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Antonio Sichera

Mit ihrer Abhandlung nehmen Roubal, Gecele und Francesetti ein sehr heikles Thema in Angriff und widmen sich ihm mit Klarheit, Sorgfalt und Fachwissen. Ihre solide Erfahrung auf diesem Gebiet wird in ihren Ausführungen deutlich. Der Essay stellt einen wichtigen Beitrag zur Gestalttherapie dar, da er Daten systematisiert und mit Ernsthaftigkeit und einer Bewusstheit für die Probleme nach innovativen Lösungen sucht.

Man kann nicht umhin, einigen wesentlichen Punkten zuzustimmen, die der Text aufzeigt: Er spricht gegen einen weit verbreiteten und gefährlichen Mangel an theoretischem Hintergrund und fordert bei GestalttherapeutInnen ein fundiertes Wissen über die am häufigsten gebrauchten Modelle und sprachlichen Gepflogenheiten auf diagnostischem Gebiet. Er lädt zum kritischen Gebrauch solcher Schemata ein und betont, wie wichtig es ist, solche Instrumente im gestalttherapeutisch-hermeneutischen Rahmen zu nutzen, ohne die eigene Einstellung zum Gestaltansatz aufzugeben. Und schließlich geht es in dieser Abhandlung um die Notwendigkeit eines wohldurchdachten und achtsamen Umgangs mit Problemen – in einem starken gestalttherapeutischen Sinn –, der keine Annäherung versucht, sondern eine authentische Gestaltpsychopathologie schafft, die auf den wichtigsten Beiträgen basiert.

An dieser Stelle sollen weder die klugen, ernstzunehmenden und richtungweisenden Feststellungen dieses Essays noch die begrüßenswerten Entwicklungen analysiert werden, die er einläutet. Ich halte es jedoch für fair, ein paar Kritikpunkte hervorzuheben. Tatsächlich hat uns Heidegger gelehrt, dass das Denken immer eine radikale Übung ist, die sich idealerweise auf einen Ausgangspunkt zubewegt, im Sinne einer bewussten Vermeidung von Kompromissen und Abkürzungen. Ich würde sagen, dass es in dem Text aus dieser hermeneutischen Perspektive einige »Vereinfachungen« und ein paar Antworten gibt, die seiner grundlegenden Aufgabe nicht ganz gerecht werden, eine »kommunizierbare«, mitteilbare und dennoch typisch gestalttherapeutische diagnostische Perspektive zu schaffen. Ich werde den Platz, den ich zur Verfügung habe, dazu nutzen, zwei wesentliche Punkte hervorzuheben.

Im ersten Punkt geht es um Philosophie. Der Text stützt sich auf eine Auslegung von Perls / Goodman, die die intrinsische Diagnose mit dem gleichsetzt, woran die TherapeutIn intuitiv innerhalb des Setting laufend arbeitet. Dabei findet kein expliziter Rückgriff auf ein Tertium statt. Eine weitere Grundlage des Textes stellt die Interpretation des theoretischen Referenzmodells von Perls und Goodman dar, gemäß dem berühmten Spruch, dass »Diagnose und Therapie derselbe Prozess sind«. Den Abschnitt in ihrem Werk Gestalttherapie, in dem es um die »extrinsische Interpretation« geht, wertet der Text als mögliche theoretische Erklärung, weshalb man diagnostische Instrumente »außerhalb« des Settings nutzen sollte. Landkarten können solche Instrumente sein, die der TherapeutIn helfen, sich zu bewegen und zu orientieren und dabei die folgenden Aufgaben nicht aus den Augen zu verlieren: die Notwendigkeit einer »Fixierung« und Standardisierung von Charaktertypen und Kategorien des Unwohlseins, die im »intrinsischen« Moment der Diagnose nicht vorkämen, wäre hier angebracht. Wir sehen uns der Lösung einer raffinierten gestalttherapeutischen Aporie gegenüber, die jedoch mit Sicherheit nicht im Einklang mit dem Text von Perls und Goodman steht.

Was Perls und Goodman in diesem Abschnitt meinen, ist keine »Arbeitsteilung« zwischen intrinsisch und extrinsisch, sodass die wahrnehmende therapeutische Handlung innerhalb eines Settings auf einem ersten Level und eine anschließende Reflexion und Orientierung auf einem zweiten Level stattfinden würde. Das mag für uns von Vorteil sein, und wir haben ja auch tatsächlich die Freiheit, den Text auf verschiedene Arten auszulegen, doch zuerst muss man anerkennen, dass es von einem philologischen Standpunkt aus nicht so ist. Perls und Goodman machen ganz deutlich, dass die Gestalttherapie ausdrücklich weit von jeglichem extrinsischen Gebrauch von Interpretation und Diagnose entfernt ist, den die Begründer für schädlich und nutzlos halten, während die Umsetzung einer Interpretation, eine intrinsische Diagnose, typisch gestalttherapeutisch ist. Das ist die Intervention, die die TherapeutIn in dem Setting initiiert, nicht ohne das Tertium der Theorie, doch mit einer so flexiblen, »biegsamen« diagnostischen Theorie an der Hand, dass sie sie angepasst und »innerhalb« statt außerhalb des Settings angewandt werden kann.

Es ist so, als würde Gestalttherapie immer wieder betonen: Wir kommen nicht ohne ein diagnostisches Modell aus, da das Tertium grundlegend wichtig ist, um nicht in symbiotischen Wahnsinn zu verfallen. Dieses theoretische Bezugsmodell, das uns rettet, muss jedoch so dicht am Erleben und so sehr in der Lage sein, »darüber zu denken«, dass die TherapeutIn es innerhalb des Settings selbst, innerhalb der Sitzung, »einsetzen« und »sich darauf einlassen« kann.

Und hier kommen wir zum zweiten Kritikpunkt, dem des hermeneutischen Hintergrunds. Obwohl das Konzept des Essays hervorragend ist, fehlt eine angemessene Berücksichtigung eines spezifischen und wichtigen Aspekts der gestalttherapeutischen Vision vom therapeutischen Prozess. Wenn wir Erleben »denken« und dicht am Erleben sein sollen, dann müssen wir zunächst einräumen, dass die Substanz, aus der das Erleben besteht, die Zeit ist. Ein flexibles Modell zur Verfügung zu haben bedeutet, mit einem diagnostischen Instrument arbeiten zu können, das der TherapeutIn hilft, Sprunghaftigkeit und Blockaden von Erleben im Rahmen eines zeitlichen Verlaufs zu interpretieren. Daher kann sie sich bewusst und kreativ innerhalb der verschiedenen Momente einer therapeutischen Reise verorten. Wenn die beziehungsorientierte und die kontextuelle Perspektive, die der Essay beleuchtet, für eine gestalttherapeutische Diagnose unverzichtbar sind, müssen wir auch darauf hinweisen, dass es keine gestalttherapeutische Diagnose ohne eine passende Theorie der Temporalisierung geben kann (und meiner Meinung nach ohne eine fundierte Interpretation des Kontexts im Hinblick auf Figuren/Hintergrund).

Meiner Ansicht nach sind dies die beiden Grenzen, auf die die theoretische Forschung zur Diagnose in der Gestalttherapie ausgerichtet sein muss, und dieser Essay stellt einen wichtigen Beitrag dar. Kurz gesagt, unerledigte Geschäfte. Es könnte nicht anders sein …

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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