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2. Intrinsische, extrinsische und grundlegende Ethik

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Jede medizinische, psychotherapeutische oder pädagogische Theorie basiert auf einer Konzeption der Selbstregulation und der entsprechenden Wertehierarchie. Die Konzeption ist die Realisierung dessen, was der Wissenschaftler tatsächlich als den Hauptfaktor im Leben und in der Gesellschaft betrachtet. (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. 1, 88)

Ein klinisches Beispiel.

Eine Sitzung beginnt.

Die Tür der psychotherapeutischen Praxis öffnet sich.

Ein Mensch tritt ein. Die TherapeutIn und der/die Eintretende geben sich die Hand und beide setzen sich.

»Was bringt Sie zu mir?« fragt die TherapeutIn.

Der Mensch sagt: »Ich bin depressiv, traurig, besorgt …«

Dann weint er/sie.

Die PsychotherapeutIn wird sich als Nächstes nach den persönlichen Umständen erkundigen – ohne solche Informationen lässt sich keine Psychotherapie fortsetzen. Was, wenn es im Leben dieses Menschen einen Notfall gibt? Was dann? Worauf wird sich die »Arbeit« konzentrieren – auf das soziale Feld, das Leben zu Hause, Beziehung(en), die Familie, Drogenmissbrauch und so weiter? Auf das »umweltbezogene Feld«? Auf das »beziehungsorientierte Feld«? Auf das »spirituelle Feld«? Auf globale oder politische Fragen? Oder auf die Kontaktgrenze dieser PsychotherapeutIn und dieses Menschen, an der das Leiden dieses Menschen direkt erlebt werden kann? Wie können PsychotherapeutInnen phänomenologisch praktizieren, wenn persönliche Ansichten oder Angelegenheiten in der »Außenwelt« Gestalt annehmen?

Alle PsychotherapeutInnen haben ihre eigenen Überzeugungen: persönliche, klinische, ethische, kulturelle und so weiter. TherapeutInnen können ihre Persönlichkeit nicht an der Praxistür zurücklassen. Es ist weder ratsam noch möglich. Was tun wir also mit persönlichen Überzeugungen? Strenggläubige römisch-katholische PsychotherapeutInnen hören ihren Patientinnen dabei zu, wenn sie eine Abtreibung planen. Sozial-konservative PsychotherapeutInnen hören, wie Paare die Möglichkeit mehrerer Sexualpartner diskutieren. Manchmal passen die persönlichen Überzeugungen von TherapeutIn und PatientIn zusammen – und manchmal ganz und gar nicht. Unsere persönlichen Überzeugungen leiten unser persönliches Leben. Dabei handelt es sich um eine Ethik des Inhalts.

Natürlich sind manche der persönlichen Überzeugungen einer TherapeutIn notwendig, um Psychotherapie zu praktizieren. Dazu gehört das Wissen der TherapeutIn, das sie in der klinischen Ausbildung erworben hat, sowie persönliche klinische Erfahrung. TherapeutInnen bleiben Menschen in ihrer klinischen Rolle und praktizieren in ihrem persönlichen Stil, der durch die Erfahrungen in ihrem Leben geformt wird (L. Perls 1992). Wie können PsychotherapeutInnen unter diesen Umständen mit potenziellen Konflikten zwischen persönlichen und klinischen Überzeugungen umgehen, wenn die Frage »Was bringt Sie zu mir?« gestellt und beantwortet wird?

Die Unterscheidung zwischen extrinsischer und intrinsischer Ethik und der grundlegenden Ethik der Psychotherapie kann bei der Antwort auf diese Frage helfen. Wenn die PsychotherapeutIn zulässt, dass ihre persönlichen ethischen Überzeugungen in einer Sitzung Gestalt annehmen, dringt eine extrinsische Ethik in die Psychotherapie ein. Perls, Hefferline und Goodman (2006) stellen fest, dass es zur Gestalttherapie gehört,

[…] die interne Struktur der gegenwärtigen Erfahrung zu analysieren … das Erreichen einer starken Gestalt selbst [ist] die Heilung …, denn die Kontaktfigur ist nicht ein Anzeichen dafür, sondern selbst die kreative Integration der Erfahrung. (ebd. Bd. 1, 28, Hervorhebungen im Original)

Und diese Gestalt, die an der Kontaktgrenze entsteht, muss daher frei von irrelevanten persönlichen Anliegen der PsychotherapeutIn sein. Es ist die PatientIn, die die Patientin ist. Oder genauer gesagt: Die Kontaktgrenze von TherapeutIn und PatientIn ist der Ort in der Psychotherapie, an dem die Erfahrungen der PatientIn Figur wird, vor der aktiven Hintergrundpräsenz der TherapeutIn, die von situativer Ethik geleitet wird.

