Читать книгу Mehrsprachigkeit und das Politische - Группа авторов - Страница 22

Оглавление

2 Soziokulturelle und sprachliche Rahmenbedingungen der analysierten Werke

Für den vorliegenden Beitrag wurden drei Werke der deutschbaltischenDeutschbaltendeutschbaltisch Literatur ausgewählt, die Informationen zu den früheren Sprachsituationen in den Gebieten des heutigen EstlandsEstland/Estonia liefern – Mein Onkel Hermann von Monika HunniusHunnius, Monika (1921), Briefe eines baltischenBaltikumBaltisch Idealisten von Georg Julius von Schultz-BertramSchultz-Bertram, Georg Julius von (1934) und Der Henker von Edzard SchaperSchaper, Edzard (1940). Obwohl alle drei analysierten Werke in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen sind, deckt die Handlungszeit sowie die Schreibzeit der Werke mehr als ein Jahrhundert ab. Die kulturellen Rahmenbedingungen und die jeweilige politischePolitik/politicspolitisch/political Lage, wie auch die aktuell gültigen Sprachsituationen und -hierarchien1 während des Schreibens und der dargestellten Handlung waren somit bei allen Werken verschieden.

2.1 Georg Julius von Schultz-BertramSchultz-Bertram, Georg Julius von und die Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts

Die im Jahre 1934 in Leipzig erschienenen Briefe eines baltischenBaltikumBaltisch Idealisten wurden erst Jahrzehnte nach dem Tod des Autors von Johannes WernerWerner, Johannes herausgegeben. Das Werk enthält die Briefe des Schriftstellers, Arztes, Ethnologen und Journalisten Georg Julius von Schultz-BertramSchultz-Bertram, Georg Julius von (1808 Tallinn [damals Reval] – 1875 Wien). Die in der Sammlung publizierten privaten Briefe Schultz-Bertrams an seine Mutter und seinen engen Freundeskreis stammen aus den Jahren 1833–1875.

Die Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts war sowohl politischPolitik/politicspolitisch/political als auch kulturell turbulent. Wie vielerorts in Mittel- und OsteuropaOsteuropa kam es in der estnischsprachigen Bevölkerung zu einem Erwachen des Nationalgefühls, wobei die deutschbaltischeDeutschbaltendeutschbaltisch MinderheitMinderheit anfangs eine unterstützende Rolle spielte. EstlandEstland/Estonia gehörte seit Anfang des 18. Jahrhunderts zum russischenRusslandrussisch Zarenreich, aber die DeutschbaltenDeutschbalten hatten ständische Sonderrechte und baltische Provinzen genossen eine politischePolitik/politicspolitisch/political Autonomie. Für die sprachliche Situation bedeutete diese Zeit einen etwas stärkeren Kontakt zur russischenRusslandrussisch Sprache, aber DeutschDeutschlandDeutsch als Sprache der Verwaltung, höherer Bildung und Wissenschaft blieb an erster Stelle der Sprachhierarchie und die ständische Teilung der Sprachen – DeutschDeutschlandDeutsch als Sprache der Oberschicht und oberen Mittelschicht und EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian als Sprache der unteren Bevölkerungsschicht – blieb bestehen (vgl. Hennoste 1997: 55).

Schultz-BertramSchultz-Bertram, Georg Julius von gehörte zu den estophilen DeutschbaltenDeutschbalten, die der Idee von Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried folgten, dass die Trennung zwischen ‚barbarischen‘ und ‚kultivierten‘ Völkern aufgehoben gehört. Er nahm aktiv an den Diskussionen über die Stellung der estnischenEstland/Estoniaestnisch Sprache und Kultur teil (vgl. Saagpakk 2015: 106) und befürwortete, dass die Esten „auf dem natürlichen Entwickelungsgange aus sich selbst einem erhöhten Selbstbewußtsein, einem nationalenNationnational Gefühl und dadurch einer höheren Bildung“ entgegengeführt werden sollten (Schultz 1860: 433). Während seiner Lebenszeit übernahmen nationaleNationnational Aktivisten estnischer Herkunft selbst die Entwicklung der estnischenEstland/Estoniaestnisch Kultur und nahmen diese damit den DeutschbaltenDeutschbalten aus der Hand.

