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2.2 Praxisbezug: Situative Ethik und ein ethischer Kompass

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Ein Kollege bat mich, eine Sitzung mit einer Frau abzuhalten und ihr nach Möglichkeit zu helfen, ihr Vertrauen in TherapeutInnen wiederzuerlangen. Nach der Sitzung mit mir würde sie auch andere TherapeutInnen aufsuchen. So wollte sie es. Sie hatte das Gefühl, dass es nicht sicher war, mehr als einmal zu jemandem zu gehen. Sie bat um männliche Therapeuten.

Sie hält den Blick gesenkt. Wenn sie spricht, ist es fast ein Flüstern.

»Ich habe ihn geliebt. Er war ein wundervoller Therapeut. Er war mein Therapeut, mein Lehrer und Supervisor. Er sagte, es sei okay. Es fühlte sich für uns beide richtig an. Wir haben darauf vertraut, was uns unsere Körper sagten. Sex war Teil der Therapie. Wir haben uns geliebt. In der Praxis. Ich musste mich in einer liebevollen erotischen Beziehung sicher fühlen. Ich erlebte Durchbrüche in der Therapie. Es war das erste Mal, dass ich Orgasmen hatte.

Dann habe ich herausgefunden, dass er mit allen von ihnen Sex hatte.«

Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

Es beunruhigt mich, das zu hören, und ich verspüre den Impuls, Therapeuten im Allgemeinen ihr gegenüber zu verteidigen. (Sie muss ihn verführt haben, denke ich, sieh doch nur, wie sie aussieht …) Ich reiße mich zusammen und bemerke, dass ich mich von ihr weg bewege, ich entspanne meine Muskeln, und dann fühle ich mich traurig, berührt von ihrem Leid. Und sage:

»Alice, ich fühle mich traurig, wenn ich sehe, wie sich Ihre Augen mit Tränen füllen.«

Sie blickt langsam auf. »Warum? …« Und dann … plötzlich…: »Ich habe Angst, dass Sie mich anfassen wollen.«

»Nein«, sage ich. Ich merke, dass ich mich ihr unversehens zugeneigt hatte. Ich hole Luft, spüre, wie stabil sich mein Stuhl unter mir anfühlt, stabiler, als ich gedacht hätte. Ich spüre, wie ich mich zurechtsetze.

»Nein«, sage ich, ohne nachzudenken, und sage dann sanft: »Nein, das werde ich nicht.«

»Ich glaube Ihnen.« Unsere Blicke treffen sich.

»Ich will mehr darüber hören, wie es für Sie mit ihm war.«

Ihre Schultern zittern, als sie schluchzt. Sie blickt auf und spricht …

Der Rhythmus, in dem Alice und ich uns in der Sitzung vor und zurück bewegt haben – mit unseren Körpern, unseren Stimmen – entsteht, weil wir einander durch die Linse der situativen Ethik gesehen haben. Unsere »ethischen Augen« waren offen für ein Gefühl, dass »etwas falsch war« – das Gefühl eines gestörten ethischen Grundes, das für mich tiefergehender war als die einfache Frage eines moralischen »richtig« oder »falsch«, oder als die Grenzüberschreitung als Therapeut. Es war ein »Falsch«, das ich in ihren Augen sah, in ihrem Verhalten spürte und das ich selbst erlebte. Ich erlebte etwas, das mehr war als Empathie, mehr als mein starkes Gefühl für die Andere. Komplexer als Mitgefühl. Und genau das ist der Punkt.

Alice’ Geschichte hat mich aufgewühlt, nicht nur wegen meiner Empathie ihr gegenüber. Ich war aufgewühlt, weil ich mich auch mit dem Impuls ihres Therapeuten identifizieren konnte, und ich war berührt von der Vorstellung, was solch ein Impuls für die ethische Leitlinien und den ethischen Kodex bedeuten würde, die grundlegend für die Psychotherapie sind. Ich spürte die Spannungen in einem »ethischen Feld«.

