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2.4.5 Verstehendes Lernen als Konzeptwandel

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Die Art und Weise, wie eine Person ein Konzept gespeichert hat, kann im Grad der Allgemeinheit deutlich variieren: Bello, der real existierende Schäferhund, Schäferhund als Hunderasse, Hund als Gattung, als Haustier, Säugetier, Tier, Lebewesen. Die letzte Ebene bezieht sich auf konkrete, sinnlich wahrnehmbare Entitäten, nämlich alles, was als Lebewesen bezeichnet wird – sei es ein Bakterium, ein Grashalm oder ein Elefant. All diese Entitäten nehmen Raum ein und sind – wenn auch im Falle des Bakteriums nur mit technischen Hilfsmitteln – sinnlich wahrnehmbar.

Ein Alltagskonzept von »Lebewesen« zu erwerben, stellt keine besondere kognitive Anforderung dar: Die Unterscheidung zwischen belebten und unbelebten Objekten ist als Kernwissen verfügbar, also vermutlich in unserem Genom verankert, wie wir aus Ergebnissen der Säuglingsforschung ableiten können. Sechs Monate alte Kinder zeigen unterschiedliche Blickbewegungen, je nachdem, ob sich ein Gegenstand kontinuierlich bewegt, wie es typisch für Fremdeinwirkung ist, oder diskret wie bei Tieren und Menschen. Das Interesse für Tiere entwickelt sich sehr früh, und ein Konzept von »Lebewesen« wird in der Vorschulzeit erworben. Zwar geht dieser Lernprozess mit einer Reihe von Missverständnissen einher – u. a. glauben Kinder zunächst, dass Pflanzen keine Lebewesen sind –, aber durch Fragen und analoges Schließen präzisieren sie ihren Begriff von Lebewesen (Inagako & Hatano, 2006).

Das gilt auch für den Unterbegriff der Arten. Bis zu einem Alter von fünf Jahren denken Kinder, dass ein Tier seine Art verändert (aus einem Eichhörnchen wird ein Stinktier, wenn man ihm dessen Fell überzieht), aber solche Missverständnisse werden schnell aufgegeben. Man benötigt keine Kenntnisse über Genetik und Mikrobiologie, um zu verstehen, dass die Zugehörigkeit zu einer Art ein stabiles Merkmal ist.

Mit zunehmender Lernerfahrung wird das Konzept von Lebewesen komplexer und kann verstanden werden als »organisierte Einheit«, die unter anderem zu Stoffwechsel, Fortpflanzung, Reizbarkeit, Wachstum fähig ist und evolutionären Prozessen unterliegt.

Viele wissenschaftliche Begriffe aus der Biologie und der Chemie unterscheiden sich in ihrer Komplexität und Differenziertheit vom Alltagsverständnis, aber ein gemeinsamer Kern bleibt. So kann man sich unter Stoffwechsel etwas vorstellen, ohne dass man die zugrundeliegenden biochemischen Prozesse versteht. Auch dass Materie aus kleinsten Teilchen zusammengesetzt ist, ist intuitiv einsichtig, spätestens nachdem man mit Bauklötzen gespielt hat. Unüberbrückbare Distanzen entstehen bei Detailfragen, wenn es um konsistente Erklärungen geht. Was hält die Atome zusammen, wie formen sie ein Objekt? Hier gehen Alltagsvorstellungen und wissenschaftliche Erkenntnisse auf inkompatible Weise auseinander.

Da Menschen nach konsistenten und schlüssigen Erklärungen streben, die sich möglichst widerspruchsfrei in ihr Weltbild einfügen, können bereits Kinder erstaunlich komplexe naive Theorien aufbauen. Werden 6-Jährige mit der Tatsache konfrontiert, dass die Erde keine Scheibe ist, sondern eher einem Ball ähnelt, stellt sich ihnen die Frage, warum Lebewesen und Dinge auf dem unteren Bereich nicht runterfallen. Diesen Widerspruch lösen die Kinder, indem sie ein Modell der Erde als Halbkugel konstruieren, wo die Menschen entweder im Innenraum oder auf einer Scheibe wohnen, die die Halbkugel bedeckt. Sie bilden also ein synthetisches Konzept aus ihrer Erfahrung, dass die Erde flach ist, und der Information, dass die Erde rund ist (Vosniadou & Brewer, 1992).