2.2 Monika HunniusHunnius, Monika und ihr Rückblick auf EstlandEstland/Estonia in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Der autobiographischeBiographiebiographisch Roman Mein Onkel Hermann von Monika HunniusHunnius, Monika erschien im Jahre 1921 in Heilbronn. Die Schriftstellerin, Sängerin und Gesangslehrerin Monika Adele Elisabeth Hunnius (1858 Riga – 1934 Riga) lebte ihre ersten zehn Lebensjahre in EstlandEstland/Estonia. Danach war sie vor allem in Riga ansässig, wo sie auch den Ersten WeltkriegWeltkriegErster Weltkrieg erlebte. Eine kurze Periode verbrachte sie danach in DeutschlandDeutschland (vgl. Bender/Peekmann 2019: 46), während der sie zu schreiben begann und der analysierte Roman erschien.

Im Roman erinnert sie sich an die Sommer ihrer Jugendzeit in Paide (Weißenstein) bei Carl Hermann HesseHesse, Carl Hermann, mit dem sie verwandtschaftliche Verbindungen hatte. Im Geleitwort des Romans mit dem Untertitel Die Erinnerungen an Alt-EstlandEstland/Estonia schreibt Hermann HesseHesse, Hermann (das Enkelkind von Carl Hermann Hesse), dass „es alte Geschichten [sind], die dies Buch erzählt, sie geschahen in einer Welt, die nicht mehr ist“ (Hesse in Hunnius 1921:6). Tatsächlich waren zwischen der im Roman beschriebenen Periode und der Schreibzeit heftige Erschütterungen durch das Land gegangen – die RussifizierungRussifizierung am Ende des 19. Jahrhunderts, die Revolution von 1905 mit dem Niederbrennen von Gutshäusern, die Kriegszeit, Abschaffung der Gutshöfe sowie Stände und aller ständischen Institutionen nach der Gründung der Republik etc. Auch die Sprachsituation veränderte sich drastisch. Die DeutschbaltenDeutschbalten, die sich bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts primär an DeutschlandDeutschland orientiert hatten, fanden sich angesichts des verstärkten nationalenNationnational Selbstbewusstseins der Esten, der langen Isolation von DeutschlandDeutschland und der beginnenden RussifizierungRussifizierung in einer neuen Lage (vgl. Lukas 2006: 40; Plath 2011: 15). Infolge der Russifizierung verloren die bisher an erster Stelle der Sprachhierarchie gelegene deutscheDeutschlanddeutsch Sprache und die gerade erst einen gewissen Status gewonnene estnischeEstland/Estoniaestnisch Sprache an Bedeutung im öffentlichen Leben zugunsten des RussischenRusslandRussisch/Russian. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die DeutschbaltenDeutschbalten und Esten sich mit dieser offiziellen Hierarchie abfanden. Für die Deutschbalten blieb das DeutscheDeutschlandDeutsch an erster Stelle und für die Esten stieg das EstnischeEstland/EstoniaEstnisch/Estonian an die Spitze der Sprachhierarchie. So entstanden in der Gesellschaft drei unterschiedliche und konkurrierende Sprachhierarchien, die von unterschiedlichen Nationalitäten und sozialen Schichten getragen wurden (vgl. Hennoste 1997: 58).

Der Roman wurde nach der Gründung der Republik EstlandEstland/Estonia geschrieben. Die Abschaffung der Ständegesellschaft und die ‚Estnifizierung‘ bedingten eine neue Sprachsituation, in der sich der Status des EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian erhöhte. Diese gesellschaftlichen Umwälzungen beeinflussten die Autorin in ihrer Schreibweise, so dass sie ihre Jugendzeit als eine „verschwundene“ (Hunnius 1921: 8) und abgeschlossene Periode, ein „Idyll“ (ebd.) im sogenannten „Alt-EstlandEstland/Estonia“ sieht und diese samt der gesellschaftlichen Hierarchien und Sprachsituation entsprechend abbildet. Die Funktion des Textes besteht für die Autorin, aber auch für die vielen (heimatvertriebenen) Leser im NachkriegsdeutschlandDeutschland, im Jahre 1921 darin, sich in diese „ganze sonnige Welt, die man geliebt“ hatte, zurückzuretten (ebd.).

