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2.5.1 Die wichtigsten Befunde der Intelligenzforschung in Bezug auf das schulische Lernen
ОглавлениеIntelligenztests enthalten sprachliche, mathematisch-rechnerische oder figural-räumliche Aufgaben, aus denen sich der Intelligenzquotient (IQ) errechnen lässt. Dieser folgt einer Normalverteilung (Gausschen Glockenkurve), das heißt, die meisten Menschen haben mittlere Ausprägungen (ca. 70 % liegen im Bereich von 85 bis 115 um den mittleren IQ von 100), während in den Extrembereichen sehr hoher (über IQ 130) oder sehr niedriger Intelligenz (unter 70) nur jeweils 2 % der Menschen anzutreffen sind. Der IQ ist keine absolute Grösse wie z. B. Masse oder Länge, sondern er beschreibt die Abweichung einer Person von der mittleren Testleistung einer Population. Wissenschaftler sind sich inzwischen einig, dass die Effizienz der im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Arbeitsgedächtnisfunktionen Intelligenzunterschiede gut erklären kann.
Die Frage nach den genetischen Ursachen von Intelligenzunterschieden wird unter Experten nicht länger kontrovers diskutiert, führt aber in der Öffentlichkeit immer noch zu Missverständnissen, die sich vor allem bei der Interpretation von Prozentangaben zeigen. Wie ist der Satz »Intelligenz ist zu 50 bis 80 % erblich« zu verstehen? Erblichkeitsschätzungen beziehen sich nie auf die Intelligenz eines Individuums, sondern immer auf Unterschiede innerhalb einer Gruppe. Der statistische Fachausdruck hierfür ist »Varianz«, und in diese Größe geht – vereinfacht gesprochen – die Abweichung jeder einzelnen Person vom Durchschnittswert ein. Wissenschaftlich korrekt muss es heißen »Intelligenzunterschiede sind zu 50 bis 80 % erblich.«
Aber wie lässt sich die große Spanne von 50 bis 80 % rechtfertigen? Erblichkeitsschätzungen basieren auf Zwillingsstudien. Gemeinsam aufgewachsene eineiige, also genetisch identische Zwillinge zeigen eine sehr hohe Übereinstimmung im IQ. Einen Rückschluss auf den Einfluss der Gene lässt das aber noch nicht zu, weil Zwillinge von der Befruchtung bis ins Erwachsenenleben hinein einer Vielzahl von Umwelteinflüssen gemeinsam ausgesetzt sind: Uterus, Elternhaus, Ernährung, Freundeskreis, Kita oder Schule zählen dazu.
Gemeinsamen Umwelteinflüssen sind aber auch zweieiige Zwillingspaare ausgesetzt, insbesondere gleichgeschlechtliche. Ihr genetischer Code ist nicht identisch, sondern weist eine mit »normalen« Geschwistern vergleichbare Übereinstimmung auf. Hätten Gene keinerlei Einfluss auf das Zustandekommen von Intelligenzunterschieden, sollten sich zweieiige Zwillingspaare genauso stark ähneln wie eineiige. Das ist aber ganz klar nicht der Fall, wie alle Studien zeigen. Zudem ist die Übereinstimmung im IQ bei zweieiigen Zwillingspaaren kaum höher als bei »normalen« Geschwisterpaaren, obwohl diese aufgrund ihrer Altersdifferenz größere Unterschiede in der Umwelt aufweisen.
Angesichts dieser Befundlage müssen wir uns endgültig von der Vorstellung verabschieden, alle Menschen ließen sich zu geistigen Überfliegern machen. Statistische Analysen, in denen – grob gesagt – die Übereinstimmung bei eineiigen Zwillingspaaren mit jener bei zweieiigen in Beziehung gesetzt wird, lassen derzeit folgenden Schluss zu: In entwickelten Ländern mit allgemeiner Schulpflicht sind mindestens 50 % der Intelligenzunterschiede auf Variationen in den Genen zurückzuführen. Warum »mindestens«? Und was hat der Schulbesuch mit der Intelligenz zu tun, wenn diese doch in die Gene geschrieben ist?
Zunächst zu Letzterem: Intelligenz wird als das Potenzial einer Person verstanden, sich die mündliche und schriftliche Sprache sowie den Umgang mit mathematischen und anderen Symbolsystemen der jeweiligen Kultur anzueignen und dieses Wissen für schlussfolgerndes Denken zu nutzen. Die genetischen Voraussetzungen, die alle Menschen – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – dafür mitbringen, können sich aber nur bei entsprechender familiärer und schulischer Förderung entfalten. So wie eine Pflanze nur an einem guten Standort und bei ausreichender Bewässerung und Düngung jene Größe erreicht, die ihre Gene vorsehen.