Was die kleinsten Teile – also die Atome – zusammenhält, beschäftigt Kinder und sie entwickeln ihre eigenen Vorstellungen dazu. Eine davon ist das Kugel-Sackmodell: Die kleinen Atome sind wie Tennisbälle in einem Sack. In sich konsistente, aber dennoch falsche Vorstellungen über Vorgänge in der Welt, die besonders änderungsresistent sind, halten sich bis in das Erwachsenenalter. Der Kern der Evolutionslehre wird mit »Recht des Stärkeren« gleichgesetzt, was zu einer unzulässigen Trivialisierung zentraler evolutionärer Prozesse wie Mutation, Adaptation und Selektion führt.

Esoterische Ideen zur Ernährung und zur Landwirtschaft folgen ähnlichen Prinzipien. Die Idee der Entschlackung des Körpers durch Fasten entsteht aus einer unangemessenen Generalisierung des Verbrennungsbegriffs. Die Umwandlung fossiler Brennstoffe in Wärme und Licht hinterlässt Rückstände, auch als Schlacke bezeichnet. Nahrungsaufnahme dient der Energiezufuhr. Sie wird in Bewegung und Wärme umgewandelt und hinterlässt nicht verwertbare Rückstände, die abgeführt werden. Nach Auffassung einiger selbsternannter Ernährungsexperten hinterlässt aber die moderne ungesunde Nahrung Rückstände, mit denen der Stoffwechsel nicht fertig wird, weshalb Heilfasten zur Entschlackung zu empfehlen sei. Der Begriff »Schlacke«, der im Bergbau benutzt wird, um Verbrennungsrückstände zu bezeichnen, wird fälschlicherweise auf die menschliche Verdauung übertragen. Die Liste der pseudowissenschaftlichen Alltagstheorien, die auf der Trivialisierung biologischer und chemischer Erklärungen beruhen, könnte beliebig fortgeführt werden.

Chemie und vor allem Biologie gelten im Allgemeinen als interessante Schulfächer, selbst wenn die Leistungen nicht immer zufriedenstellend sind. Das mag auch daran liegen, dass die in diesen Fächern angebotenen Konzepte und Theorien reichlich Stoff für eigene Vorstellungen und Erklärungen bieten und häufig emotional geladen sind. Chemie als negativer Gegensatz zur reinen Natur oder eine enge Assoziation zwischen Genetik und Euthanasie prägt manche Weltbilder. Auch soll es immer noch Menschen geben, die sich weigern, Tomaten zu essen, die Gene enthalten, und die nichts anfassen möchten, was Atome enthält. Aber auch Menschen mit verzerrten oder falschen Konzepten aus Biologie und Chemie gehen davon aus, dass sie etwas verstanden haben, und manche fühlen sich in ihrem Wissen sicherer als Experten.

Zwei Schulfächer, die mehrheitlich negativ besetzt sind, ohne dass sie bei den meisten Menschen einen starken Einfluss auf ihr Weltbild haben, sind Physik und die höhere Mathematik. Die diesen Fächern zugrundeliegenden Konzepte sind so abstrakt und alltagsfern, dass sie sich nicht als Grundlage für Trivialisierung und naive Theorien eignen. Hinzu kommt, dass es bei den Aufgaben, die in diesen Fächern gestellt werden, eindeutig richtige oder falsche Lösungen gibt, weshalb eine »gefühlte Kompetenz«, die bei Biologie und Chemie auftreten kann, keine Chance hat.

In Mathematik kommen viele Schüler spätestens ab der Behandlung von Algebra nicht mehr mit dem Abstraktionsgrad zurecht. Das Verständnis von Konzepten wie Variable und Parameter wird am Gymnasium erwartet, aber selten auf eine Weise verstanden, die auf die Informatik übertragbar ist (Hromkovic & Kohn, 2018). Bruch- und Prozentrechnung sowie Dezimalzahlen haben noch einen Alltagsbezug, auch wenn ihr Erwerb eine Umstrukturierung des Zahlkonzeptes erfordert. Im Arithmetikunterricht wurde der Umgang mit natürlichen Zahlen mit den Grundrechenarten geübt. Zwischen zwei beliebigen Zahlen konnte man die exakte Menge der dazwischenliegenden Zahlen ermitteln. Aus den zahlreichen Rechenübungen wurden implizit oder explizit Prinzipien abgeleitet: Multiplikation und Addition führen zur Vergrößerung, Subtraktion und Division zur Verkleinerung (obwohl schon in der Arithmetik die Zahlen 0 und 1 Ausnahmen darstellten). Werden Bruch- und Dezimalzahlen eingeführt, muss das Verständnis von Zahlen erweitert werden. Man muss verstehen, dass 1/7 größer ist als 1/8 und dass zwischen 0,1 und 0,2 unendlich viele rationale Zahlen liegen. Dass 50 % von 1000 Franken weniger Geld ist als 10 % von 10000 Franken stellt höhere Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis, da der Vergleich die Repräsentation von Relationen erfordert.