Mein Mitgefühl für diese Patientin und ihren Therapeuten war auch ein Konflikt, für den ich offen war, weil ich »sehen« konnte, dass ethische Entscheidungen anstanden. Für einen Moment war ich in dem »Raum«, in dem ich ethische Empfindlichkeiten, Schwachstellen, Möglichkeiten und die Notwendigkeit »sehen« konnte, Entscheidungen zu treffen. Alice und ihr Therapeut hatten Alternativen – und ich hatte sie auch, als ich ihr zuhörte. Ich verweise noch einmal auf das Thema dieses Kapitels: Die situative Ethik ist die Struktur der Lebenswelt, die die Optik (in Lévinas’ Sinne) darstellt. Und sie ist die Struktur unserer Fähigkeit, uns überhaupt mit der Ethik zu befassen. Sie öffnet uns gegenüber gegenseitigen Schwachstellen bei ethischen Entscheidungen und gegenüber den Konsequenzen unserer Entscheidungen. Sie öffnet uns für das Mitgefühl.

Wenn die situative Ethik auch unser »Sehen« eines ethischen Dilemmas ist, so bietet sie doch keine Grundlage für eine »richtige« Wahl. Es handelt sich nicht um eine extrinsische Ethik des Inhalts, in deren Rahmen wir eine Wahl treffen können. Alle PsychotherapeutInnen sehen sich regelmäßig mit ethischen Dilemmata konfrontiert und müssen ethische Entscheidungen treffen, die die Therapie beeinflussen. Kriminelles Verhalten einer PatientIn oder möglicher häuslicher Missbrauch machen es beispielsweise nötig, dass wir unser Vorgehen überdenken. Was tun wir, wenn wir wissen, dass eine KollegIn die professionelle Ethik verletzt hat oder wenn wir selbst in Versuchung sind, ethische Leitlinien und ethische Kodizes zu verletzen? Der Versicherung eine weitere Sitzung auf die Rechnung setzen? Oder eine andere Diagnose erfinden, um mehr Sitzungen bewilligt zu bekommen? Natürlich haben wir ethische Kodizes, aber sind es alles autoritäre Regeln, die wir schlucken müssen? Wir haben ethische Leitlinien, doch können wir sie selbst in die Hand nehmen und sie anwenden, wie es uns passt? Gibt es einen Unterschied zwischen autoritären Regeln und nur Regeln?

An diesem Punkt können Emmanuel Lévinas’ Gedanken zu Ethik und Gerechtigkeit hilfreich sein. Seine Ethik bewegt sich innerhalb der Sphäre des Intersubjektiven und befasst sich nicht mit Gegenseitigkeit oder Gleichheit (Lévinas 1969). Lévinas bezieht sich auf Gerechtigkeit, sittliches Empfinden und Gleichheit als »politische« Fragen innerhalb einer Sphäre eines/einer Dritten, die »breitere Perspektiven eröffnet und ein Interesse für soziale Gerechtigkeit weckt« (Davis 1996, 82, Übers. A. J.) diesem/dieser »Dritten«, so schreibt Bauman in seinen Ausführungen zu Lévinas, »kann in dem Bereich der Gesellschaftsordnung […] begegnet werden, der von Gerechtigkeit beherrscht wird… Die Beziehung zwischen mir und dem/der Anderen muss … Raum lassen für den/die Dritte, eine(n) souveränen Richter(in), die zwischen zwei Gleichwertigen entscheidet« (Bauman 1993). Ohne diese(n) Dritten (n), der/die Recht spricht, gibt es keine Ethik des/der Gleichen und des/der Anderen, obwohl in Lévinas’ Philosophie der/die Dritte »Distanz zwischen mir und dem/der Anderen schafft« (Davis 1996, 82, Übers. A. J.) Daraus folgt, dass sich Lévinas’ Ethik in einer Welt ohne den/die Dritte(n) genauso wenig aufrechterhalten lässt, wie Psychotherapie nicht verantwortlich praktiziert werden kann, wenn die PsychotherapeutIn dem/der Dritten und daher ihren Praxisnormen, ethischen Kodizes, beruflichen Erfahrung und klinischen Weisheit gegenüber blind ist.

