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1. Die Frage der Entwicklungs-Theorie in der Gestalttherapie

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Das Hier-und-Jetzt, das die PatientIn auf körperlicher Ebene erlebt, ist eine kreative Gestalt. Sie fasst die in vorhergehenden Kontakten integrierten körperlichen und sozialen Beziehungsschemata (das Being-with durch den Körper und durch die soziale Definition des Selbst) und die Intentionalitäten zusammen, die den aktuellen Kontakt zwischen PatientIn und TherapeutIn unterstützen. Es ist also von grundlegender Bedeutung, sich auf eine Entwicklungsperspektive zu beziehen, um die Entwicklung der Kontaktmodalitäten mit dem/der signifikanten Anderen und der Umwelt im Allgemeinen zu verstehen.

Bis in die 1980er-Jahre betrachtete es die internationale Gestaltgemeinschaft jedoch als zwecklos, sich auf eine Entwicklungstheorie zu beziehen, da die psychotherapeutische Arbeit im Hier-und-Jetzt stattfindet. Die Verwendung theoretischer Schemata (diagnostischer und entwicklungsbezogener) wurde als Absurdität angesehen, als eine De-Fokussierung (seitens der TherapeutIn) des aktuellen Erlebens im Kontakt zugunsten einer Deutung der Blockaden der Vergangenheit. Nach dem gestalttherapeutischen Verständnis dieser Zeit wäre das ein Schritt zurück zur Notwendigkeit der Auslegung und damit zu fertigen Interpretationen der PatientIn gewesen. Solche Interpretationen hätten die Unmöglichkeit des lebendigen, aktuellen Kontaktes impliziert, den die PatientIn mit der TherapeutIn und ihrer Umwelt aufbaut.

In den 1980er-Jahren erzwang dann der soziale Wandel eine Weiterentwicklung dieser humanistischen Konstrukte: Durch die Zunahme schwerer Störungen entstand die Notwendigkeit einer entwicklungsbezogenen Perspektive sowie des Einsatzes von diagnostischen Schlüsseln. Außerdem erkannte man, dass die Lebendigkeit des Kontakts zwischen TherapeutIn und PatientIn eher verbessert als verschlechtert wird, wenn man sie durch die Linse eines theoretischen Bezugsrahmens betrachtet, der im Einklang mit der Methode steht.

Seitdem hat sich eine gestalttherapeutische Denkweise bezüglich der menschlichen Entwicklung herausgebildet. Die Herausforderung für diesen Ansatz besteht jedoch auch heute noch in der Nutzung eines theoretischen Bezugsrahmens, der von dem Erleben der PatientIn und der TherapeutIn im Hier-und-Jetzt der therapeutischen Situation ausgeht. Gleichzeitig haben sich auch die Entwicklungstheorien grundlegend verändert.

Von der »Entwicklungspsychologie«, die den Übergang von der Kindheit (unreif und sich verändernd) zum Erwachsensein (reif und ausgeglichen, ohne weitere Veränderungen) untersuchte, gab es in den 1980er-Jahren eine Bewegung hin zum Konzept der »Psychologie des Lebenszyklus«. Sie geht davon aus, dass alle Phasen des menschlichen Lebens von Wandel gekennzeichnet sind. Sowohl Faktoren, die dem Menschen innewohnen (ihn reifen lassen), als auch Faktoren, die von außen auf ihn einwirken (z. B. umweltbezogene Faktoren), schaffen Bedingungen für die Destrukturierung existierender Gleichgewichte und für den Übergang zu neuen Synthesen, die die Ausführung weiterer Entwicklungsaufgaben ermöglichen (wie in Eriksons Prinzip der epigenetischen Stufen, 1982). Das Konzept des Lebenszyklus und das Konzept der epigenetischen Landkarte sind mit der Vorstellung verknüpft, dass das Leben oder jeder beliebige Entwicklungsweg aus Phasen besteht. Sie sind von Bedürfnissen, Fähigkeiten, speziellen existenziellen Themen und Aufgaben gekennzeichnet, die zu einer weiteren Reifung führen. Die auf diese Weise charakterisierten Phasen sind durch einen fortlaufenden und kumulativen Prozess miteinander verbunden, der schlussendlich zur Beziehungsreife führt, mit anderen Worten: zur Fähigkeit, funktionale Kontakte aufzubauen, die nährend für das Individuum selbst und für die Gruppe (oder für die Umwelt im Allgemeinen) sind. Diese Sichtweise der Entwicklung hat Daniel Stern in seinen Studien (1985) gründlich analysiert (vgl. Carroll 1999; Staemmler 2013; Wirth 2012). In Anlehnung an Sterns Entwicklungskonzept nenne ich die gestalttherapeutische Perspektive die »polyphone Entwicklung von Bereichen«, die von der Idee der phasenweisen Struktur abweicht. Während die Phasen kumulativ wirken, sodass jede Phase die Kompetenzen der vorangegangenen Phasen voraussetzt, geht das Konzept der Bereiche von klar differenzierten Kompetenzen aus. Sie entwickeln sich im Laufe des gesamten Lebens kontinuierlich weiter und interagieren, was die Harmonie (wir könnten auch sagen: die Gestalt) der aktuellen Kompetenzen eines Menschen fördert (s. Abb. 2).

Wenn wir den Beziehungsprozess einer PatientIn und seine Entwicklung betrachten und dabei im Einklang mit der gestalttherapeutischen Epistemologie bleiben wollen, erklärt es sich in Anbetracht dieser Prämissen von selbst, dass wir nicht darüber nachdenken, ob in einem bestimmten Stadium bestimmte entwicklungsbezogene Aufgaben erfüllt sind. Im Vorhinein Entwicklungsziele zu formulieren, birgt das Risiko einer externen Beurteilung des Erlebens des Subjekts. Wenn wir in Entwicklungszielen denken, sind wir gezwungen, unsere PatientInnen an diesen Zielen zu messen. Wir müssen verhindern, dass die Kontaktmodalitäten, auf denen unsere Theorie basiert (Introjektion, Projektion usw.) zu Stadien werden, die es zum Erlangen der Beziehungsreife eines nach dem anderen zu erreichen gilt. Vielmehr sollte man sie als Bereiche betrachten. Der Bereich bezeichnet eine beziehungsorientierte Fähigkeit, die im Hintergrund des Erlebens präsent ist und die an einem bestimmten Punkt der menschlichen Entwicklung zur Figur wird und dabei mit anderen Fähigkeiten oder Bereichen interagiert.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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