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4. Wahrnehmungssehnsucht
ОглавлениеKommen wir kurz zu einem vierten Aspekt der heutigen Kontexte. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Pluralisierung der gegenwärtigen Gesellschaft und Lebenswelten treten immer häufiger Individualisierungsphänomene auf. Der heutige Lebensplan sieht vor: maximale Selbstverwirklichung und das ganz große Glück. Die Menschen müssen immer mehr ihr Leben in eigener Regie entwerfen. Selbstthematisierungen und Selbstinszenierungen wie Castingshows in der Modewelt, aber auch die vielen Biographien, die verstärkt auf den Büchermarkt kommen, sind Zeichen dieser Individualisierung. Das Selfie, das mit einer Digitalkamera oder einem Smartphone aufgenommene Selbstportrait, ist zum Trend der letzten Jahre geworden. Dahinter steckt die Ursehnsucht des Menschen nach Wahrnehmung und Anerkennung. Man will wahrgenommen werden. Das ist wie beim Theaterkünstler auf der Bühne, der das Zuschauen braucht. Der österreichische Schriftsteller Peter Handke sagte in seinem 2006 veröffentlichten Gespräch mit Peter Hamm: „Das Zuschauen ist etwas, das wir alle brauchen, dass uns jemand zuschaut auf eine umfassende Weise.“12 Durch Wahrnehmung und Anerkennung bekommt unser Sein einen Sinn und wir unsere Identität. Identität ist zunehmend eine Aufgabe geworden. Identität ist die Arbeit an der eigenen Geschichte. Wer heute gefragt wird, wer er ist, der antwortet nicht mit seiner Berufsbezeichnung z. B. ich bin Lehrer, ich bin Apotheker, sondern man erzählt seine Geschichte, wie man zu dem geworden ist, was man gerade macht. Erzähle mir, wer du bist. Es sind die Selbsterzählungen, die Selbstnarrationen, die zur Identität konstruiert werden. Man spricht in der heutigen Identitätsforschung von einer sogenannten narrativen Identität13. Diese Individualisierungsprozesse und die Sehnsucht, wahrgenommen zu werden, führen die Menschen aus der Gesellschaft (sei sie als anonym, kalt, plural etc. gekennzeichnet) heraus in die Gemeinschaft hinein. Auf den Unterschied von Gesellschaft und Gemeinschaft hat schon Anfang des letzten Jahrhunderts der Soziologe Ferdinand Tönnies14 hingewiesen. Durch Privatisierung und Rückzugsbewegung aus dem öffentlichen Leben mit gleichzeitiger Zuweisung für öffentliche und staatliche Leistungen und Aufgaben sucht der heutige Mensch eher Gemeinschaften auf.
Was haben diese aktuellen soziologischen Zeitdiagnosen für eine Bedeutung, bzw. was für eine Herausforderung ergibt sich aus diesen Kennzeichen und schließlich: was hat dies für Folgen für Kirche, für kirchliche Einrichtungen und den kirchlichen Dienst heute?