Tatsächlich stellt das Verständnis von Zahlen als Relation einen ersten Schritt in Richtung eines fortgeschrittenen mathematischen Verständnisses dar (Stern, 1993, 1995). So können fast alle Vorschulkinder die folgende Aufgabe lösen: »5 Vögel haben Hunger. Sie finden 3 Würmer. Wie viele Vögel bekommen keinen Wurm?«. Hingegen liegt bei denselben Kindern die Lösungsrate unter 20 %, wenn die Aufgabe mit der Frage endet »Wie viel mehr Vögel als Würmer gibt es?« Die Diskrepanz ist nicht auf sprachliche Probleme zurückzuführen (Stern & Lehrndorfer, 1992; Stern, 1993), sondern auf ein eingeschränktes Verständnis von Zahlen als Zählinstrumente. In verschiedenen Längsschnittstudien konnte die Bedeutung eines frühen Relationszahlenverständnisses für ein späteres mathematisches Verständnis nachgewiesen werden (Stern, 2009; Schalk et al. 2016).

Die Entwicklung eines Zahlenverständnisses, das über die Zählfunktion hinausgeht und das die Grundlage für reelle und rationale Zahlen ist, stellt für alle Kinder eine Herausforderung dar. Wie gut diese bewältigt wird, hängt von der Unterrichtsqualität und der Intelligenz der Kinder ab (Staub & Stern, 2002). Es kann davon ausgegangen werden, dass überdurchschnittlich intelligente Kinder, die keinen guten Mathematikunterricht erhalten, Bruch-, Dezimal- und Prozentrechnung durch alltagsnahe Lernangebote erwerben, wenn auch mit Verzögerung. Hingegen können auch sehr intelligente Schülerinnen und Schüler an abstrakten Inhalten in Mathematik und Physik scheitern, weil Lernangebote nicht genutzt werden oder schlecht gestaltet sind. Sie werden zu Underachievern, also Minderleistern (Hofer & Stern, 2017). Sie setzen ihre Intelligenz nicht in brauchbares prozedurales und konzeptuelles Inhaltswissen um.

Kommen wir zurück zu den Fächern Physik und Mathematik am Gymnasium. In einer an der ETH Zürich durchgeführten Studie konnte gezeigt werden, dass selbst in der hoch selegierten Gruppe der Erstsemester in Physik und Mathematik Defizite im konzeptuellen Verständnis von Differential- und Integralrechnung zu beobachten waren (Deiglmayr et al, in Vorbereitung). Noch offensichtlicher wurde dies in Physik, insbesondere in der Mechanik. Wer souverän mit Formeln wie »Kraft = Maße × Beschleunigung« umgehen konnte, hatte nicht immer auch die in der Formel implizierten Konzepte verstanden. Spätestens seit der Entwicklung des Force Concept Inventory (FCI, Hestenes, 1992) ist bekannt, dass auch sehr intelligente Schülerinnen und Schüler, die ihren Physikkurs mit guten Noten abgeschlossen haben, kein konzeptuelles Weltbild im Newtonschen Sinne aufgebaut hatten. Das ist in der Tat sehr schwierig, weil es erfordert, dass sehr plausible und mit dem Körperempfinden kompatible Vorstellungen aufgegeben werden müssen. Dass jede Bewegung eines Gegenstandes oder eines Lebewesens das Einwirken einer Kraft voraussetzt und dass man Kraft aufwenden muss, um die Geschwindigkeit beizubehalten, ist kompatibel mit allen Alltagsvorstellungen und Erfahrungen. Im Rahmen des Newtonschen Weltbildes hingegen sind Konzepte wie Trägheit und Beschleunigung zentral. Ohne Einwirkung einer Kraft behält ein sich geradlinig bewegender Gegenstand seine Geschwindigkeit aufgrund der Trägheit bei, während eine Kraft einen Gegenstand negativ oder positiv beschleunigt, also die Geschwindigkeit und/oder die Richtung verändert.

