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5. Ein klinisches Beispiel: Der verdinglichte Tod

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Eine 57-jährige Patientin sitzt starr in dem Sessel, mir, der Therapeutin, gegenüber (Bereich der Retroflexion). Die Patientin lächelt höflich. Sie hat ihre Handtasche auf dem Schoß und hält sie ganz fest, als könne sie sich aus irgendeinem Grund nicht entspannen (Bereich der Projektion). Mir fällt auf, dass ihr Atem flach ist, und zwar so flach, dass sich ihre Haltung durch den Rhythmus des Ein- und Ausatmens nicht zu verändern scheint. Die Patientin nimmt alle meine Versuche wahr, sie zu beruhigen, ihre Reaktion lässt jedoch nicht erkennen, dass sie sich allmählich sicherer fühlt (Bereich der Introjektion). Meine Wahrnehmung an der Kontaktgrenze ist Verwunderung angesichts der extremen Verschlossenheit der Patientin, und ich fühle mich nicht fähig, ihre Reaktion als Angst zu akzeptieren und kodifizieren. Ich spüre ein Gefühl der Kälte an der Kontaktgrenze, die Unfähigkeit zu akzeptieren. Die Beziehungsmuster der Bewegung, meines und das der Patientin, sind gezwungen und zielen vielmehr darauf ab, mögliche Überraschungen zu kontrollieren, als auf eine (gegenseitige) Öffnung der Anderen gegenüber (Bereich des Egotismus). Während ich das beobachte, höre ich der Patientin zu. Im Mittelpunkt ihrer Geschichte steht das Grab der Familie ihres Ehemanns. Dieses Grab scheint ihre Gedanken auf seltsame Weise zu fesseln. Sie fühlte sich verpflichtet, ihrer Ursprungsfamilie zu erlauben, ihre Stiefmutter im Familiengrab ihres Ehemannes zu beerdigen. Sie selbst hatte keine gute Beziehung zu ihrer Stiefmutter und fühlt sich seitdem unglücklich, verzweifelt. Zwei Jahre zuvor ist sie in Rente gegangen und kann sich nicht an diese Veränderung in ihrem Leben gewöhnen. Sie kann nachts nicht schlafen. Sie fühlt sich sehr angespannt und denkt, dass sie kurz davor ist, verrückt zu werden. Sie war bereits bei einem Psychotherapeuten in Behandlung, von dem sie viel Zuspruch für die positiven Dinge bekam, die sie in ihrem Leben getan hat. Zuerst fühlte sie sich besser, doch der Grundgedanke, die Vorstellung eines von einem Außenseiter geschändeten Grabes (es ist das Grab, in dem sie und ihr Ehemann einmal beerdigt werden sollen), lässt sie nicht los (Bereich der Konfluenz). Das körperliche Unwohlsein ist geblieben, trotz des Zuspruchs des früheren Therapeuten, der ihre Persönlichkeitsfunktion, ihre soziale Rolle, unterstützt hat.

Die klinische Evidenz der Es-Funktion des Selbst (ein steifer, kontrollierender Körper und flache Atmung) und der Persönlichkeitsfunktion (das Gefühl, verrückt zu werden, die Kontrolle über sich zu verlieren), ihre Art, sich auszudrücken (Ich-Funktion), die eine auf körperlicher Ebene erlebte Sorge ausdrückt, dass sie eine so intime Sache wie das Familiengrab nicht kontrollieren kann, meine Empfindungen an der Kontaktgrenze, dass es nicht möglich ist, Gefühle mit der Patientin zu teilen – all das sind Aspekte des phänomenologischen Feldes, die für die Diagnose »Persönlichkeitsstörung vom schizoiden Typus« sprechen. Ohne diese Art der »tiefergehenden« Beobachtung der »Oberfläche« hätte ich mich zu der Diagnose »Anpassungsstörung vom depressiven Typus« verleiten lassen. Auch die kürzliche Berentung der Patientin hätte dabei vermutlich eine Rolle gespielt. Daraus hätte sich eine Intervention ergeben, die sich – wie die des vorhergehenden Therapeuten – auf eine Unterstützung der Persönlichkeitsfunktion, die soziale Definition des Selbst, konzentriert hätte. Wenn man sein Augenmerk jedoch auf die Prozesse der Ko-Kreation des Kontakts richtet und die physiologischen Unterstützungen in Betracht zieht, mit deren Hilfe die Patientin in Kontakt tritt, kann man eine Störung der Es-Funktion diagnostizieren, was nach einer gänzlich anderen Art von Unterstützung verlangt.

