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3 Literatur I: VolksliederVolkVolkslied und MutterspracheMuttersprache/mother tongue (Herder Herder, Johann Gottfried)

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Eine Vorstellung, die besonders viele politischePolitik/politicspolitisch/political Einsätze mit Blick auf literarische SprachvielfaltSprachvielfalt motiviert, ist diejenige der MutterspracheMuttersprache/mother tongue. Wir haben bereits gesehen, dass in vielen Bereichen der LinguistikLinguistik zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Einsicht in die unhintergehbare Komplexität des jederzeit wandelbaren, sich selbst stabilisierenden Geschehens ‚Sprache‘ zwar zur Verabschiedung der organologischen Modelle der vormaligen historischenhistorisch Sprachwissenschaft führte, nicht aber zur Verabschiedung des Narrativs der MutterspracheMuttersprache/mother tongue. Im Gegenteil: Die MutterspracheMuttersprache/mother tongue ist der feste Grund, auf den sich die languelangue-Linguistik problemlos beziehen zu können glaubt – gleich, ob dies durch die Beobachtung von Sprecherinnen oder durch die Introspektion muttersprachlicher Linguisten selbst geschieht. Im Muttersprachler glaubt man bis heute – und das gilt nicht nur für viele Richtungen der Linguistik, sondern vor allem auch für das Alltagsverständnis – Sprachen als unproblematisch zu bezeichnende und wohlunterschiedene Einheiten dingfest machen zu können. Ich möchte anhand meines ersten Beispiels die literarischen Anfänge dieser Argumentationsfigur in den Blick nehmen und widme mich daher – wenn auch nur in einer arg verkürzten Skizze – Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried.

Bereits in HerdersHerder, Johann Gottfried frühen SchriftenSchrift, genauer: in den Fragmenten Über die neuere deutscheDeutschlanddeutsch Literatur von 1767/68, geschrieben in Riga, findet sich eine mustergültige Formulierung zum Zusammenhang von MutterspracheMuttersprache/mother tongue und Literatur, die auf SprachvielfaltSprachvielfalt und Sprachentwicklung bezogen werden kann.1 Herder postuliert, dass Originalliteratur nur in der MutterspracheMuttersprache/mother tongue geschrieben werden könne:

[W]enn in der Poesie der Gedanke und Ausdruck so fest an einander kleben: so muß ich ohne Zweifel in der Sprache dichten, wo ich das meiste Ansehen, und Gewalt über die Worte, die größeste Känntnis derselben, oder wenigstens eine Gewißheit habe, daß meine Dreustigkeit noch nicht Gesetzlosigkeit werde: und ohne Zweifel ist dies die MutterspracheMuttersprache/mother tongue. (HerderHerder, Johann Gottfried 1767: 407)

Auf den ersten Blick scheint HerderHerder, Johann Gottfried hier die MutterspracheMuttersprache/mother tongue genau im Sinne der languelangue-LinguistikLinguistik zu bestimmen, und David Martyn hat dementsprechend einen Großteil seines Arguments über die Entstehung der modernen EinsprachigkeitEinsprachigkeit auf dieser Passage aufgebaut (Martyn 2014). In der Muttersprachlerin scheint die MutterspracheMuttersprache/mother tongue inkarniert, und in ihr sind für ihn wiederum „Gedanke und Ausdruck“ ununterscheidbar. Allerdings ist die MutterspracheMuttersprache/mother tongue für Herder eben nicht ein feststehendes Regelwerk, sondern vielmehr Garant sprachlicher Kreativität. Es geht ihm ja gerade um die Beförderung von OriginalitätOriginalität. Weil aber die Originalität des Denkens in Herders Augen von der Besonderheit des Ausdrucks abhängt, ja, mit ihr identisch ist, muss man bei der Produktion origineller poetischerPoetik/poeticspoetisch Werke dasjenige sprachliche MediumMedienMedium nutzen, das als einziges unmittelbar an die KognitionKognition gebunden ist, also die MutterspracheMuttersprache/mother tongue.

