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2 Andere Sprachen I: Das Paradox der SynchronieSynchronie (SaussureSaussure, Ferdinand de)

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Bevor ich zu meinen literarischen Beispielen komme, möchte ich in einem ersten Schritt einige theoretische Vorüberlegungen anstellen. Sie betreffen weit verbreitete Vorstellungen davon, was unter einer Sprache zu verstehen sei – Vorstellungen, die ihrer Wirkmächtigkeit zum Trotz daran hindern, das politischePolitik/politicspolitisch/political Moment literarischer SprachvielfaltSprachvielfalt voll in den Blick zu bekommen.

Es gehört zum Gemeinwissen der Geschichte der LinguistikLinguistik, dass sowohl Ferdinand de SaussureSaussure, Ferdinand de als auch die strukturalistische Saussure-Rezeption die aus dem 19. Jahrhundert herrührende, eng mit der MetapherMetapher/metaphor der MutterspracheMuttersprache/mother tongue verbundene Beschreibung von EinzelsprachenEinzelsprache als Quasi-Organismen, an deren Wachstum man dann interessiert war, ablehnen.1 Saussure – und ich spreche hier in erster Linie von dem Saussure der Notizbücher, nicht von dem Saussure des Cours2 – hat unter anderem darauf hingewiesen, dass zwar einerseits der Sprachwandel, dem sich der Großteil der Sprachforschung des 19. Jahrhunderts gewidmet hatte, erklären kann, woraus sich gegebene SprachstrukturenSprachstrukturen entwickelt haben; dass andererseits aber diese ‚Erklärung‘ nichts darüber aussagt, wie wirkliche Sprecherinnen mit ‚ihrer‘ Sprache umgehen (Saussure 2003: 285–29). Die Beschreibung des Zustands der Sprache hat so betrachtet mit der Beschreibung der Geschichte der Sprache nichts zu tun, obwohl die Möglichkeitsbedingungen des Sprechens und die Sprachgeschichte zugleich wechselseitig aufeinander bezogen sind. Dabei macht Saussure gerade das Sprechen (paroleparole) in seiner jeweiligen situativen GegenwärtigkeitGegenwartGegenwärtigkeit für den Sprachwandel verantwortlich: Das Sprechen greift zwar rekursiv auf la languelangue als Bedingung seiner Möglichkeit zurück, ist aber zugleich selbst Bedingung der Möglichkeit für deren Reproduktion und kann sie jederzeit verändern, ohne dass die Sprecher dies wiederum jemals planen könnten. Die Einheit der Sprache erweist sich damit als paradoxe Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität: Weil man immer weiter spricht, verändert sich die Sprache (Saussure 2003: 251). Sprache ist zu ihrer Fortsetzung dauernd auf „Identitätsurteil[e]“ (Saussure 2003: 298) der Sprecherinnen angewiesen, die (synchron) auf ein Gegebenes verweisen, das sie zugleich (diachron) womöglich modifizieren. Die langue, von der Saussure in den Notizbüchern spricht, ist daher eine durch und durch paradoxale Bezugsgröße. Sie hat als soziale Tatsache keinen festen Ort, an dem sie auffindbar wäre. Sie muss zwar durchgängig als konkret wirksame soziale Tatsache vorgestellt werden, doch ihre Rekonstruktion in Form von Regelwerken löst sie gerade aus dem dynamischen sozialen Zusammenhang, innerhalb dessen allein sie hier und jetzt existiert, heraus.

Diese Einsicht SaussuresSaussure, Ferdinand de wird in der Bearbeitung der Vorlesungsmitschriften, die dem Cours zugrundeliegen, überdeckt. Vor allem aber hat die auf dem Cours aufbauende strukturalistische LinguistikLinguistik die Paradoxie des languelangue-Begriffs weitgehend dadurch ausgeblendet, dass sie ihn in erster Linie auf EinzelsprachenEinzelsprache bezogen und diese wiederum als abgelöst von jeder soziokulturellen und historischenhistorisch Bindung betrachtet hat. Der Saussure der Notizen spricht aber nicht zufällig durchgängig von la languelangue – und eben nicht von une langue oder von langueslangue im Plural (vgl. Stockhammer 2014: 348–352). Er denkt keinesfalls daran, der synchronen Sprachwissenschaft die Aufgabe zu geben, auf der Grundlage entweder von Korpusanalysen oder von muttersprachlicher Introspektion jeweils die unterschiedlichen langueslangue an sich zu rekonstruieren, die Sprecher benutzen, um einzelsprachige parolesparole zu produzieren. Eher hätte la langue, auf Saussures Notizen aufbauend, auch als etwas Nicht-Einsprachiges gedacht werden könnte, etwa so, wie sich Jacques DerridaDerrida, Jacques (1996) die „EinsprachigkeitEinsprachigkeit des Anderen“ vorstellt – als singuläre, aber in sich vielgestaltige Sprachfähigkeit des Einzelnen (in diesem Sinne: „Einsprachigkeit …“), die zugleich vollständig auf die Einflussnahme der sehr unterschiedlichen Sprechweisen vieler anderer Sprecher zurückgeht (in diesem Sinne: „… des Anderen“).