Eine Kombination aus Spontaneität und Nachdenken bringt mich schließlich zu der Entscheidung, die therapeutische Intervention einerseits auf meinem realen Gefühl basieren zu lassen und mich an der Frage zu orientieren, welche innere oder äußere Sicherheit mir helfen würde, mich an der Kontaktgrenze mit der Patientin soweit zu entspannen, dass ich Gefühle für sie empfinden kann. Andererseits will ich mich einer Sprache bedienen, die bei der körperlichen Erfahrung der Patientin beginnt, bei dem Gefühl der verletzten Intimität, aber bestimmt nicht bei Ermutigungen, die kein in der Situation verkörpertes Mitgefühl ausdrücken.

In diesem speziellen Fall lässt mich ein von der Patientin erwähntes Symptom aufhorchen: Sie kann sich das Wort »Tod« nicht anhören. Wenn sie es in einem Buch liest, muss sie das Buch weglegen und kann es nie wieder zur Hand nehmen. Wenn sie es in den Nachrichten im Fernsehen hört, muss sie den Raum verlassen oder den Fernseher abdrehen. Die Macht, die dieses Wort für die Patientin hat – über meine Sorge wegen ihres zwanghaften Erlebens hinaus, das ein Zeichen starker Angst ist und zu einem psychotischen Kollaps führen könnte – gibt mir einen Hinweis auf den Bereich der Konfluenz und erinnert mich an Piagets Entwicklungstheorie (1937) und das Konzept der »Verdinglichung« von Worten und Objekten, die Teil des animistischen Denkens von Kindern sein kann. Für ein Kind, dass sich in der Phase der animistischen Gedanken befindet, hat der Mond eine Seele und einen Willen, und Wörter (oder andere Objekte) können mit einem Eigenleben ausgestattet sein.

Das Auftauchen dieses machtvollen Gefühls und die Erinnerung an Piagets Theorie bilden die Basis für die epoché (ein phänomenologisches, von Husserl begründetes Konzept), in der die therapeutische Intervention gebildet wird. Ich entscheide, im Hinblick auf die Sprache zu intervenieren und sage zu der Patientin: »Das Wort ›Tod‹ ist nur ein Wort, es hat selbst keine Macht. Sie haben Macht über das Wort, nicht über den Tod selbst, aber über dieses Wort schon. Sie können es ausblenden, einfach weghören, es ersetzen. Sie haben Macht über das Wort ›Tod‹.«

Was ich sage, bedeutet keine Geringschätzung ihrer Fähigkeit, in Konfluenz mit dem durch das Wort »Tod« ausgelösten Erleben zu sein. Gleichzeitig gebe ich ihr ein gutes Introjekt, indem ich ihr beibringe, dass sich das Wort vom Tod an sich unterscheidet. Mein Gefühl gibt mir einen Hinweis darauf, dass die Art von Beziehung, die sie gewohnt ist, nach einem »kalten« Partner verlangt, der nicht fähig ist, ihre Angst mitzutragen. Dass ich ihr ein klares Introjekt gebe und dass sie es annimmt, macht es uns möglich, mit weniger Angst in Kontakt zu sein.

Diese sprachliche Neudefinition bewirkt bei der Patientin eine Entspannung des Atems und ein Öffnen ihrer Körperhaltung, die ihr sogar erlaubt, ihre Handtasche abzustellen. In der darauffolgenden Sitzung kann ich sie sogar dazu auffordern, ein paar Sätze aufzuschreiben, die das Wort »Tod« enthalten, und nachzuspüren, wie sie Macht über dieses Wort hat. Nach ein paar Wochen hat die Patientin das Problem ihrer Angst gelöst und beendet die Therapie. Sie erzählt mir, dass sie mit Zustimmung ihrer Ursprungsfamilie eine Umbettung ihrer Schwiegermutter arrangiert hat und dass es ihr viel besser geht. Sie hat das Gefühl, mehr Kontrolle über sich zu haben.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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