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2 MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit in der Literatur

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BaltischeBaltikumBaltisch Literaten waren bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fast immer mindestens zweisprachigZweisprachigkeitzweisprachig, ungachtet ihrer nationalenNationnational oder ethnischenEthnieethnisch Herkunft. Ihre BildungsspracheBildungssprache war in der Regel DeutschDeutschlandDeutsch, außerdem verstanden bzw. sprachen sie, lebten sie im nördlichen Teil LivlandsLivland oder in EstlandEstland/Estonia, meistens mehr oder weniger gut Süd- oder Nordestnisch, im lettischsprachigen Teil des BaltikumsBaltikum LettischLettland/LatviaLettisch/Latvian oder LettgallischLettgallisch, mitunter konnten sie sich auch einer dieser Sprachen schriftlichSchriftschriftlich bedienen. Ihr lokales, tägliches DeutschDeutschlandDeutsch stand unter dem Einfluss dieser Sprachen bzw. deren MundartenDialekt/Mundart. MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, die Fähigkeit, sich sowohl schriftlichSchriftschriftlich als auch mündlichMündlichkeitmündlich verschiedener Sprachen zu bedienen, war ein wichtiger Charakterzug dieses Kulturraumes. Selbstverständlich kommt dies auch in der Literatur zum Ausdruck.

Im Folgenden werde ich einige Beispiele für den Gebrauch der MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit in der Literatur des BaltikumsBaltikum anführen. Ich gehe dabei von der von Jaan Undusk im Jahre 1992 entworfenen, immer noch durchaus aktuellen Typologie des estnisch-deutschenDeutschlanddeutsch LiteraturtransfersLiteraturtransfer (Undusk 1992) aus, die zwischen Formen verschiedenster Kontakte literarischer Art unterscheidet. Mich interessieren an dieser Stelle jedoch lediglich die Kontakte, die sich mit dem Phänomen der ExophonieExophonie (oder ZweisprachigkeitZweisprachigkeit im weiteren Sinne) in Verbindung bringen lassen. Es lässt sich zwischen einer sprachinternen, textinternen und autorinternen Zweisprachigkeit unterscheiden.

2.1 Mit sprachinterner Zweiprachigkeit meine ich Texte, die in einer MischspracheMischsprache entstanden sind. Der deutschbaltischeDeutschbaltendeutschbaltisch DialektDialekt/Mundart ist selbst schon gewissermassen eine solche Mischsprache, in die estnischeEstland/Estoniaestnisch bzw. lettischeLettland/Latvialettisch, russischeRusslandrussisch oder französische Wörter eingebettet sind.

Ein frühes Beispiel ist ein kleines Fragment aus dem Gedicht „Lieffländische Schneegräfin“ (FlemingFleming, Paul 1638) von Paul Fleming (1609–1640), wo HochdeutschDeutschlandHochdeutsch, NiederdeutschDeutschlandNiederdeutsch und EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian sich mischen

Die Braut/bald rot/bald blaß, fing endlich an zu reden:

„Wat schal ich arme Kind? Gott weht, wat sy my theden!“

Das ander/Ycks /Kacks /Koll1 hub sie auff Undeutsch an,

Das ich noch nicht versteh’, und auch kein Gott nicht kan.

Literarische Texte im deutschbaltischenDeutschbaltendeutschbaltisch DialektDialekt/Mundart wurden jedoch selten verfasst, in der Regel geschah dies nur in ‚niedrigen‘ Literaturgattungen, wobei das DeutschbaltischeDeutschbaltenDeutschbaltisch die Funktion von Parodie, Ironie oder Witz innehatte. Das DeutschbaltischeDeutschbaltenDeutschbaltisch (mit all seinen Jargons) wurde dem Bereich des Komischen zugeordnet und kam am systematischsten zum Einsatz in der sogenannten halbdeutschDeutschlandHalbdeutschsprachigen Dichtung — in der makkaronischenmakkaronisch Dichtung2 des BaltikumsBaltikum vor allem des 19. Jahrhunderts. In dieser Gattung werden zwei Sprachen zur Erzielung eines komischen oder parodistischen Effektes vermischt, indem Morphologie und Syntax der deutschenDeutschlanddeutsch Sprache auf den Wortschatz des EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian bzw. des LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian übertragen werden, wobei die Phonologie dem EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian angepasst wird, z.B. werden die stimmhaften Konsonanten durch die stimmlosen und Doppelkonsonanten durch einen Konsonant ersetzt, das h weggelassen usw. (Über die Merkmale des HalbdeutschenDeutschlandHalbdeutsch siehe Ariste 1981).

