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2 Gohar Markosjan-Käsper Markosjan-Käsper, Gohar als Autorin transkulturellerTranskulturalitättranskulturell Literatur

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Wenn wir über Literatur sprechen, die von Menschen mit MigrationshintergrundMigrant/inMigrationshintergrund geschaffen wurde, denken wir an die früheren Begriffe wie „Gastarbeiterliteratur“, „littérature des immigrations“, „littérature des Beurs“, „Black British Literature“ oder an jüngere Termini wie „HybriditätHybridität“, „transkulturelleTranskulturalitättranskulturell Literatur“ oder gar an „neue WeltliteraturWeltliteratur“ (Glesener 2016). Implizit wird dabei wohl an Literatur in den großen Weltsprachen gedacht. Viel weniger hat die globale Forschung ihre Aufmerksamkeit den kleineren Sprachen und Literaturen gewidmet. Es mag vielleicht überraschend sein, doch hat auch die Literatur in EstlandEstland/Estonia eine sehr lange Tradition des multikulturellen Schreibens, denn die estnischsprachige literarische Kultur nahm ihren Anfang im Kontaktfeld von mehreren Sprachen und Kulturen (Heero 2019: 144–146).

Neben der deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig (Lukas 2008: 23–32) hat auch die russischsprachige Literatur in EstlandEstland/Estonia (estn. vene kirjandus Eestis) eine lange Tradition. In der estnischenEstland/Estoniaestnisch Literaturgeschichtsschreibung wird ihr Beginn im Jahr 1918 angesetzt, das die Gründung der EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian Republik markiert. Die russischsprachige Literatur, die davor geschaffen wurde, zählt man im Allgemeinen zu der Literatur des RussischenRusslandRussisch/Russian Imperiums; bei diesen literarischen Texten ist kaum ein spezifischer EstlandEstland/Estonia-Bezug festzustellen (Belobrovtseva 2018: 102). Es sollte vermerkt werden, dass die Geschichte dieser Literatur eng mit der Geschichte der MigrationMigrant/inMigration aus RusslandRussland (später aus den Gebieten der SowjetunionSowjetunion) verbunden (ebd.: 110–118)1 und das Schaffen der russischenRusslandrussisch Literaten in EstlandEstland/Estonia oft den russischenRusslandrussisch Literaturtraditionen verpflichtet ist. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat man angefangen, diese Literatur als ein Beispiel des Schreibens zwischen den Sprachen und Kulturen zu kontextualisieren (ebd.: 119). Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohars Werk Helena, in dem die MigrationserfahrungMigrant/inMigrationserfahrung einer Frau in EstlandEstland/Estonia der 1980er und 1990er Jahren beschrieben wird, lässt sich daher als Beispiel transkulturellenTranskulturalitättranskulturell Schrifttums darstellen. Es soll dabei aber betont werden, dass die Geschehnisse dieses Romans aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers dargestellt werden. Die Heldin erscheint wie ein Untersuchungsobjekt, an dem ein Versuch durchgeführt wird, um die Frage zu beantworten, ob sie in einer neuen Kultur zurechtkommt oder nicht. Dieser Versuch wird von dem Erzähler genau beobachtet, (vergleichend) analysiert und teilweise humorvoll kommentiert.

Als transkulturelleTranskulturalitättranskulturell Literatur wird im Kontext dieser Studie im Allgemeinen das Schaffen der Autoren verstanden, die ihre Werke in einer Sprache verfassen, die nicht ihre MutterspracheMuttersprache/mother tongue ist und die die Erfahrung des kulturellen Anders-Seins reflektieren. In der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft wurden in den 1960er und 1970er Jahren solche Werke als „multi- oder interlinguale Literatur“ bezeichnet, mit der „literarisch ausgestalteten Identitätsproblematik“ als Hauptthema (Baumgärtel 1997: 54). Die Autoren wurden auf der Grundlage eines statischen Identitätskonzepts gerne als Personen dargestellt, die ständig auf der Suche nach ihrer IdentitätIdentität/identity sind und unter dem Leben in der FremdeFremdheitFremde leiden (Amodeo 1996: 42). Diese Thematik ist heute wohl nicht mehr ganz aktuell. Deshalb haben sich auch Begriffe wie Literatur der TranskulturalitätTranskulturalität oder sogar der Transdifferenz durchgesetzt. Diese überwinden die binären Grenzziehungen zwischen den Kulturen und implizieren die Tatsache, dass die zeitgenössischen Kulturen denkbar stark miteinander verbunden und verflochten sind. Präziser noch: Es geht um die wechselseitige Überlagerung von kulturellen Zugehörigkeiten innerhalb der sichtbaren Differenzen. Dabei wird die Differenz nicht aufgehoben, sondern das kulturelle Anderssein wird als etwas Positives hervorgehoben und bewusst gepflegt (Allolio-Näcke u.a. 2005: 27), auch wenn es manchmal von negativen Erfahrungen begleitet und zu Konfrontationen mit den Vertretern anderer Kulturen führen kann.