Hier kommen wir zu einem scheinbar paradoxen Schluss, der das »mindestens« erklärt: Dass nicht sogar 100 % der Intelligenzunterschiede auf genetische Variation zurückzuführen sind, liegt im Wesentlichen an der ungleichen Verteilung von Bildungschancen in allen Ländern der Welt. In einer Gesellschaft, in der alle Kinder von Anfang an die für ihre geistige Entwicklung optimale familiäre und schulische Unterstützung vorfänden, könnte jedes die in seinen Genen angelegte Intelligenz erreichen. Die Anzahl richtiger Antworten im IQ-Test würde bei allen ansteigen, die Unterschiede aber würden bestehen bleiben oder sogar noch zunehmen, weil einige Gene erst unter optimalen Bedingungen wirksam würden. Weil wir aber von einer solchen Bildungsgerechtigkeit weit entfernt sind, gilt: Erreicht ein rundum gefördertes Akademikerkind »nur« einen durchschnittlichen IQ, ist davon auszugehen, dass seine Gene nicht mehr hergeben. Wird hingegen bei einem Kind aus bildungsfernem Hause derselbe Wert gemessen, ist anzunehmen, dass es sein genetisches Potenzial nicht optimal in Intelligenz umsetzen konnte und unter besseren Bedingungen einen höheren IQ erzielt hätte. Dass Erblichkeitsschätzungen zwischen 50 und 80 % schwanken können, liegt also nicht daran, dass die Psychologie eine weiche Wissenschaft ist, die zu keinen genaueren Aussagen in der Lage ist, sondern es liegt an den großen Unterschieden in den Umweltbedingungen, denen verschiedene Gruppen von Menschen ausgesetzt sind.
Intelligenzunterschiede wirken sich auf die Geschwindigkeit und die Tiefe des Lernens im akademischen Bereich aus. Je intelligenter ein Mensch ist, umso effizienter und schneller kann er Information in Form von Symbolen repräsentieren, auf dieser Grundlage neue Schlussfolgerungen ziehen und damit in abstrakte Wissensgebiete eindringen. Es gibt Wissensgebiete (z. B. Differentialrechnung), die sich weniger intelligente Menschen nicht in einem vertretbaren Zeitraum aneignen können und die deshalb separierte Lerngelegenheiten erfordern. Solange jedoch Lernziele verfolgt werden, die von allen Schülern erreicht werden sollen (z. B. lesen und schreiben können, Bruch- und Prozentrechnung verstehen), ist eine Separierung nicht zwingend, da bislang keine qualitativen Unterschiede in den Lernwegen mehr oder weniger intelligenter Schüler gefunden werden konnten. Intelligenzunterschiede zeigen sich vor allem in der Lerngeschwindigkeit, der Verarbeitungstiefe und einer geringeren Anzahl von Fehlern. Die Art der Fehler und Missverständnisse sind jedoch nicht prinzipiell anders. Die Vorstellung von unterschiedlichen Lerntypen oder Lernstilen ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht zu rechtfertigen (dazu auch Felten & Stern, 2012). Solange es sich um Stoff der schulischen Allgemeinbildung handelt, sollte man zwar den unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten Rechnung tragen, aber es müssen keine prinzipiell unterschiedlichen Übungen und Erklärungen angeboten werden. Innere Differenzierung, Individualisierung und jahrgangsübergreifender Unterricht könnten demnach eine aus Sicht der Intelligenzforschung sinnvolle Alternative zu einem früh einsetzenden mehrgliedrigen Schulsystem darstellen.
Hinweise auf die Intelligenz eines Menschen gibt es zwar schon ab der frühen Kindheit, aber wirklich aussagekräftig sind Intelligenzmessungen frühestens ab dem Alter von etwa zehn Jahren. Seriöse Experten für Hochbegabung stellen deshalb keine Diagnose vor dem zehnten Lebensjahr. Das betont der Marburger Hochbegabtenforscher Detlef Rost, der in einer großen Längsschnittstudie die Lern- und Berufswege von Schülern mit einem IQ über 130 verfolgt hat. In seinen Studien konnte er mit vielen Vorurteilen aufräumen, u. a., dass Hochbegabte besonders anfällig für psychische Störungen seien. Eher ist das Gegenteil der Fall (Rost, 2009). Intelligente Menschen haben in vieler Hinsicht Vorteile: Sie lernen nicht nur schneller und können ein Thema tiefer durchdringen, sondern sie zeichnen sich auch durch eine bessere Gesundheit und ein längeres Leben aus (Deary, 2004).
Wichtige Botschaften aus der Intelligenzforschung für die Bildung sind: Interindividuelle Unterschiede im Lernpotenzial sind gegeben, und diese Unterschiede werden im Laufe der Schulzeit nicht geringer. Intelligente Menschen nutzen die ihnen gebotenen Lerngelegenheiten meist effizienter und können so ihren Vorsprung ausbauen. Dessen ungeachtet gilt aber, dass in vielen Gebieten ein Weniger an Intelligenz durch ein Mehr an Lernen im Sinne der Wissenskonstruktion ausgeglichen werden kann. Der Grund hierfür ist, dass durch Chunking und Prozeduralisierung Wissensstrukturen aufgebaut sind, für deren Aktivierung nur wenig Arbeitsspeicherkapazität benötigt wird. Auch wenn die Einzelheiten noch ungeklärt sind, ist es in der Intelligenzforschung unbestritten, dass das Arbeitsgedächtnis die kognitionswissenschaftliche Grundlage der Intelligenz ist. Lösungszeit und Lösungsrate von einfachen Aufgaben, in denen Ziele gewechselt werden müssen, wie in Abbildung 5 dargestellt, korrelieren hoch mit Intelligenz.