Die Oberpahlsche Freundschaft (1818/1857) des Tallinners Jacob Johann MalmMalm, Jacob Johann (1796–1762) ist das erste und bekannteste, geradezu wegweisende Gedicht dieser Gattung gewesen (siehe dazu Lehiste 1965).

Vart’, tenkt’ ich mal in meine Sinn,

Willst wahren toch heinmal

Su Wreind nach Oberpalen in!

Und ging nu in tas Tall3

Und nehmt tas Wuchs mit lange Wanz

Und pannt tas wor tas Saan4;

Tann nehmt’ ich meine Mütz und Ans

Und wangt’ su jagen an;

Und nu katsait turch Tuchk und Tolm’5

Ich tuhhat neljad6 wort.

Und wie tas Wind war üks, kaks, kolm7

Ich an tas Tell und Ort.

Vart’, tenkt ich, willst toch machen Paß

Mit oberpalse Wreind!

Tu willst ihm trehen lange Nas’;

Laß sehn, was tas toch meint!

(MalmMalm, Jacob Johann 1861: 3)

Auch in der estnischenEstland/Estoniaestnisch Literatur ist dieser Typus bekannt. Ein DialogDialog aus der Erzählung Veli Henn (1901) von August KitzbergKitzberg, August (1863–1955, Kitzberg 2002: 271) klingt wie folgt:

Kniks-Mariihen: „Bitte,“ ütles Mariihen. „Astuge aita, sääl on toolisid, ja võite ennast natuke erhoolida.“

„Herr Lehepuu, üks väga peenike kawalier, – herr Birkenbaum, minu Freundini Bräutigam, – herr Sissa, minu Tänzer, kui Vereinis ball oli, – herr Enilane, ka üks hää Tänzer…“

Anders als bei MalmMalm, Jacob Johann ist hier die syntaktische und grammatikalischeGrammatikgrammatikalisch Basissprache EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian, in das deutscheDeutschlanddeutsch Wörter oder Ausdrücke eingebettet und grammatischGrammatikgrammatisch angepasst sind. Jedes zweite Wort in der Rede von Kniks-Mariihen ist deutschDeutschlanddeutsch: Bitte, erhoolida (erholen), Herr, Kawalier, Freundin, Bräutigam, Tänzer, Verein, Ball.

Ungeachtet der Basissprache wird in dieser Dichtung ein bestimmter sozialer Typus dargestellt, ein ‚Emporkömmling‘ meistens estnischer bzw. lettischerLettland/Latvialettisch Abstammung oder aber auch ein sozial heruntergekommener DeutscherDeutschlandDeutsche (ein sogenannter Klein-DeutscherDeutschlandDeutsche), der seine IdentitätIdentität/identity aufgegeben hat oder seine Position in der Gesellschaft ändern möchte und seine (vermeintliche) Bildung gern hervorkehrt. Dabei kann er z.B. ‚gehobene‘ deutschDeutschlanddeutsch- oder französischsprachige Sätze verwenden. Vahur Aabrams (Aabrams 2007) hat die halbdeutschsprachigeDeutschlandHalbdeutsch Dichtung als Erscheinung einer karnevalesken Kultur im Sinne von Michail BachtinBachtin, Michail interpretiert.

2.2 Unter textinterner ZweisprachigkeitZweisprachigkeit verstehe ich die Verwendung zweier Sprachen in einem Text, ohne Morphologie und Syntax einer Sprache an die Ziel- oder Basissprache anzupassen. Abrupt wird von einer Sprache in die andere übergegangen, wobei die Sprachen eine bestimmte kulturelle Funktion im Text haben. Diese Art von MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit nahm ihren Anfang mit kirchlichen Texten im 16. Jahrhundert und war noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im BaltikumBaltikum gebräuchlich. Ein früheres, charakteristisches Beispiel sind die hauptsächlich estnischsprachigen Predigten (1600–1608) des Tallinner Pastors Georg MüllerMüller, Georg (1570–1608), in denen deutscheDeutschlanddeutsch und lateinischeLateinLateinisch Passagen verwendet werden. Aus späterer Zeit könnte man das Stück Die väterliche Erwartung, eine ländliche Familien Scene in Esthland, mit Untermischten Gesängen (1789) von August von KotzebueKotzebue, August von (1761–1819) hervorheben, das auf der Bühne des Revaler Liebhabertheaters uraufgeführt wurde. Der dritte Akt des Stückes beginnt mit einem estnischsprachigen DialogDialog und die ganze Parallelhandlung findet auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian statt.

Textbeispiele für texinternen Bilinguismus aus dem 19. Jahrhundert sind etwa der zweisprachigeZweisprachigkeitzweisprachig Briefwechsel von Lydia KoidulaKoidula, Lydia (1843–1886), der ersten estnischenEstland/Estoniaestnisch Lyrikerin, und Friedrich Reinhold KreutzwaldKreutzwald, Friedrich Reinhold (1817–1903), dem Verfasser des estnischenEstland/Estoniaestnisch Nationalepos Kalevipoeg (Kalews Sohn).

