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5. Situative Ethik und die ethische Welt der Gestalttherapie Dan Bloom

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Das Konzept der situativen Ethik als ethische Architektur der Erfahrungswelt der Psychotherapie bestimmt den Aufbau des vorliegenden Kapitels. Dieses Ethikkonzept ist der Grund, weshalb wir uns überhaupt mit Ethik befassen. Ich werde die situative Ethik beschreiben und ganz allgemein zeigen, auf welche Weise sich die Ethik unserer klinischen Praxis zu deren Bezugsrahmen verhält. Dabei stelle ich die intrinsische, die extrinsische und die grundlegende Ethik als wichtige praktische ethische Kategorien vor, die uns in unserer täglichen Arbeit als PsychotherapeutInnen leiten.

Das folgende Beispiel illustriert das ethische Gleichgewicht, das in einem Moment intensiven Kontakts in einer Gestalttherapiesitzung entsteht.

Ein Mann beugt sich mit gesenktem Blick vor und sagt: »Wissen Sie, ich wollte heute nicht herkommen. All diese Therapien funktionieren nicht. Nichts hat bisher geholfen und nichts wird jemals helfen. Ich fühle mich wie ein Klumpen Blei.«

Der Therapeut merkt, dass er sich ebenfalls vorbeugt. »Jim, ich fühle mich Ihnen nahe, während Sie sprechen. Sie sind hier und Sie scheinen sich auf mich zuzubewegen. Würden Sie den Kopf heben?«

Der Mann hebt den Kopf. Sein Blick begegnet dem des Therapeuten. Er lächelt.

Der Therapeut lächelt … sie hören sich ausatmen, als sei es ein einziger gemeinsamer Atemzug.

Diese Situation sieht so einfach aus, doch wir GestalttherapeutInnen wissen, dass sie komplexer ist, als sie erscheint. Wie können wir beschreiben, was in diesen Momenten geschieht? Es liegt in der Natur des In-Kontakt-Tretens, dass es sich nicht verbalisieren lässt. Beachten Sie das behutsame Vor und Zurück von Klient und Therapeut und die Offenheit und Verfügbarkeit des Therapeuten als eine gleichzeitig entstehende Präsenz. Der Klient befindet sich dabei an der Kontaktgrenze. Das Eingehen des zugegebenermaßen überschaubaren Risikos, das Therapeut und Klient hier wagen, wird möglich durch den sicheren Rahmen, den der Therapeut schafft, und der Teil der gemeinsamen Grundlage der Sitzung ist.

Der Therapeut bringt seine klinische Erfahrung, seine Fertigkeiten, sein Fachwissen, sein Verständnis der Standards der beruflichen Praxis und assimilierter ethischer Kodizes in die Situation ein. Diese Faktoren bilden das Gerüst, das die Arbeit im Hintergrund stützt, ohne dass sich Therapeut und Klient dessen bewusst sind. Wenn nötig, wird der Therapeut bewusst und gezielt auf dieses Gerüst zurückgreifen, das für mich die grundlegende und die intrinsische Ethik der Psychotherapie darstellt.

Doch da ist noch etwas. Der anmutige Rhythmus des gemeinsamen Erlebens von KlientIn und TherapeutIn an der Kontaktgrenze wird durch etwas Grundlegenderes geformt, nämlich durch die menschliche Eigenschaft, einander »ethisch« zu sehen – also als Menschen, die andere als Menschen erkennen und einander mit einer gewissen Erwartung, mit einer gewissen ethischen Sensibilität begegnen. Das kann man nicht lernen. Es liegt der menschlichen Struktur zugrunde. Ich werde dieses »noch etwas« fortan als situative Ethik bezeichnen, als die Ethik der menschlichen Situation, ein strukturelles Element der subjektiv wahrgenommenen Lebenswelt, in der wir alle Menschen sein können.

Dieses Kapitel gliedert sich folgendermaßen: Im ersten Teil definiere ich die situative Ethik im Rahmen der Gestalttherapie, im zweiten Teil beschreibe ich die Gefahr der Verwechslung von extrinsischer und intrinsischer Ethik in der Gestalttherapie sowie die praktischen Auswirkungen dieser Verwechslung auf die phänomenologische Methode unserer psychotherapeutischen Praxis. Ich werde ausführen, wie schwierig es gerade für GestalttherapeutInnen sein kann, diese ethischen Kategorien auseinanderzuhalten. Dabei werde ich Probleme ansprechen, die diese Verwechslung in unserer klinischen Praxis verursacht. Und ich werde versuchen, klinisch tätigen TherapeutInnen Hilfestellung bei den schwierigen ethischen Konflikten zu geben, die unsere Arbeit aufwirft.

Kurz gesagt: Dies ist ein in der Phänomenologie verwurzelter praktischer Leitfaden für eine Ethik der Gestalttherapie (vgl. Boeckh 2012; Gremmler-Fuhr 1999; Hutterer-Krisch 1996, 2001, 2007; Krisch 1992a; Robine 1988; Stoffl-Höll 1992).

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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