2.3 Edzard SchaperSchaper, Edzard und die gesellschaftlichen Umwälzungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Der Henker von Edzard SchaperSchaper, Edzard (1908 Ostrów [Ostrowo] – 1984 Bern) erschien im Jahre 1940 in Leipzig. Schaper ist ein Sonderfall der deutschbaltischenDeutschbaltendeutschbaltisch Literaturgeschichte. Obwohl er ein deutscherDeutschlanddeutsch Schriftsteller und Übersetzer war, der lediglich in den Jahren 1930–1940 in EstlandEstland/Estonia lebte, führten familiäre Beziehungen mit den DeutschbaltenDeutschbalten und die Faszination mit der Geschichte des Landes in mehreren Romanen zu einer tiefen literarischen Auseinandersetzung mit deutschbaltischenDeutschbaltendeutschbaltisch Themen.

Der Henker wurde am Vorabend des Zweiten WeltkriegesWeltkriegZweiter Weltkrieg geschrieben. Bis dahin wurden die Prozesse der sprachlichen und kulturellen Kräfteverschiebungen, die mit der Gründung der Republik angefangen hatten, weitergeführt. Mit dem Anfang des Kriegs veränderte sich die Situation grundlegend – die DeutschbaltenDeutschbalten wurden aus den baltischenBaltikumBaltisch Ländern umgesiedelt. Edzard SchaperSchaper, Edzard folgte der Aufforderung „Heim ins Reich“ nicht, sondern flüchtete 1940 nach Finnland, danach nach SchwedenSchweden und fand schließlich eine dauerhafte Bleibe in der SchweizSchweiz.

Die politischePolitik/politicspolitisch/political Situation spiegelte sich auch in Schapers literarischem Werk wider, in dem er sich überzeitlich mit den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts und mit der Verantwortung des Individuums dabei auseinandersetzte (vgl. Gierlich 2014: [5]). Dies trifft auch für Den Henker zu, in dem SchaperSchaper, Edzard die Revolution von 1905 auf dem heutigen Territorium EstlandsEstland/Estonia aus den Perspektiven der deutschbaltischenDeutschbaltendeutschbaltisch Adligen, der russischenRusslandrussisch Zentralmacht und der estnischenEstland/Estoniaestnisch Bauern betrachtet. In dieser Zeit lag an der Spitze der offiziellen Sprachhierarchie das RussischeRusslandRussisch/Russian, in der Gesellschaft war die Sprachsituation aber vielfältiger. Die Esten wurden in ihren Nationalbestrebungen immer selbstbewusster, ebenso war im Gegensatz zu früheren Perioden die Germanisierung nicht mehr eine Voraussetzung des Aufstiegs in der sozialen Hierarchie. Vielmehr wurden Bestrebungen als DeutscheDeutschlandDeutsche oder Russe zu erscheinen nun negativ beurteilt und solche Esten abwertend als HalbdeutscheDeutschlandHalbdeutsch1, und Halbrussen2 bezeichnet (Hennoste 1997: 58). Die Unzufriedenheit und die daraus resultierende revolutionäre Stimmung der Esten war für die DeutschbaltenDeutschbalten eine negative Überraschung. Um den Gründen dieser Entwicklungen nachzugehen, nimmt der Roman die gesamte Geschichte und das Selbstverständnis der DeutschbaltenDeutschbalten unter die Lupe. Im Roman geht es um einen deutschbaltischenDeutschbaltendeutschbaltisch Offizier Ovelacker in russischenRusslandrussisch Diensten, der die Revolution von 1905 im fiktivenFiktivitätfiktiv Ort Drostenholm brutal unterdrückt, später aber dorthin als Erbe des ermordeten Gutsherrn zurückkehrt. Spannung wird aufgebaut zwischen Ovelacker und einem Bauern, der in der Vergeltungsaktion gegen die Aufständischen zwei Söhne verloren hatte. Der dritte Sohn des Bauern wird nach Sibirien verbannt, der Kampf um seine Befreiung kristallisiert das Unrecht gegen die Esten durch die Deutschbalten. Lukas (2002) nennt den Roman in der estnischenEstland/Estoniaestnisch ÜbersetzungÜbersetzung/translation daher einen ,Versöhnungsroman‘, da die Schreibzeit des Romans – Ende der 1930er Jahre, als die Deutschbalten als zur MinderheitMinderheit degradierte einstige Machthaber – die nachdenkliche Stimmung des Werkes, das die Wendepunkte in den deutschbaltischDeutschbaltendeutschbaltisch-estnischenEstland/Estoniaestnisch Beziehungen aufdeckt, bedingte.

Mehrsprachigkeit und das Politische

Подняться наверх