Die situative Ethik als unsere ethische Vision ermutigt uns, uns auf der Suche nach einer Ethik des Inhalts an diese(n) Dritte(n) zu wenden. Diese Ethik des Inhalts umfasst berufliche Ethikkodizes, berufliches Fachwissen und klinisches Urteilsvermögen als grundlegende Voraussetzung für die Therapie selbst. Sie umfasst Kodizes, berufliches Fachwissen, das Lernen, Urteilsvermögen usw. in dem Maße, wie die TherapeutIn sie integriert hat und sie in die Arbeit an die Kontaktgrenze einbringt.

Wenn eine ethische Entscheidung einer TherapeutIn nicht durch die Optik der situativen Ethik »gesehen« wird, wird die TherapeutIn nicht wissen, dass eine ethische Entscheidung zu treffen ist, sondern wird nur formelhaft vorgegebenen Verhaltensregeln oder -normen folgen. Durch die situative Ethik sehen wir, dass es um eine ethische Angelegenheit geht – und dass es daher einer Ethik des Inhalts, eines ethischen Kodex als Drittem, bedarf – sei es tatsächlich ein Kodex, eine Gemeinschaft von KollegInnen, Supervision oder jede andere Grundlage für eine Ethik des Inhalts, die eine intrinsische und grundlegende Unterstützung für die Therapie darstellen kann.

Jetzt können wir offen sein für berufliche Verhaltenskodizes als dem relevanten extrinsischen Dritten. Sie sind innerhalb der grundlegenden Ethik der Psychotherapie kontextualisiert und werden nicht als irrelevante extrinsische Ethik eingesetzt, die in die klinische Praxis eindringt. In dieser Rolle fördert der/die Dritte Fortschritte in der Therapie, weil er/sie als Unterstützung für TherapeutIn und PatientIn fungiert. Diese(r) Dritte ist nicht einfach nur ein abstrakter oder auch konkret geschriebener Kodex, sondern kann eine Gemeinschaft von KollegInnen, Berufsverbänden, Instituten und SupervisorInnen sein.

TherapeutInnen, die isoliert arbeiten und von solch einem/einer Dritten abgeschnitten sind, können sich angesichts eines ethischen Dilemmas in einer ethischen Verwirrung verlieren. Eine ordentliche berufliche Ausbildung stellt zwar keine Garantie dar, bietet jedoch Orientierung, weil es innerhalb des integrierten Hintergrunds der Ausbildung eine(n) ethischen Dritte(n) gibt. Und da niemand von uns isoliert ausgebildet worden ist, haben wir alle unsere sozialen Ausbildungserfahrungen als soziale Unterstützung im Hintergrund integriert. Unsere berufliche Gemeinschaft ist in der Struktur der Lebenswelt präsent, in der die situative Ethik eine bedeutende Struktur darstellt. Aber reichen diese integrierten Erfahrungen aus, um einen sicheren Weg aus der ethischen Verwirrung zu weisen? Ebenso könnte man die Frage stellten, ob eine TherapeutIn ohne professionelle Supervision praktizieren kann. Ein Ethikkodex, der das nicht voraussetzt, ist schwer vorbestellbar.

Die situative Ethik verleiht uns TherapeutInnen unsere Fähigkeit für einen ethischen Blick. Sie führt uns zu ethischen Entscheidungen. Wir können sehen und mit unserer besten Urteilsfähigkeit ethische Entscheidungen treffen, die sich auf unsere Erfahrung, berufliches Fachwissen, unsere Ausbildung und unser Wissen um die berufliche Ethik und Kodizes stützt – innerhalb unserer Gemeinschaft von KollegInnen. All diese Faktoren sind Komponenten der grundlegenden Ethik, auf der die Psychotherapie begründet ist. Die situative Ethik ist Teil der Struktur des größten sozialen Felds, der Lebenswelt, die selbst eine isoliert arbeitende TherapeutIn »bewohnt«.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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