So schlüssig dies auch klingt, so ist es doch wichtig zu registrieren, welche Denkmöglichkeit HerdersHerder, Johann Gottfried Überlegungen ausschließen. Denn es liegt auf der Hand, dass literarische OriginalitätOriginalität prinzipiell im Rückgriff auf alle möglichen Arten von SprachvielfaltSprachvielfalt erreicht werden könnte, ohne die Beschränkung auf die eine MutterspracheMuttersprache/mother tongue. Dies läge im Grunde in der Konsequenz der OriginalitätsästhetikOriginalitätOriginalitätsästhetik und des Innovationszwangs der modernen Literatur, die immer von „Dreustigkeit“ getrieben sein muss. Herder lässt das aber nicht gelten, und zwar, weil diese Dreistigkeit in „Gesetzlosigkeit“ münden könnte. Es ist, so gesehen, das paradoxe Bestreben, zugleich innovativ und in der Tradition verhaftet zu sein, vor dessen Hintergrund Herder die MutterspracheMuttersprache/mother tongue als festen Grund beschwört. Gerade weil es der „neueren deutschenDeutschlanddeutsch Literatur“ auf Originalität ankommt, weil sie im Kern eine Form der sprachlichen Kreativität und „Dreustigkeit“ ist, weil sie also Sprachentwicklung und damit Sprachvielfalt befördert, sieht sich Herder, will er „Gesetzlosigkeit“ vermeiden, dazu gezwungen, die erlaubten Mittel zu ihrer Erzeugung einzuschränken.

HerdersHerder, Johann Gottfried Streben nach OriginalitätOriginalität gründet in der wohlwollenden Einsicht in die Eigendynamiken der Moderne, die nach neuen (literarischen) Mitteln verlangt; es ist insofern in einem ganz grundlegenden Sinne politischPolitik/politicspolitisch/political. In anderen Zusammenhängen, z. B. in seiner 1778/79 veröffentlichten VolksliedersammlungVolkVolkslied, hat Herder durchaus auch auf anderssprachigeanderssprachig poetischePoetik/poeticspoetisch Formen und Quellen als MediumMedienMedium der Erneuerung zurückgegriffen.2 Größtenteils im MediumMedienMedium der ÜbersetzungÜbersetzung/translation präsentiert er hier bekanntlich liedförmige Texte aus sehr unterschiedlichen Kontexten und Zeiten, denen aber gemeinsam ist, dass sie Originale sein sollen in dem Sinne, den Herder dem Wort zuvor sowohl in seinen Überlegungen zur Ode als auch in seinem Ossian-Briefwechsel gegeben hatte: So wie die antiken Oden Herder zufolge an der Grenze von Natur- und Sprachlaut arbeiten, dem SprachmaterialSprachmaterial also seine Ausdrucksfähigkeit erst abgewinnen, erschließen die Herder’schen VolksliederVolkVolkslied neue Formen des sprachlichen Ausdrucks; sie sind sprachschöpferisch und können gerade deshalb einer neuen Zeit dienlich sein. Die unterstellte Nähe zum VolkVolk ist nur bedingt in einem modernen nationalenNationnational Sinne zu verstehen, und die „neuere deutscheDeutschlanddeutsch Literatur“, der die VolksliedersammlungVolkVolkslied sich zurechnet, ist auch im alten Sinne des Wortes ‚deutschDeutschlanddeutsch‘, also ‚vom Volk‘, indem sie dessen undisziplinierte Energie kanalisiert – in ein allerdings zumindest auf der Oberfläche einsprachiges MediumMedienMedium.

Anders als viele anschließende Projekte – darauf komme ich gleich zurück – ist HerdersHerder, Johann Gottfried VolksliedersammlungVolkVolkslied daher nur bedingt ein Instrument der Nationenbildung. Es geht natürlich um Anschluss an die Tradition, sowohl mit Blick auf deutscheDeutschlanddeutsch Kultur als auch mit Blick auf das Gedächtnis der Menschheit. Politisch ist die Sammlung aber auch und vor allem als Instrument der sprachlichen Erneuerung. Explizit betont dies das Schlusswort der Sammlung, das nicht nur die Offenheit der Sammlung für Ergänzungen hervorhebt, sondern eine produktive Rezeption auch jenseits des Sammelns in Aussicht stellt. Herder rät seinem Leser, die LiederLied nicht „in Einem Atem fortzulesen, damit er das Buch abtue und justifiziere“, auch nicht „sich schwindelnd aus Völkern in Völker [zu] werfen“, also aus ethnologischemethnologisch Interesse zu lesen, sondern „jedes Stück an seiner Stelle und Ort [zu] betrachten“ (Herder 1778/79: 427). Damit ist nicht zuletzt der durch die Sammlung, durch den Druck selbst gegebene Zusammenhang gemeint.3 Die Sammlung stilisiert sich als zeitgemäßerZeitgemäßheitzeitgemäß Rahmen, als Anordnung, die den einzelnen Texten hier und jetzt Bedeutsamkeit gibt. Die Herder’schen VolksliederVolkVolkslied sind in emphatischem Sinne Gegenwartsliteratur, ja, sie sollen die Erneuerung der Poesie katalysieren. Er könne, so Herder, „sehr beredt sein, wenn ich von dem Nutzen schwätzen wollte, den manche verdorrte Zweige unsrer Poesie aus diesen unansehnlichen Tautropfen fremderFremdheitfremd Himmelswolken ziehen könnten. Ich überlasse dies aber dem Leser“ (Herder 1778/79: 427). Da schon die Einleitung zum zweiten Teil der Sammlung die gegebenen LiederLied als „Materialien zur Dichtkunst“ (Herder 1778/79: 245) ausweist, darf man hierin eine Aufforderung zur Fortsetzung sehen, aber nicht nur zur Sammlung weiterer Materialien, sondern auch zur Produktion zeitgenössischer Originaldichtung. Es ist den Rezipienten aufgegeben, eine populäre Form der lyrischen Dichtung zu entwickeln, die tatsächlich ‚lebendig‘, das heißt, zukunftsfähig ist.