Noch schwerer ist das Konzept der Gegenkraft (actio = reactio) zu verstehen. Dass auch nicht-magnetische Körper sich gegenseitig anziehen, müssen wir nicht wissen, um angemessen in der Umwelt zu navigieren. Ebenso wenig müssen wir wissen, dass wir uns im Auto aufgrund des Trägheitsprinzips anschnallen müssen. Das Alltagskonzept von »nach vorn geschleudert werden« reicht aus, um uns zu überzeugen. Aber fälschlicherweise impliziert »geschleudert werden« das Einwirken einer Kraft. Kraft ist ein theoretisches Konstrukt, und die Mechanismen der Anziehung sind bisher nicht aufgeklärt. Aber mit der Annahme von Kraft und Gegenkraft kann man alle physikalischen Vorgänge der Welt exakt vorhersagen.

Warum sind solche abstrakten Konzepte so schwer zu verstehen? Oder andersherum: Warum sind andere Konzepte wie zum Beispiel »Lebewesen«, obwohl sie einen ebenso hohen Allgemeinheitsgrad haben, einfacher zu verstehen? Letztere können auf konkrete, sinnlich wahrnehmbare Ereignisse reduziert werden, wie z. B. meinen Hund Bello. Eine solche Reduktion auf eine Basiseinheit ist bei Begriffen wie Kraft, Trägheit oder Energie nicht möglich, da sie bereits die unterste Ebene, also die Letzterklärungen bilden. Sie können nicht mit einer Bedeutung versehen werden, indem sie auf konkrete Einheiten heruntergebrochen werden.

Das ist gerade auch in der Mathematik der Fall. Während man die Grundrechenarten mit natürlichen Zahlen noch auf konkrete Situationen (hinzufügen, wegnehmen, vermehren, aufteilen) reduzieren kann, wird bei Operationen mit rationalen Zahlen der Bezug zur realen Welt mühsamer. Zwar kann man Brüche als Teil eines Ganzen verstehen, aber spätestens wenn es um die Multiplikation oder Division mit nicht-natürlichen Zahlen geht, stösst man an Grenzen. Dass nicht jede Multiplikation zu einer Vergrößerung und jede Division zu einer Verkleinerung einer Menge führt, zeigt sich bei Zahlen <1. Negative Zahlen kann man noch als Schulden verstehen, aber dass die Multiplikation zweier negativer Zahlen eine positive Zahl ergibt, lässt sich nur noch schwer in realen Situationen abbilden. Versuche, dies mit dem Weggeben von Schuldscheinen zu veranschaulichen, helfen bestenfalls partiell, da sie bei Division bzw. Dezimal- und Bruchzahlen nicht mehr stimmig sind.

Innermathematische Erklärungen sind sehr viel konsistenter, wenn auch abstrakter. So lässt sich beispielsweise mit dem Distributivgesetz zeigen, dass es keine Alternative gibt zur Annahme, dass das Ergebnis der Multiplikation zweier negativer Zahlen eine positive Zahl sein muss. Auch dass man durch 0 nicht teilen darf, lässt sich nicht aus der Veranschaulichung von Handlungen ableiten. Versteht man teilen als das Zerkleinern von Einheiten, sollte die Einheit erhalten werden, wenn 0-mal geteilt wird. 6 : 0 sollte also 6 ergeben, was aber der inversen Beziehung zwischen Multiplikation und Division widersprechen würde, da 6 × 0 nicht 6, sondern 0 ergibt.

An anderer Stelle (Stern, 1998) wurde ausgiebig diskutiert, wie man schon in der Grund- und Primarschule durch einseitige Fokussierung auf eine lebensweltliche Veranschaulichung Barrieren aufbaut, die ein genuin mathematisches Verständnis erschweren. Insbesondere mathematische Textaufgaben zur Multiplikation und zur Division in der Grund- bzw. Primarschule können den Grundstein für ein erweitertes Verständnis legen, wie es für Bruch- und Prozentrechnung, spätestens aber für Algebra benötigt wird.

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