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2 Ängste der deutschen Gesellschaft
ОглавлениеHeinz Bude
Angst ist in modernen Gesellschaften ein Thema, über das man sich über alle sozialen Grenzen hinweg relativ schnell und problemlos verständigen kann. Über Angst kann die gläubige Muslima mit der kämpferischen Säkularistin, der verzweifelte Menschenrechtler mit dem liberalen Zyniker reden. Sie ist das Prinzip, das absolut gilt, wenn alle Prinzipien relativ geworden sind (Luhmann 2008, 158).
Angststörungen, so wie sie in spezifischen und diffusen Varianten in psychiatrischen Erhebungen festgestellt werden, zählen zu den häufigsten psychischen Störungen mit einem nicht selten chronischen Verlauf (Bandelow et al. 2014). Sie haben entgegen der allgemeinen Ansicht in den letzten Jahrzehnten aber nicht zugenommen. Wobei dieser Befund nicht so klar ist, weil sie in der Regel in Verbindung mit Depressionen, Suchterkrankungen und psychiatrisch nicht auffälligen Verstimmungen auftreten. Die einschlägige Forschung nimmt an, dass sich solche Angstzustände aus dem Zusammenspiel von psychosozialen, genetischen und neurobiologischen Faktoren klären lassen.
Wenn im Folgenden über Ängste in der deutschen Gesellschaft die Rede ist, dann sind nicht Angststörungen gemeint, die einen Krankheitszustand definieren, sondern Ängste, über die man sich im Blick über die Veränderungen der deutschen Gesellschaft verständigen kann. Also nicht Panikattacken, die als körperliche und psychische Alarmreaktionen vor Prüfungen oder beim Betreten eines voll besetzten Aufzugs auftreten, sondern emotionale Bewertungen von Nachrichten über den Umfang unkontrollierter Einwanderung, über zunehmende Gewaltdelikte in Diskotheken mit jugendlichem Publikum, über die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich oder über die wachsende Bedrohung durch cyberkriminelle Banden. In diesem Sinn kann man sagen, dass sich die Gesellschaftsmitglieder in Begriffen der Angst über den Zustand ihres Zusammenlebens verständigen: wer weiterkommt und wer zurückbleibt; wo es zu sozialen Verwerfungen kommt und wo sich soziale Löcher auftun; was unweigerlich vergeht und was von grundlegendem Bestand ist. In Begriffen der Angst fühlt sich die Gesellschaft selbst den Puls (Bude 2014, 12).