In der transkulturellenTranskulturalitättranskulturell Literatur werden diese Erfahrungen des Lebens zwischen zwei Kulturen oft thematisiert und es wird der Prozess der Aneignung einer neuen Kultur literarisch analysiert. Diese kulturelle Selbstfindung bzw. Selbstreflexion wird oft auf konkrete Orte bezogen, was auch mit der „Erfahrung des Unterwegsseins“ verbunden sein kann (Heero 2009: 208–209). Tallinn, die estnischeEstland/Estoniaestnisch Hauptstadt, erscheint in Helena anfangs kalt, anonym und einer typischen skandinavischenskandinavisch Großstadt ähnlich. Die Menschen, die dort leben, scheinen an ihrer GegenwartGegenwart zu leiden, sie sind ständig gehindert, ihre Träume oder ihren beruflichen Ehrgeiz auszuleben und gleichzeitig damit beschäftigt, ihren Alltag zu bewältigen (ebd.: 216–217). Auch Helena möchte in Tallinn als Heilmedizinerin praktizieren, kann es aber nicht, denn einerseits beherrscht sie die LandesspracheLandessprache nicht, andererseits gelingt es ihr nicht, in einer kulturell fremdenFremdheitfremd Umgebung ein soziales Netzwerk aufzubauen:

Tatsächlich musste sie mit drei bis vier Patienten im Monat zufrieden sein, und auch diese Zahl besaß die Tendenz, eher rückgängig als wachsend zu sein. Wenn man in ArmenienArmenien einen Menschen kuriert, schickt er zehn neue zu dir, er spricht mit allen darüber, lobt dich mehr als eine Werbeagentur, seine Verwandten, Freunde, Kollegen werden dann geradezu deine Tür einrennen […]. In EstlandEstland/Estonia konntest du eine Leiche auferstehen lassen, und keine Seele hat davon erfahren, die Leiche jedenfalls teilte den anderen diese Nachricht nicht mit, nach der Auferstehung aus dem Grab ging sie am nächsten Tag ruhig zur Arbeit und wenn jemand fragte, wie es ihr gelang, wieder aufzuerstehen, lächelte sie nur geheimnisvoll. (H, 123)

Doch mit der Zeit lernt sie die Schönheit der Tallinner Altstadt und der estnischenEstland/Estoniaestnisch Landschaften zu schätzen. Sie studiert gründlich die Verhaltensmuster von Esten in verschiedenen KommunikationssituationenKommunikation und dank dessen kann sie ihr eigenes Verhalten anpassen und Freundschaften schließen. Das Ende der SowjetunionSowjetunion jedoch und die damit verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen kann sie schwer verkraften (womit sie das Lebensgefühl von vielen Esten und estnischenEstland/Estoniaestnisch Russen teilt). Von ihrem Gatten, Olev, bekommt sie wenig moralische Unterstützung, und es scheint, dass mit dem Ausbruch der neuen Zeiten auch ihre Liebe erlöscht. Deshalb scheint es für sie logisch und natürlich, zurück zu den Wurzeln zu kehren und in Jerewan nochmals neu anzufangen.