Die Geschichte der LinguistikLinguistik und der Sprachphilosophie hat viele Versuche gesehen, die von SaussureSaussure, Ferdinand de in den Blick genommene paradoxale Zeitlichkeit von Sprache in den Griff zu bekommen. Besonders bekannt ist Wilhelm von HumboldtsHumboldt, Wilhelm von Rede von ergon und energeia, also dem systematischen Aspekt von Sprache, ihrer Orientierung an ‚Regeln‘ einerseits und ihrem kreativen, potentiell die Regeln überschreitenden und den Sprachwandel antreibenden Gebrauch andererseits (Humboldt 1836: 46). Vor dem Hintergrund der angeführten Arbeit von DerridaDerrida, Jacques ist insbesondere Michail BachtinsBachtin, Michail Hinweis darauf erwähnenswert, dass sich der Horizont der languelangue als des wie auch immer regulären Bereichs, auf den sich konkretes, gegenwärtiges Sprechen bezieht, ebenfalls aus nichts anderem als konkretem, gegenwärtigem Sprechen konstituiert, so dass im Grunde die Unterscheidung von langue und paroleparole selbst ins Wanken gerät (Holquist 2014; vgl. Bachtin 1934/35). In der ‚Einsprache‘, von der Derrida spricht, also in dem Sprachwissen, das einzelne Sprecherinnen benutzen, wenn sie hier und jetzt Rede produzieren oder rezipieren, ist die Rede der anderen intertextuellintertextuell/intertextual gegenwärtig und steht zugleich zur Disposition.

Mir ist dieser Zusammenhang, der natürlich eine viel ausführlichere Behandlung verdient hätte, deshalb so wichtig, weil er die alltägliche, aber auch viele wissenschaftliche Untersuchungen prägende Unterscheidung von Ein- und MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit berührt, die bestimmt, es sei Mehrsprachigkeit, wenn irgendwo (in einer Person, in einem Text) mehrere Sprachen vorkommen (eine Person kann EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian und DeutschDeutschlandDeutsch, der Zauberberg mischt DeutschDeutschlandDeutsch und FranzösischFrankreichFranzösisch). Auf der Grundlage dieser Bestimmung ist es einfach, Mehrsprachigkeit ‚politischPolitik/politicspolitisch/political‘ zu befürworten. Aber diese Bestimmung unterschlägt nicht nur die ursprüngliche Vielfältigkeit von la languelangue als Grundlage des Sprechens und ersetzt sie durch ursprüngliche Einheit (EinzelsprachenEinzelsprache); sondern sie übersieht überdies, dass die Quelle von SprachvielfaltSprachvielfalt das konkrete, die Grenzen der EinsprachigkeitEinsprachigkeit überschreitende Sprechen im Hier und Jetzt ist.

Das wiederum heißt für die Analyse von literarischer SprachvielfaltSprachvielfalt, dass sie sich nicht damit zufrieden geben darf zu konstatieren, welche Sprachen Autoren benutzten, um dies dann z.B. politischPolitik/politicspolitisch/political zu interpretieren. Die Frage muss vielmehr auch sein, wie Texte auf je unterschiedliche, mehr oder weniger konkret rekonstruierbare sprachliche Ressourcen zurückgreifen und wie sie sich zur potentiellen Vielfalt dieser Ressourcen stellen (siehe ausführlich Dembeck 2018 sowie Dembeck/Parr 2017). Aus dieser Perspektive kann man die politischePolitik/politicspolitisch/political Dimension literarischer Sprachvielfalt ergründen, indem man überprüft, inwiefern Texten unterstellt werden kann, dass sie Sprache verändern wollen, und indem man zeigt, mit welchen sprachlichen Mitteln sie dies tun. Dabei können dann im Grunde alle jene Strukturen eine Rolle spielen, welche LinguistikLinguistik und LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft mit Blick auf Sprachvielfalt unterscheiden, also z.B. SoziolekteSoziolekt, DialekteDialekt/Mundart und nationaleNationnational Standardsprachen, aber auch poetischePoetik/poeticspoetisch Formen wie Metren oder andere Gattungstraditionen. Daher darf eine MehrsprachigkeitsphilologieMehrsprachigkeitMehrsprachigkeitsphilologie sich nicht auf die Analyse von MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit im soeben genannten alltäglichen Sinn des Wortes beschränken, sondern muss alle Formen von Sprachvielfalt, alle Formen divergenter sprachlicher Mittel einbegreifen.

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