Es ist diese abschließende Geste, die HerdersHerder, Johann Gottfried Vorhaben auf die Spitze treibt und am deutlichsten demonstriert, worum es ihm bei der Sammlung der VolksliederVolkVolkslied geht: Sicherlich ist er auch auf der Suche nach volkstümlicher OriginalitätOriginalität im Interesse eines anthropologischenAnthropologieanthropologisch UniversalismusUniversalitätUniversalismus/universalisme, wie es Herders doppeldeutiger Begriff von ‚VolkVolk‘ nahelegt. Sicherlich dient die Besinnung auf Ursprünglichkeit auch dem Streben nach einer neuen Ganzheitlichkeit der menschlichen Existenz. Und sicherlich geht es auch um die Stiftung einer „Zusammenstimmung“, wie Gaier formuliert (1990: 879). Allerdings ist diese Harmonisierung nicht im Sinne von Folklore gemeint, und sie ist auch weniger bewahrend orientiert als avantgardistisch. Herder will die Konstitution einer neuen Gattung initiieren, die er VolksliedVolkVolkslied nennt und der ‚lyrischen Dichtung‘ zuordnet. Diese Gattung soll sich durch Modulation fortschreiben, sie soll ein großes nationalesNationnational und internationales Publikum erreichen, in diesem modernen Sinne populär sein – und im MediumMedienMedium des Drucks ermöglichen, was die alte Volksdichtung im MediumMedienMedium der MündlichkeitMündlichkeit ermöglicht hat.4 Von hier aus lässt sich auch Herders Wertschätzung originaler Poesie im historischenhistorisch Sinne verstehen. Denn OriginalitätOriginalität, ob sie nun alt oder neu ist, muss letztlich immer als Folge der unvorhersehbaren modulierenden Veränderung überkommener Formen verstanden werden.

HerderHerder, Johann Gottfried hat den Zeitpunkt der Publikation seiner VolksliedersammlungVolkVolkslied lange herausgezögert – aus unterschiedlichen Gründen, aber unter anderem auch deshalb, weil er daran zweifelte, die Zeit sei bereit für sie. Und offenkundig dienen die Anordnung und der Rahmen, die Herder seiner Sammlung gibt, auch zur Einhegung jener potenzierten Gefahr der Fehlwirkung, der sich, wie eingangs ausgeführt, jede literarisch-politischePolitik/politicspolitisch/political Intervention aussetzt. Vor diesem Hintergrund ließe sich fragen, inwiefern die Gesetzestreue, der sich die Herder’sche Muttersprachensemantik verschreibt und die auch im Einsprachigkeitsprinzip der VolksliedersammlungVolkVolkslied zum Ausdruck kommt, vielleicht weniger aus Überzeugung denn aus Wirkungskalkül gesucht wird. Herder ist womöglich weniger der ‚Erfinder‘ der modernen Muttersprachlichkeitssemantik,5 als dass er die literarische OriginalitätsästhetikOriginalitätOriginalitätsästhetik schlicht besonders geschickt an sprachpolitischeSprachpolitiksprachpolitisch Tatsachen angepasst hat. Immerhin lassen sich auch jenseits der Muttersprachensemantik starke evolutionäre Kräfte benennen, welche die moderne EinsprachigkeitEinsprachigkeit begünstigt haben – der durch den BuchdruckBuchdruck ausgelöste StandardisierungsdruckStandardStandardisierung ist eine davon. Wie dem auch sei, klar ist, dass für Herder eine Literatur, die zeitgemäßZeitgemäßheitzeitgemäß sein und auf GegenwartGegenwart wirken will, an der Diversifizierung der sprachlichen Mittel arbeiten muss. Vielleicht ist die programmatische EinsprachigkeitEinsprachigkeit der Literatur, wie Herder sie ins Auge fasst, nur ein politischerPolitik/politicspolitisch/political Trick, der es ermöglicht, überhaupt SprachvielfaltSprachvielfalt zur Entfaltung kommen zu lassen.

Mehrsprachigkeit und das Politische

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