Das Fremdsein als oft behandeltes Thema in der transkulturellenTranskulturalitättranskulturell Literatur kommt auch in Helena mehrmals zur Sprache. So muss Helena in EstlandEstland/Estonia anfangs wiederholt die Ablehnung der Mitbürger erfahren: „Helenas südländisches Aussehen und ihr kurzer Status als Einwohnerin Tallinns erweckten in ihnen kein Vertrauen“ (H, 116). Einmal wird Helena auch fremdenfeindlich beleidigt, indem ein junger Mann in der Warteschlange vordrängelt und ihr und ihrer Freundin „kalt und hochmütig“ sagt: „‚Wer hat denn euch hier eingeladen? Macht, dass ihr in eure Berge zurückgeht!‘“ (H, 7). Etliche Male werden auch kulturelle Vergleiche zwischen ArmenienArmenien und EstlandEstland/Estonia gezogen. So charakterisiert Helena von ihrem kulturellen Standpunkt aus gesehen die estnischenEstland/Estoniaestnisch Frauen als „blass, ausdruckslos, gar hässlich“ und wundert sich, wie diese so einfach einen Mann aus dem Westen finden (H, 81). An einer anderen Stelle beschreibt sie die Esten als „eisig“ und „formell“, sie „gingen im gleichmäßigen RhythmusRhythmus/rhythm, wedelten nicht mit Händen, doch ihre Langsamkeit kompensierten sie mit einem wilden Sprechtempo.“ (H, 72–73) Gleichzeitig bewundert sie das Selbstbewusstsein der Estinnen und die souveräne Art, mit der sie mit Beziehungen umgehen. Ganz bewusst versucht sie, mit ihren „armenischenArmenienarmenisch Vorurteilen“ (H, 82) zu kämpfen. Deshalb möchte Helena nicht nur als Zuschauerin dastehen, sondern sich am estnischenEstland/Estoniaestnisch Leben aktiv beteiligen und auch die estnischeEstland/Estoniaestnisch Sprache lernen. Diese Sprache entpuppt sich aber als schwierig. Des Weiteren entdeckt sie, dass es ihr zwar leicht fällt, etwa unter Kollegen neue Bekanntschaften zu finden, aber es ist für sie als eine eher verschlossene Person schwierig, wirklich tiefe und bedeutende Freundschaften zu schließen (H, 117). Deshalb bleibt sie bis zum Ende ihres Aufenthalts in Tallinn eher Außenseiterin, die das dortige Leben mit innerer Distanz betrachtet. Sie gibt zu, dass sie nach wie vor politischPolitik/politicspolitisch/political interessiert ist, doch betreffen sie die Ereignisse in ArmenienArmenien und RusslandRussland viel näher als die in EstlandEstland/Estonia (H, 105). Gleichzeitig erkennt und akzeptiert sie sowohl ihr kulturelles Anderssein als auch ihre kulturell hybrideHybriditäthybrid IdentitätIdentität/identity: Ihre MutterspracheMuttersprache/mother tongue ist armenischArmenienarmenisch, doch hat sie (wie auch Markosjan-KäsperMarkosjan-Käsper, Gohar selbst) eine russischeRusslandrussisch Schule besucht und empfindet deshalb RussischRusslandRussisch/Russian als die Sprache des intellektuellen Austausches und des Selbstausdrucks: „Wenn es notwendig war, Gedanken und Überlegungen zu verbalisieren, ging sie unbewusst zur russischenRusslandrussisch Sprache über“ (H, 106). Sie ist sich dessen bewusst, dass die Esten diese Sprache am Ende der sowjetischenSowjetunionsowjetisch/Soviet Okkupation als „die Sprache des Feinds“ empfinden, aber für sie ist RussischRusslandRussisch/Russian Sprechen wie ein „intellektueller Orgasmus“ (H, 107). Vor dem Hintergrund einer anderen Kultur versteht sie auch, dass sie Kosmopolitin ist, die sich für Opernmusik, klassische Literatur, russischesRusslandrussisch Theater und die Philosophie AsiensAsien interessiert. Also kann man behaupten, dass die Heldin nach einem anfänglichen Kulturschock wieder einen Weg zu sich selbst findet und ihr Wesen als Ausdruck eines transdifferenten Daseins akzeptiert.

Dieses Moment des Sich-Anerkennens als Träger von zweien oder mehreren Kulturtraditionen kommt auch in der deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig interkulturelleninterkulturell Literatur zur Sprache, Zafer ŞenocakSenocak, Zafer hat diese Empfindung wie folgt formuliert:

Denn seitdem ich DeutscherDeutschlandDeutsche bin, kümmere ich mich viel stärker um mein türkischesTürkeitürkisch Potential und habe aufgehört, darin einen Widerspruch zu sehen. Im Gegenteil: Die Bikulturalität ist ähnlich wie Bisexualität keine Perversion. Sie ist eine völlig legitime Verhaltens- und Lebensweise, von der eine Person nur profitieren kann, wenn sie nicht verstohlen und verschämt gelebt wird, sondern offensiv und selbstbewusst. (ŞenocakŞenocak, Zafer 2011: 90–91)

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