit Höchstbegabten (z. B. Lubinsky & Benbow, 2006) zeigten sich immer noch Unterschiede im beruflichen Erfolg: Das oberste Viertel in dieser extrem selegierten Gruppe (1 : 10.000) war besser aufgestellt als das unterste. Auch in der hoch, wenn auch nicht ganz so hoch selegierten Gruppe von Studierenden in Physik, Mathematik und Maschinenbau an der als anspruchsvoll geltenden ETH Zürich zeigte sich ein Einfluss der Intelligenz auf Prüfungsergebnisse in Mathematik nach dem ersten Studienjahr (Berkowitz & Stern, 2018). Etwa ein Viertel der Gruppe kann als hochbegabt (IQ>130) gelten und kaum ein Student hatte einen IQ unter 120. Die Botschaft aus beiden Studien ist: Auch in einer selegierten Gruppe mit eingeschränkter Varianz in der Intelligenz kann diese noch Leistungsunterschiede in sehr anspruchsvollen Inhaltsgebieten erklären.
Mit der Betonung dieser Ergebnisse soll keineswegs die Bedeutung von Motivation und Durchhaltevermögen in Frage gestellt werden. Anspruchsvolle Inhaltsbereiche können sich auch sehr intelligente Menschen nicht nebenbei aneignen. Diszipliniertes Arbeiten, das mit dem Verzicht auf manche kurzfristigen Anreize einhergeht, ist unabdingbar. Nur gilt eben nicht, dass man mit einer starken Motivation und großem Durchhaltevermögen alles erreichen kann – unabhängig von der Intelligenz. Man sollte niemandem mit einem durchschnittlichen IQ ein Physik- oder Mathematikstudium empfehlen – egal wie motiviert diese Person ist. Idealerweise sollten alle Menschen vor Ausbildungs- und Berufswahlentscheidungen wissen, welches Maß an Anstrengungsbereitschaft und Intelligenz für das Erreichen der Ziele erforderlich ist.
Tatsächlich ist es nicht sinnvoll und auch wissenschaftlich nicht haltbar, Motivation und Intelligenz als miteinander konkurrierende Einflussfaktoren zu betrachten. Es handelt sich um unterschiedliche Konstrukte, die Unterschiedliches zum Zustandekommen von Leistung beitragen. Während es sich bei Intelligenz um ein stabiles und situationsunabhängiges Persönlichkeitsmerkmal handelt, ist Motivation als situationsbedingter Zustand zu verstehen, der durch äußere Bedingungen formbar ist. Die bekannte Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation, also ob man etwas der Sache oder der Konsequenzen wegen macht, charakterisiert eher die Enden eines Kontinuums als zwei distinkte dauerhafte Zustände. Selbst wenn man eine Sache um ihrer selbst willen macht (z. B. eine Doktorarbeit schreiben), ist dies zeitweilig mit Aktivitäten verbunden, die wenig motivierend sind. Sich dennoch »aufzuraffen« ist eine Kompetenz, die man erwerben kann und zu der sowohl Eltern als auch Lehrer beitragen können.
Nach der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (2000) lassen sich Menschen in Situationen motivieren, in denen Kompetenzerleben, Autonomie und soziale Einbindung ermöglicht werden. Gelingt es Lehrerinnen und Lehrern, diese Aspekte bei der Gestaltung von Lerngelegenheiten zu berücksichtigen, steigt die Anstrengungsbereitschaft auch bei jenen Schülerinnen und Schülern, die sich nicht übermäßig für das Thema begeistern.
Ein fatales Missverständnis mancher Lehrpersonen ist, dass ihre Schülerinnen und Schüler nur Lernbereitschaft zeigen, wenn sie bereits mit hoher intrinsischer Motivation in den Unterricht kommen. Tatsächlich können Lehrer durch schlechten Unterricht Schülerinnen und Schüler mit positiven Erwartungen und intakter Lernbereitschaft vergraulen, aber mit gutem Unterricht können sie auch unmotivierte Schülerinnen und Schüler zum Lernen bewegen.
