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1. Situative Ethik

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Wie sollen wir uns zueinander verhalten? Auf diese Frage gibt es unzählige Antworten, allerdings keine Antworten, die für jeden Zeitpunkt und jeden Ort gleichermaßen gelten. Für die Zwecke dieses Kapitels sind die Antworten, so bedeutend sie auch sein mögen, weniger wichtig als die Tatsache, dass es uns immer wieder treibt, diese Fragen zu stellen. Dass wir uns solche Fragen immer wieder stellen, ist das Wasserzeichen, mit dem die situative Ethik uns Menschen versieht. Der Ethik gegenüber offen zu sein, liegt im Kern unseres Menschseins und ist daher untrennbar mit der psychotherapeutischen Praxis verbunden. Diese Fragen zu stellen und zu beantworten hat den gestalttherapeutischen Blick auf die Welt besonders geschärft.

GestalttherapeutInnen haben immer hervorgehoben, wie wichtig es für uns ist, als Gestalter in der Gemeinschaft, als Sozialkritiker und politische Aktivisten tätig zu sein, die die Gesellschaft in Übereinstimmung mit unserer Auffassung der menschlichen Natur und der Gesellschaft reformieren (Perls / Hefferline / Goodman 2006). Neben diesem reformistischen Anspruch steht die Aufforderung, als PsychotherapeutInnen nach den der Gestalttherapie eigenen humanistischen, egalitären und nicht-autoritären klinischen Werten zu arbeiten. Die GestalttherapeutInnen von heute sprechen das Thema der gestalttherapeutischen Ethik explizit an (Joyce / Sills 2006; Wheeler 1992; Lee 2004b). Sie richten – endlich – ihr Augenmerk auf die Ethik der Psychotherapie. Sie rufen zu einem Wandel auf, von einer modernistischen »Ethik des Individualismus« zu einer »beziehungsbezogenen« »Feld-«, »Gemeinschafts-« oder »umweltbezogenen« Ethik (Wheeler 2000a; Lee 2004b; Staemmler 2009) und zu einer intersubjektiven »Ethik der Achtsamkeit« (Jacobs 2011). Sie mahnen eine Konzentration auf die therapeutische Beziehung an. Sie fordern uns auf, dem Einfluss der GestalttherapeutIn auf die PatientIn besondere Aufmerksamkeit zu widmen, da TherapeutIn und PatientIn gemeinsam an der Therapie teilnehmen (Hycner / Jacobs 1995).

Dies ist jedoch nicht die Ethik, mit der ich mich hier vorrangig befassen will. Mir geht es um jene Ethik, die den Therapieprozess selbst aufrecht hält, ja, eine Voraussetzung für ihn ist – und die auch unserer menschlichen Existenz im »Mitsein« implizit ist (Heidegger 1953). Diese Ethik ist die Ethik unseres gemeinsamen phänomenalen Hintergrundes, der Lebenswelt. Sie orientiert unser Bewusstsein dahingehend, dass in der therapeutischen Beziehung zu jeder Zeit ethische Fragen auftauchen – zum Beispiel, wie wir unsere Honorare handhaben und wie wir uns unseren KollegInnen und SupervisorInnen gegenüber verhalten. Sie steht auch hinter unseren ethischen Kodizes und unserem Standard in der therapeutischen Praxis – und in Momenten beruflicher Isolation verankert sie unseren Glauben, dass wir in unserer Arbeit nie alleine sind. Dies ist keine Ethik, die uns sagt, was zu tun ist, was richtig oder falsch ist, sondern eine Ethik, die uns dafür öffnet, dass es da ein Richtig, ein Falsch oder eine Kontroverse darüber geben könnte, ob es richtig und falsch überhaupt gibt. Dies ist »situative Ethik« – eine Ethik einer anderen Ordnung.

Mein Gebrauch des Begriffs »Ethik« als »situative Ethik« wird von der europäischen Philosophie beeinflusst. Nicht nur in Emmanuel Lévinas’ komplexer Philosophie bezeichnet »Ethik« oder »das Ethische« unsere grundlegende praktische konkrete Beziehung zueinander (Critchley 2002). Die Ethik ist ein Weg, »mit dem/der Anderen als Akt oder Praxis in Beziehung zu sein«, den Lévinas als »ethisch« beschreibt (Lévinas 1969, 12). Das »Ethische« ist eine »untrennbare interpersonelle« Struktur, auf der alle anderen Strukturen beruhen. Lévinas Ethik bietet keine der Regeln herkömmlicher Ethik; sie ist die »Voraussetzung meiner Existenz« und »definiert genau den Bereich, den ich bewohne« (Davis 1996 [Übers. a. J.]).

»Die Ethik ist eine Optik« (Lévinas 2002). So wie uns die Struktur unserer Augen befähigt, Farben zu sehen und zu wählen, so sensibilisiert uns die situative Ethik und öffnet uns für die ethische Situation, in deren Rahmen wir einer Ethik des Inhalts und der Wahl fähig sind.

Die situative Ethik kann in das gestalttherapeutische Paradigma des Organismus/ Umwelt-Feldes transferiert werden, das durch verschiedene Interpretationen der »Situation« ergänzt wird, wie ich später ausführen werde. Ich bezeichne auch diese Ethik als situativ, um zu betonen, dass sie ein verkörperter und sozialer Aspekt des Organismus/Umwelt-Feldes ist. Das In-Kontakt-Treten und die Kontaktgrenze, der Kern der Gestalttherapie, sind in einer ethisch organisierten Welt verortet. Die klinische Implikation von situativer Ethik als Plattform für die Praxis der Gestalttherapie zieht sich durch dieses Kapitel.

Meine Abhandlung umfasst auch eine phänomenologische Dimension. Ich behandle die situative Ethik als eine Struktur der Lebenswelt und nicht so sehr als eine Ethik des Organismus/Umwelt-Feldes, um die erfahrungsbezogenen oder phänomenologischen Merkmale dieser Ethik hervorzuheben. Die Bedeutung, die dem Begriff der Lebenswelt in der Phänomenologie zugeschrieben wird, hat sich im Laufe der Geschichte der Philosophie verändert. Es herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass es sich bei der Lebenswelt um eine Erfahrungswelt handelt. Folgender Aspekt der Lebenswelt ist aus den späteren Schriften von Edmund Husserl (1954, 145) entnommen: »Die Lebenswelt ist […] immer schon da, im Voraus für uns seiend, ist ›Boden‹ für alle […]. Die Welt ist uns […] vorgegeben«. Die Lebenswelt geht der Erfahrung voran. Ergänzend sei Martin Heideggers ähnliches Konzept der »Welt« (Heidegger 1962) angeführt, wonach die historische, kulturelle und soziale Welt, in die wir »hineingeworfen« werden, die Architektur ist, die dann das Fundament unserer Erfahrungswelt bildet. Ich würde sagen, dass unsere grundlegende ethische Perspektive zur Architektur der Lebenswelt gehört. Die situative Ethik ist Teil dieser Architektur innerhalb der Struktur der Welt.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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