Ein hypothetisches klinisches Beispiel.

Eine Frau lässt sich in den Sessel fallen und blickt zu Boden.

»Ich hatte eine Fehlgeburt.« Sie ist atemlos, aufgewühlt.

Die Therapeutin beugt sich vor und sieht sie an.

»Mary, können Sie mich ansehen? Ich hatte vor ein paar Jahren auch eine. Sie fühlen sich heute sicher schlecht. Das geht vorbei. All das heißt nur, dass Sie sobald wie möglich wieder versuchen müssen, schwanger zu werden.«

Die persönlichen Überzeugungen der Therapeutin stellen eine extrinsische Ethik des Inhalts dar und formen ihre Arbeitsweise. Zumindest ist eine Gelegenheit verloren gegangen, die entstehende Struktur des Verlustgefühls der Patientin zu erkunden. Dies ist ein extremes Beispiel. Unmöglich? Vielleicht nicht.

Natürlich ist alles, was wir den PatientInnen anbieten können, wenn auch anscheinend extrinsisch zu den vorliegenden Themen, eine Grundlage für unsere Arbeit als GestalttherapeutInnen. Es gibt kein abstraktes »Hier und Jetzt« (Staemmler 2011). Das ist phänomenologisch unmöglich (Zahavi 2003). Die Ethik des Inhalts einer PatientIn ist Teil der »Struktur der aktuellen Situation«, auf die wir immer unsere Aufmerksamkeit richten. Wir sind immer daran interessiert, was eine Erfahrung für einen Menschen bedeutet.

Ich komme zu Mary und einem anderen klinischen Ansatz zurück.

»Ich hatte eine Fehlgeburt«. Sie ist atemlos, aufgewühlt.

»Mary, wenn ich Ihre Worte höre, merke ich, wie ich mit einem Gefühl des Verlusts in diesen Sessel sinke. Und wie ich so dasitze, frage ich mich, wie viel davon zu Ihnen gehört. Würden Sie mir mehr darüber erzählen, was Sie gerade erleben?«

»Ich fühle mich schwer, John, und gleichzeitig habe ich das Gefühl zu schweben. Seltsam.«

»Würden Sie die Füße auf den Boden stellen und beobachten, was passiert?«

Mary tut es, atmet und ist still.

Und wieder einmal fangen Therapeut und Patientin an, auf das zu achten, was an der Kontaktgrenze gemeinsam entsteht. Sie werden von einem gemeinsamen unausgesprochenen und verkörperten Gefühl getragen, einem »Sehen«, einem »Wissen«, dass es eine menschliche Beziehung gibt, welche die sich entwickelnde Kontaktsequenz erhält. Mary kann jetzt still sein, »gehalten« von der grundlegenden Unterstützung der therapeutischen Beziehung, unausgesprochen, doch erfahrbar. Vielleicht ergibt sich ein neues Erleben von Marys Fehlgeburt oder Mary gelangt zu einem neuen Verständnis, und bekannte Figur/Grund-Formationen nehmen in dem fortlaufenden Prozess neue und überraschende Formen an. Die Architektur der Unterstützung für diesen Prozess ist die situative Ethik der Lebenswelt.

Die situative Ethik begründet und erhält die Voraussetzungen für die Psychotherapie und bietet die Orientierung für die grundlegende Ethik der Psychotherapie, die eine Ethik des Inhalts ist. Die grundlegende Ethik ist ein ethischer Zustand, der Psychotherapie erst möglich macht. So umfasst die grundlegende Ethik z. B. das klinische Know-how der TherapeutIn, Erfahrung, Wissen und auch die entsprechenden beruflichen ethischen Kodizes. Sie umfasst Sorge um das Wohlergehen der PatientInnen, potenzielles Leid durch oder für andere Personen, die Eignung der PatientIn für die Therapie und die Eignung der TherapeutIn für diese bestimmte PatientIn. Als wesentliche Bestandteile der beruflichen Kompetenz einer PsychotherapeutIn sind diese Belange grundlegend und der Beziehung selbst intrinsisch: notwendige Voraussetzungen für die Therapie und Richtlinien für die laufende Arbeit. Sie sind »innerhalb« der Therapie selbst und werden nicht durch die extrinsischen, »äußerlichen«, irrelevanten Interessen der PsychotherapeutIn hereingebracht. Dies mag simpler klingen, als es ist. Doch für GestalttherapeutInnen kann es aufgrund unserer Geschichte besonders schwierig sein.

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