Die Botschaft ist also: Anders als Intelligenz ist Motivation kein überdauerndes Persönlichkeitsmerkmal, sondern bezeichnet die auch kurzfristig beeinflussbare Handlungs- und Anstrengungsbereitschaft. Motiviert ist man nicht per se, sondern immer auf ein Ziel bezogen. Der Satz »Dieser Mensch ist überdurchschnittlich intelligent.« ist auch ohne einen weiteren Kontextbezug sinnvoll; der Satz »Dieser Mensch ist überdurchschnittlich motiviert.« hingegen nicht. Motivation und Anstrengungsbereitschaft steuern unsere Ziele, unsere Entscheidungen und unser Verhalten, und es gilt: Jede Entscheidung für etwas ist eine Entscheidung gegen etwas anderes. Hört man in einem Vortrag zu oder checkt das Smartphone unter dem Tisch? Das hängt davon ab, ob man aus dem Vortrag im Sinne der Selbstbestimmungstheorie Gewinn ziehen kann. Natürlich spielt dabei auch die Qualität des Vortrages und die Rhetorik eine Rolle, aber entscheidend sind die kognitiven Voraussetzungen des Zuhörers. Knüpft der Inhalt des Vortrags (oder des Textes) an das bestehende Wissen an und wird dieses erweitert oder korrigiert?
Hier machen sich Intelligenzunterschiede bemerkbar: Intelligentere Menschen verfügen aufgrund ihrer effizienteren Informationsverarbeitung über mehr und besser vernetztes Wissen als weniger intelligente Menschen. Deshalb wird Wissen auch als die Intelligenz des Alters bezeichnet (Ackerman, 2017). Und selbst wenn sehr intelligente Menschen kein detailliertes Wissen in einem Gebiet haben, können sie aufgrund ihrer besseren Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken auch Beziehungen zwischen Inhaltsgebieten herstellen, die auf den ersten Blick nicht zusammenhängen.
Wenn es Menschen nicht gelingt, eingehende Information auf sinnvolle Weise an ihr bestehendes Wissen anzuknüpfen (sei es wegen fehlendem Vorwissen oder mangelnder Intelligenz), dann werden sie nicht die nötige Motivation aufbringen und aufrechterhalten. Sie erleben weder Kompetenzzuwachs noch Autonomie und fühlen sich fremd in dem Lernkontext – um auch an dieser Stelle wieder die Selbstbestimmungstheorie heranzuziehen. Um Menschen solche Erfahrungen zu ersparen, ist es empfehlenswert, bei Berufs- und Ausbildungswahl im Zweifelsfalle die eigenen Fähigkeiten stärker zu gewichten als das Interesse (Neubauer, 2018).
Es liegen inzwischen viele groß angelegte Schulstudien vor, in denen erklärt werden soll, warum Schülerinnen und Schüler sich im Lerngewinn unterscheiden. Wenn ein Mindeststandard an Unterrichtsqualität in allen Klassen sichergestellt ist, findet sich sehr konsistent, dass individuelle kognitive Voraussetzungen wie Intelligenz und Vorwissen die Unterschiede im Lerngewinn besser erklären können als die zwischen den Schulklassen zu beobachtenden Variationen in der Unterrichtsqualität. Mit anderen Worten, auch bei sehr guter Unterrichtsqualität wird ein Schüler mit ungünstigen Voraussetzungen nicht mehr dazulernen als ein Schüler mit günstigen Voraussetzungen bei nicht ganz so guter Unterrichtsqualität. Die Unterrichtsqualität bestimmt, wie gewinnbringend das Potential Intelligenz in den Erwerb inhaltsspezifischer Kompetenzen investiert werden kann. Lehrer haben ihren Job gut gemacht, wenn alle Schülerinnen und Schüler dazulernen, aber die Leistung nach dem Unterricht höher mit Intelligenz korreliert als die Leistung vor dem Unterricht.