2.3 Mit autorinternem Bilinguismus ist die Beteiligung eines Autors an zwei Literaturen gemeint, wie das etwa bei der Gelegenheitsdichtung des 17. Jahrhunderts nicht selten der Fall war. Der Autor schreibt in mehreren Sprachen, indem er seine SchriftspracheSchriftSchriftsprache entsprechend der Funktion, Gattung, dem Stil und Adressaten des Textes wählt, aber in einem Text durchgehend eine Sprache verwendet. Das allererste estnischsprachige Gedicht wurde im Jahre 1637 von dem gebürtigen Mecklenburger Reiner BrockmannBrockmann, Reiner (1609–1647), dem Professor des Revaler Gymnasiums, einem Freund von Paul FlemingFleming, Paul verfasst und trug den lateinischenLateinLateinisch Titel Carmen alexandrinum esthonicum ad leges Opitij poeticas compositum. Wie in der Barockdichtung üblich, hat Brockmann in mehreren Sprachen, u.a. auch auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian, gedichtet. Sein Plädoyer für die estnischeEstland/Estoniaestnisch Sprache auf DeutschDeutschlandDeutsch klingt wie folgt:

Andre mögn ein anders treiben;

Ich hab wollen Esthnisch schreiben.

Esthnisch redet man im Lande/

Esthnisch redet man am Strande

Esthnisch redt man in der Mauren

Esthnisch redden auch die Bauren

Esthnisch redden Edelleute

Die Gelährten gleichfalls heute

Esthnisch redden auch die Damen

Esthnisch, die aus Teutschland kamen,

Esthnisch reden jung’ und alte.

Sieh, was man von Esthnisch halte?

Esthnisch man in Kirchen höret

Da Gott selber Esthnisch lehret.

Auch die klugen Pierinnen

Jetzt das Esthnisch lieb gewinnen.

Ich hab wollen Esthnisch schreiben

Andre mögn ein andres treiben.

(BrockmannBrockmann, Reiner 2000: 94–95.)

Die Landprediger Gotthard Friedrich StenderStender, Gotthard Friedrich (1714–1796) und Johann Wilhelm Ludwig LuceLuce, Johann Wilhelm Ludwig (1756–1842) haben ihre aufklärerischen SchriftenSchrift auf DeutschDeutschlandDeutsch, ihre volksaufklärerischenVolkvolksaufklärerisch Werke auf LettischLettland/LatviaLettisch/Latvian bzw. EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian verfasst; der Dichter Kristian Jaak PetersonPeterson, Kristian Jaak (1801–1822) hat seine Arbeiten zur Sprache und Religion auf DeutschDeutschlandDeutsch geschrieben, sein dichterisches Werk ist aber in estnischer Sprache verfasst (mit Ausnahme von einigen deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig Gedichten). Der Este (bzw. der estnischstämmige) Friedrich Robert FaehlmannFaehlmann, Friedrich Robert (1798–1850) verfasste seine berühmten EstnischenEstland/EstoniaEstnisch/Estonian Sagen auf DeutschDeutschlandDeutsch, der DeutscheDeutschlandDeutsche (bzw. der deutschstämmige) Georg Julius von Schultz-BertramSchultz-Bertram, Georg Julius von (1808–1875) wiederum sein Epos Ilmatar (1870) auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian. Das estnischeEstland/Estoniaestnisch Nationalepos Kalevipoeg (unter dem Titel: Kalewipoeg. Eine estnischeEstland/Estoniaestnisch Sage, 1857–1861) erschien zum ersten Mal parallel auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian und DeutschDeutschlandDeutsch. Die Wahl der SchriftspracheSchriftSchriftsprache war meistens abhängig von der angestrebten Funktion des Textes und von dessen Adressaten (Undusk 1999). Auch in gelehrten Kreisen des beginnenden 20. Jahrhunderts kam es noch vor, dass man die Sprache nach der Funktion und Gattung des Textes und nach dem Adressaten wechselte. Zum Beispiel dichtete Axel KallasKallas, Axel (1890–1922) sowohl auf DeutschDeutschlandDeutsch als auch auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian. Im Jahre 1912 veröffentlichte er seinen deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig Lyrikband Am Moor (Dorpat 1912); im Jahre 1920 erschien noch ein deutschsprachigerDeutschlanddeutschsprachig „futuro-kubistischer“ Band Nervenvibrierungen im Tintengewande: Futuro-kubistsches. Ein Jahr darauf wechselte er seine Dichtungssprache und gab zwei Gedichtbände auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian heraus.

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